Interview mit der Jüdin Adriana Stern
Material 1.4b (2)
Erzähl mal…
1. Was bedeutet für dich Glaube?
Glaube bedeutet für mich, Sicherheit, Schutz, Geborgenheit, Ruhe im Sturm der Zeiten... Gewissheit, Vertrauen, mir kann nichts Schlimmes geschehen... das macht meinen Glauben aus!
2. Was würde dir ohne den Glauben fehlen?
Mir würde meine Struktur im Alltag fehlen... mir würden die jüdischen Feste fehlen, der Schabbat, meine Freundinnen und Freunde, mein Rückhalt, meine Sicherheit, mein Schutz, mein Zufluchtsort, meine Gegenwart, meine Zukunft, meine Vergangenheit! Alles, was mir in meinem Leben Sinn gibt!
3. Wie hast du deinen Glauben „gelernt“?
Ich habe meinen Glauben früh gelernt durch Rituale... das Anzünden zweier Kerzen am Freitagabend, kein Schweinefleisch zu essen, die Challah zu backen, das besondere geflochtene Brot, das am Freitagabend gegessen wird.
Ich habe das Judentum kennengelernt als eine Religion, die mich schützt, die für mich da ist, in der ich geborgen bin. Durch die Abende bei meiner Tante, die Jüdin ist und mit mir den Schabbat gefeiert hat, habe ich gelernt, dass der Ewige für mich da ist, und dass ich niemals Angst haben muss, dass es keine Hölle gibt, keine Strafe. Allerdings wusste ich damals nicht, dass meine Tante Jüdin ist, dass meine Oma Jüdin ist, dass meine Mutter Jüdin ist. Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus 1945 hatte meine Familie unglaubliche Angst davor, dass uns Kindern etwas Schlimmes geschehen könnte, wenn wir wissen, dass wir jüdisch sind, deshalb wurde in unserer Familie darüber geschwiegen. Ich habe erst herausgefunden, dass ich Jüdin bin, als ich 12 Jahre alt war. Und eine Synagoge in meiner Umgebung gab es nicht. Sie waren alle von den Nationalsozialisten zerstört worden. Eine Synagoge von innen gesehen habe ich das erste Mal mit etwa 20 Jahren, in Berlin, wo es inzwischen wieder eine jüdische Gemeinde gab... und ich wusste sofort: Das ist mein Zuhause!! Und so ist es bis heute geblieben!
4. Welche(s) religiöse Fest / Ritual / Tradition ist dir am wichtigsten geworden? Warum?
Der Schabbat ist für mich das wichtigste Fest. Dieses Fest kenne ich aus meiner Kindheit und es bedeutete schon damals: Frieden, Schutz, Geborgenheit, und das hat sich bis heute nicht verändert. Der Schabbat wiederholt sich in jeder Woche wieder neu und begleitet mich seitdem. Es vergeht keine Woche, in der ich den Schabbat nicht feiere!
5. Gibt es einen Satz aus den Heiligen Schriften / einen Liedvers, der dich besonders begleitet hat? Erzähl mal.
Wenn ich mich für einen Satz, einen Vers, ein Lied, entscheiden muss / soll, dann ist es sicherlich dieser Satz und dieses Gebet, und beides lernen schon unsere Kinder: Es ist dieser Satz:
schəma jisrael adonai elohenu adonai echad
„Höre Israel! Der Ewige, unser Gott, der Ewige ist eins.“
Und es ist dieses Gebet: Mein Gott! Die Seele, die Du in mich gegeben, rein ist sie. Du hast sie geschaffen, Du sie gebildet, Du sie mir eingehaucht, Du erhältst sie in mir und Du wirst sie einst von mir nehmen und in der zu erwartenden Zukunft wieder in mich zurückgeben. Jederzeit, wann die Seele in mir ist, bekenne ich vor Dir, Gott mein Gott und Gott meiner Väter, Meister aller Werke, Herr aller Seelen, gesegnet seist Du Gott, der gestorbenen Körpern Seelen zurückgibt.
