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AB „Auf­bruchs­be­we­gun­gen im Osten – das Bei­spiel der Tsche­cho­slo­wa­kei“

„Pra­ger Früh­ling“. Nach Sta­lins Tod und der ein­set­zen­den „Ent­sta­li­ni­sie­rung“ unter sei­nem Nach­fol­ger Ni­ki­ta Chruscht­schows ent­wi­ckel­ten sich in der Tsche­cho­slo­wa­kei unter dem seit 1957 am­tie­ren­den Par­tei- und Staats­chef Antonín No­vot­ny vor­sich­ti­ge Wirt­schafts­re­for­men und Li­be­ra­li­sie­rungs­ten­den­zen. Als sich 1967 zag­haf­te Pro­tes­te durch Schrift­stel­ler, Künst­ler und In­tel­lek­tu­el­le um Václav Havel und Pavel Ko­hout for­mier­ten, muss­te No­vot­ny auf Druck der So­wjet­füh­rung An­fang Ja­nu­ar 1968 zu­rück­tre­ten - sein Nach­fol­ger wurde Alex­an­der Dubček. Dubček hatte die Vi­si­on eines "So­zia­lis­mus mit mensch­li­chem Ant­litz" und for­der­te Re­for­men des so­zia­lis­ti­schen Mo­dells, wenn­gleich der So­zia­lis­mus grund­sätz­lich nicht zur Dis­kus­si­on ge­stellt wer­den soll­te.
Am 5. April 1968 er­ließ die kom­mu­nis­ti­sche Par­tei ein "Ak­ti­ons­pro­gramm", das bin­nen zwei Jah­ren von der Re­gie­rung um­ge­setzt wer­den soll­te und indem sie weit­ge­hend auf ihr Macht­mo­no­pol ver­zich­te­te. Eine teil­wei­se Pri­va­ti­sie­rung der Wirt­schaft wurde be­schlos­sen und Be­triebs­rä­ten Ent­schei­dungs­kom­pe­ten­zen zu­ge­stan­den. Auch li­be­ra­le Grund­rech­te wie Rede-, Reise- und Ver­samm­lungs­frei­heit sowie die Frei­heit von Wis­sen­schaft, Kunst, Kul­tur, Me­di­en bis zur Grün­dung von Ver­ei­ni­gun­gen wur­den ge­währt. Die So­wjet­uni­on und vor allem die DDR, aber auch Polen, Un­garn und Bul­ga­ri­en re­agier­ten mit Mi­li­tär­ma­nö­vern und der sprach­li­chen Er­klä­rung: "Wir wer­den die Tsche­cho­slo­wa­kei nicht auf­ge­ben!" An­de­re kom­mu­nis­ti­sche Staa­ten wie Ju­go­sla­wi­en und Ru­mä­ni­en be­grüß­ten die Re­for­men, eben­so die kom­mu­nis­ti­schen Par­tei­en West­eu­ro­pa­sund nicht zu­letzt auch China, dass sich da­durch eben­falls mehr Un­ab­hän­gig­keit ge­gen­über der So­wjet­uni­on ver­sprach. Diese zu­nächst von der Par­tei­spit­ze ver­ord­ne­ten Re­form fan­den rasch in der Be­völ­ke­rung Zu­stim­mung, be­son­ders bei Ju­gend­li­chen und In­tel­lek­tu­el­len.
Am 27. Juni 1968 ver­öf­fent­lich­ten 68 In­tel­lek­tu­el­len, Schrift­stel­lern und Künst­lern das „Ma­ni­fest der 2000 Worte" (Dva tisíce slov), das eine Ab­rech­nung mit den letz­ten 20 Jah­ren der kom­mu­nis­ti­schen Herr­schaft war. Die wei­te­re De­mo­kra­ti­sie­rung, so das Ma­ni­fest, könne nur au­ßer­halb der KPC ge­si­chert wer­den. Damit wurde der So­zia­lis­mus als Ge­sell­schafts­form ge­ne­rell in Frage ge­stellt. Für die so­wje­ti­sche Re­gie­rung, aber auch für die Füh­rung an­de­rer Ost­block­staa­ten, ins­be­son­de­re der DDR, war das Ma­ni­fest ein Auf­ruf zur Kon­ter­re­vo­lu­ti­on, wie es Wal­ter Ul­bricht ex­pli­zit for­mu­lier­te. Wenn­gleich sich die kom­mu­nis­ti­sche Par­tei der Tsche­cho­slo­wa­kei auch vom Ma­ni­fest dis­tan­zier­te, wi­der­setz­te sich Dubček der For­de­rung nach einem so­for­ti­gen Ein­grei­fen gegen die kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­ren Kräf­te.