6. Gibt es ein besonderes Erinnerungsstück, einen Gegenstand oder ein Schmuckstück oder Ähnliches, das deinen Glauben zeigt? (Kannst du davon für mich ein Bild machen und etwas dazu schreiben?)
Der Davidstern: Wir Juden haben uns dieses Symbol zurückerobert... das uns gestohlen wurde von den Nazis, um uns erkennen zu können - denn wir sehen so unterschiedlich aus wie alle Menschen in dieser Welt und auch damals in Deutschland, und deshalb waren wir ohne Kennzeichnung schlicht und ergreifend nicht vom Rest der Gesellschaft zu unterscheiden... - Jetzt ist der Davidstern unser Symbol, es ziert die israelische Flagge... ist das nicht wunderbar?
7. Wann ist dir Gott besonders nah?
Eigentlich immer dann, wenn ich in der Synagoge bin, wenn ich meine Freund*innen treffe, wenn ich bete, wenn ich schreibe, wenn ich über das Judentum spreche, eigentlich ist mir der Ewige wirklich oft, sehr oft sehr nah... wenn ich einen Regenbogen sehe, wenn ich die Natur sehe, eigentlich wirklich sehr, sehr oft, fällt mir gerade auf...
8. Ist dir das Gebet wichtig? Hast du da einen festen Ablauf oder ist das ganz frei?
Ja, es gibt tatsächlich einen festen Ablauf. Gültig für alle Juden und Jüdinnen! Es gibt zwei Hauptgebete im Judentum: Das Schma Israel und die Amida. Wir beten diese zwei Gebete regelmäßig. Die Amida dreimal täglich... am Morgen, am Mittag und am Abend, das Schma Israel am Morgen und am Abend!
9. Welche Rolle spielt der Glaube in deinem Alltag? Wie zeigt er sich?
Ich würde sagen, mein Glaube ist für mich existenziell und permanent sichtbar, spürbar, erfahrbar. Er zeigt sich eigentlich ständig... zum Beispiel, wenn ich im Supermarkt einkaufe (ich achte auf eine koschere Ernährung, soweit mir das in Deutschland möglich ist)... das ganze Jahr ist durch mein Judentum geprägt... in fast jedem Monat findet mindestens ein jüdisches Fest statt... und die jüdischen Feste sind mir einfach wichtig! Als Kinder- und Jugendbuchautorin spreche ich fast täglich mit meinen jüdischen Hauptfiguren – außer am Schabbat -... also bin ich quasi ständig im Kontakt mit meinem Judentum, wenn ich nicht mit meinen Romanfiguren diskutiere, treffe ich meine jüdischen Freundinnen und Freunde in der Synagoge... und das gefällt mir gut!
10. Wann hattest du an deinem Glauben besonders zu knabbern gehabt?
Das ist für mich eine sehr schwierige Frage... Und ja, es gibt eine Antwort darauf... Als Kind musste ich sehr viel Gewalt durch meine Eltern erfahren. Damals habe ich jeden Abend zu Gott gebetet, dass er mich bitte, bitte zu sich rufen soll, weil ich die Gewalt nicht mehr aushalten konnte. Und ich so gerne gestorben wäre, um beim Ewigen zu sein... für immer... Aber an jedem Morgen bin ich wieder aufgewacht... Und deshalb glaubte ich, dass ich selbst schuld war an dieser Gewalt, denn wenn ich diese Gewalt nicht gewollt hätte, wäre ich doch ganz sicher gestorben und hätte mich der Ewige ganz sicher zu sich gerufen. Heute sehe ich, dass ich als Kind einfach versuchte, eine Erklärung zu finden, eine Erklärung, um überleben zu können! Eine Gewalt, gegen die ein Kind schlicht einfach gar nichts tun kann... auch wenn es noch so sehr um Befreiung betet!
11. Wann fühltest du dich von deinem Glauben besonders getragen?
Eigentlich fühle ich mich seit jeher von meinem Glauben getragen... Aber als der Bet Din (der Jüdische Gerichtshof) entschied, dass ich nach der Halacha (dem Jüdischen Gesetz) Jüdin bin, war das der glücklichste Tag in meinem Leben! Der Bet Din (der Jüdische Gerichtshof) hat geklärt, dass ich Jüdin bin, weil meine Großmutter holländische Jüdin war, auch wenn sie 1927 zum Katholizismus konvertierte, und damit auch meine Mutter Jüdin ist und deshalb natürlich auch ich Jüdin bin.
12. Gab es ein besonderes Erlebnis oder einen bestimmten Moment, der für dich und deinen Glauben besonders wichtig war?
Ja, es gibt eine besondere Situation in meinem Leben, die ich niemals, niemals vergessen werde. Ich war auf dem Weg von Hamburg nach Berlin, um meinen Sohn abzuholen. Es war Nacht und es regnete in Strömen... Ich konnte absolut nichts sehen... Es war, als ob der Ewige das Wasser aus riesigen Eimern auf die Erde schüttete! Rechts fuhren unendlich viele LKWs, und das Wasser spritzte nur so gegen die Scheiben meines kleinen R4... es war unmöglich, etwas zu erkennen... Ich fuhr auf der linken Spur... und die Gefahr, nach rechts zu driften und viel zu nah in die Nähe der LKWs und damit unter die Räder zu geraten, war viel, viel zu groß... Ich betete zum Ewigen, mich zu retten, damit ich diese Fahrt überleben könnte, um weiter für meinen Sohn da sein zu können... und kaum beendete ich mein Stoßgebet, hörte der Regen schlagartig auf... und ich konnte gefahrlos bis nach Berlin weiterfahren... Das habe ich niemals vergessen, und darin hat sich für mich mein Glaube ganz besonders gezeigt!
13. Warum bist eigentlich Jüdin (geblieben)? Hast du auch mal über eine andere Religion nachgedacht?
Nein, niemals! Das Judentum hat für mich immer, seit meiner Kindheit, Schutz, Geborgenheit und Heimat bedeutet!
14. Waren deine Eltern „religiöser“ als du?
Ich glaube nicht, dass meine Eltern religiöser als ich waren. Mein Vater war interessiert an Philosophie... in gewisser Weise erkenne ich darin den Versuch einer Antwort auf zu viele Fragen, die meinen Vater quälten... Ich liebte meinen Vater trotz der Gewalt, die er mir antat... ich glaube inzwischen, dass ich als Kind fühlen konnte, dass mein Vater verzweifelt war! Meine Mutter hat sich leider vollkommen von Religion abgewandt und sie war schockiert, als ich mich entschied, zum Judentum zurückzukehren!
15. Was hast / würdest du im Hinblick auf Glauben/Religion in der Erziehung deiner Kinder anders machen als deine Eltern? Was hat sich deiner Meinung nach verändert?
Ich lehne Gewalt ab... sie ist sinnlos und zerstörerisch und macht absolut gar nichts besser. Meine Eltern haben beide unglaublich viel Gewalt überleben müssen. Mein Vater, weil sein Vater überzeugter Nazi und extrem gewalttätig war! Meine Mutter, weil sie sich mit ihrer Mutter für fast zwei Jahre vor der Gewalt der Nazis – der drohenden Ermordung, die in jedem Augenblick drohte -, in einem Kellerloch verstecken musste! Sie war klein, erst 10 Jahre alt, als sie täglich damit rechnen musste, in einem KZ ermordet zu werden. Sie hatten damals wohl keine Möglichkeit, ihre Traumata in einer Therapie aufzuarbeiten... das hätte Beiden sicher sehr geholfen, aber Therapie zu machen war damals absolut verpönt - leider!
16. Für Jugendliche ist es oft eine große Herausforderung, Glaube und Naturwissenschaft zusammenzubringen. Was denkst du darüber?