Nach­dem Dubček einen als Art Ul­ti­ma­tum ge­dach­ten ge­mein­sa­men Auf­ruf der Ver­tre­ter der So­wjet­uni­on, Bul­ga­ri­ens, Un­garns, Po­lens und der DDR („War­schau­er Brief") zur Kurs­kor­rek­tur igno­rier­te, rück­ten am 21. Au­gust 1968 rück­ten ins­ge­samt 400.000 Sol­da­ten der Trup­pen des „War­schau­er Pak­tes“ - aus­ge­nom­men Ru­mä­ni­ens - in Prag und der Tsche­cho­slo­wa­kei ein und be­en­de­ten trotz zi­vi­ler Ge­gen­wehr von De­mons­tran­ten ge­walt­sam die re­form­kom­mu­nis­ti­sche Be­we­gung des "Pra­ger Früh­lings". Die kom­mu­nis­ti­sche Füh­rung der So­wjet­uni­on mach­te so un­miss­ver­ständ­lich deut­lich, dass sie in ihren ost­eu­ro­päi­schen Sa­tel­li­ten­staa­ten kein Ab­wei­chen von ihrem ideo­lo­gi­schen und dik­ta­to­ri­schen Kurs dul­de­te. Dubček und an­de­re füh­ren­de Par­tei­mit­glie­der wur­den nach Mos­kau ent­führt, wo Dubček ge­zwun­gen wurde, die Auf­he­bung der Re­form­pro­jek­te zu er­las­sen sowie die Sta­tio­nie­rung so­wje­ti­scher Trup­pen in der Tsche­cho­slo­wa­kei Am 12. No­vem­ber 1968 ver­kün­de­te der so­wje­ti­sche Staats­chef Leo­nid Bre­schnew in der sog. „Bre­schnew-Dok­trin“, dass sich die So­wjet­uni­on ge­ne­rell das Recht vor­be­hal­te, Op­po­si­ti­ons­be­we­gun­gen in so­zia­lis­ti­schen Län­dern not­falls mit Ge­walt nie­der­zu­schla­gen.
Char­ta 77. Nach der Nie­der­schla­gung des Pra­ger Früh­lings im Jahr 1968 herrsch­te in der Tsche­cho­slo­wa­kei ein Klima der Angst und Un­ter­drü­ckung. Straf­pro­zes­se gegen Dis­si­den­ten und Be­rufs­ver­bo­te für zahl­lo­se Aka­de­mi­ker zeig­ten, dass die kom­mu­nis­ti­sche Füh­rung mit aller Härte gegen Op­po­si­tio­nel­le vor­zu­ge­hen be­reit war. Umso über­ra­schen­der kam die am 7. Ja­nu­ar 1977 in in­ter­na­tio­na­len Blät­tern wie der Neuen Zür­cher Zei­tung, dem Lon­do­ner Guar­di­an oder der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen ver­öf­fent­lich­te Grün­dungs­er­klä­rung der „Char­ta 77“, einer in ver­schie­de­nen Mi­lieus ver­an­ker­ten Grup­pe von 242 Per­so­nen, die sich aus­drück­lich als Bür­ger­initia­ti­ve und nicht als op­po­si­tio­nel­le po­li­ti­sche Grup­pe ver­stand. Sie be­ton­te, dass die Ver­fas­ser auf den Boden der Ver­fas­sung stän­den, und for­der­ten nur die Ein­hal­tung der in der KSZE-Schluss­ak­te ver­ein­bar­ten Men­schen- und Bür­ger­rech­te, die auch die ČSSR im Au­gust 1975 un­ter­zeich­net hatte. Mit der Ver­öf­fent­li­chung in der Welt­pres­se hat­ten die Bür­ger­recht­ler/innen die all­ge­gen­wär­ti­ge Staats­si­cher­heit bla­miert und sich in­ter­na­tio­na­le Auf­merk­sam­keit ge­si­chert. Den­noch re­agier­te die Staats­füh­rung mit wüs­ten Dif­fa­mie­rungs­kam­pa­gne gegen die Bür­ger­recht­ler. Die Un­ter­zeich­ner der „Char­ta 77“ wur­den schi­ka­niert, ver­haf­tet oder aus­ge­bür­gert. Die Be­we­gung aber ließ sich nicht mehr un­ter­drü­cken, u.a. auch weil die So­wjet­uni­on die mit dem Hel­sin­ki-Ab­kom­men er­reich­ten wirt­schaft­li­chen Be­zie­hun­gen zum Wes­ten nicht ge­fähr­den woll­te. Be­reits im Som­mer 1977 war die Zahl der Un­ter­zeich­ner auf 600 an­ge­wach­sen. Jedes Jahr wur­den drei Un­ter­zeich­ner der Char­ta zu Spre­chern ge­wählt, die die Char­ta nach außen re­prä­sen­tier­ten. Ihre Füh­rer wur­den von Mil­lio­nen Tsche­chen als le­gi­ti­me Re­prä­sen­tan­ten der Na­ti­on an­ge­se­hen. Zwi­schen 1977-1989 ver­öf­fent­lich­te sie 572 Do­ku­men­te und In­for­ma­tio­nen. Diese the­ma­ti­sier­ten die Men­schen­rechts­si­tua­ti­on im Lande, nah­men zu kon­kre­ten Rechts­ver­stö­ßen staat­li­cher Or­ga­ne Stel­lung, in­for­mier­ten über die Lage der Kir­chen und Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten und über all­ge­mei­ne­re The­men wie den Frie­den und den Um­welt­schutz, über phi­lo­so­phi­sche Fra­gen und die Ge­schichts­schrei­bung. Bis 1989 be­kann­ten sich fast 2000 Men­schen öf­fent­lich zur „Char­ta 77“.