Für mich ist das absolut kein Widerspruch - im Gegenteil! Für mich gehört mein Glaube und die Naturwissenschaft untrennbar zusammen. Ein Beispiel dafür ist das Tu biSchwat-Fest... das Neujahrsfest der Bäume. Es handelt sich um keinen traditionellen Feiertag, sondern um einen normalen Arbeitstag, auch wenn in der Nacht zu ihm viel gesungen und getanzt wird. In Israel hat sich Tu B‘ Av als „Tag der Liebe“ etabliert. Also ist auch der 15. Schwat, an dem das Neujahresfest der Bäume gefeiert wird, ein Tag der Liebe. Er markiert, wann die Bäume erneut ausschlagen. Auch das, so können wir sagen, ist auf jeden Fall ein Freudentag. Für mich ist dieses Fest besonders auch deshalb so wichtig, weil es uns daran erinnert, dass wir ohne die Natur nicht lebensfähig sind. Wir müssen ganz, ganz dringend über unser Verhältnis zur Natur nachdenken und unseren Lebenswandel radikal verändern, wenn wir erreichen wollen, dass wir, unsere Kinder und Enkelkinder weiterhin auf dieser vom Ewigen für uns geschaffenen, wunderbaren Erde leben dürfen und können. Wir brauchen also wirklich superdringend ein neues Verhältnis zur Natur. Ein wichtiger Teil von Tu biSchwat ist das Pflanzen von Bäumen, Gewürzen, Blumen, Kräutern, was wir mit unseren Kindern in den Gemeinden zusammen machen. Es geht vor allem darum, das Bewusstsein der Kinder für unsere Natur zu schärfen, und das geht natürlich am besten mit unseren Kindern gemeinsam. Wir decken den Tisch mit den schönsten Früchten, insbesondere aber mit den sieben Arten, mit denen das Land Israel gesegnet wurde: »Denn der Ewige, dein G-tt, bringt dich in ... ein Land mit Weizen und Gerste, mit Wein, Feigen und Granatäpfeln, in ein Land mit Oliven und Honig.« (Deut. 8:8 5tes Buch Mosche). Über Früchte, die auf dem Baum wachsen, sagt man die Bracha »Baruch Ata Adonaj, Elohenu Melech HaOlam, Bore Pri Haez«. Über Produkte, die aus der Erde wachsen, das heißt alle Arten von Gemüse, Kräutern und Hülsenfrüchten, sagt man die Bracha »Baruch Ata Adonaj, Elohenu Melech HaOlam, Bore Pri HaAdama.«
17. Welche Bedeutung haben die Heiligen Schriften für dich?
Sie sind für mich wahr und wichtig! Und es ist unsere Aufgabe, sie zu verstehen und uns danach zu richten!
18. Welche Gestalt aus deiner religiösen Tradition ist dir besonders lieb, besonders wichtig?
Mosche und Mirjam! Ruth, Esther, Lea, Rivka... unsere Urmütter und auch Urväter... sie waren mutig und haben erreicht, dass wir Juden und Jüdinnen heute so leben, wie wir leben! Und genau das ist gut so!
19. Welche Bedeutung hat aus deiner Sicht die Person Jesus?
Keine Bedeutung... Für uns Juden ist die Figur Jesus überhaupt nicht wichtig... er war ein interessanter Mensch... er hat sich gegen Unrecht aufgelehnt... und das ist natürlich super!
20. Was ist dir wichtig, von deinem Glauben / von deiner Religion weiterzugeben (eine bestimmte Grundüberzeugung, eine besondere Tradition, ein bestimmtes Ritual, ein bestimmter Wert)? Was soll bleiben?
Die Notwendigkeit, das Leben in die eigene Hand zu nehmen, Verantwortung zu übernehmen für das eigene Handeln, das eigene Leben. Das Bewusstsein, dass nur Du selbst entscheidest, denn Du hast einen freien Willen! Schaffe einen Ruhetag in Deinem Leben, den Du nur Dir, Deinen Freunden und Freundinnen, Deiner Familie widmest... all den Menschen, die Dir wichtig sind. Leg Deine Arbeit für einen Tag in der Woche zur Seite. Ruh Dich aus, schöpfe Kraft aus dieser Ruhe und den Menschen, die Du liebst!
21. Welchen Rat gibst du mir für mein Leben?
Die Erlösung heißt Erinnerung... Nur wer sich erinnert, kann wirklich, wirklich frei sein und sein Leben in die Hand nehmen!
Ganz herzlichen Dank für deine Zeit, diese Fragen zu beantworten, und für deine Bereitschaft, von deinem Glauben und deiner Religion zu erzählen!
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