„Sam­te­ne Re­vo­lu­ti­on“. An­läss­lich des 20. Jah­res­tags der Nie­der­schla­gung des Pra­ger Früh­lings de­mons­trier­ten am 21. Au­gust 1988 in Prag Tau­sen­de gegen die kom­mu­nis­ti­sche Füh­rung. Es war die erste an­ti­staat­li­che De­mons­tra­ti­on seit 1969, der in den dar­auf­fol­gen­den Mo­na­ten wei­te­re folg­ten. Im Ja­nu­ar 1989 kam es bei einer De­mons­tra­ti­on zum Ge­den­ken an Jan Pa­la­ch, der sich vor zwan­zig Jah­ren auf dem Pra­ger Wen­zels­platz selbst ver­brannt hatte, zu ge­walt­sa­men Zu­sam­men­stö­ßen mit der Po­li­zei, die zahl­rei­che Op­po­si­tio­nel­le ver­haf­te­te, dar­un­ter auch den Schrift­stel­ler Václav Havel. Auf Druck aus dem Aus­land wurde er im Mai 1989 wie­der frei­ge­las­sen. Wäh­rend die De­mo­kra­tie­be­we­gun­gen in Polen, Un­garn und schließ­lich auch in der DDR im Som­mer 1989 immer mehr an­wuch­sen, schien sich die Füh­rung der ČSSR vor­erst an der Macht hal­ten zu kön­nen. Er­neut es­ka­lier­te eine De­mons­tra­ti­on am 17. No­vem­ber in Prag an­läss­lich einer Ge­denk­ver­an­stal­tung für den 1939 er­mor­de­ten tsche­chi­schen Wi­der­stands­kämp­fer Jan Op­le­ta, bei der der Rück­tritt der tsche­cho­slo­wa­ki­schen Re­gie­rung ge­for­dert wurde. Bei den ge­walt­sa­men Über­grif­fen wur­den etwa 600 Men­schen ver­letzt. Der Ge­walt­ex­zess führ­te zu einer So­li­da­ri­sie­rungs­be­we­gung in­ner­halb der Be­völ­ke­rung. Die Grün­dung der De­mo­kra­tie­be­we­gung "Bür­ger­fo­rum" (Občanské fórum) sowie die Grün­dung der Be­we­gung "Öf­fent­lich­keit gegen Ge­walt" (Verej­nosť proti násiliu) im slo­wa­ki­schen Lan­des­teil waren die Folge. Ab dem 20. No­vem­ber grif­fen die Pro­tes­te auf das ganze Land über. Thea­ter und Uni­ver­si­tä­ten wur­den be­streikt, Hun­dert­tau­sen­de gin­gen in Prag auf die Stra­ße. Der Ge­ne­ral­se­kre­tär des Zen­tral­ko­mi­tees der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei der ČSSR, Milouš Jakeš, muss­te zu­rück­tre­ten. Der Ge­ne­ral­streik am 27. No­vem­ber, bei dem für zwei Stun­den bis zu 80% der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger in der ge­sam­ten Tsche­cho­slo­wa­kei die Ar­beit nie­der­leg­ten, läu­te­te end­gül­tig das Ende der kom­mu­nis­ti­schen Herr­schaft ein. Ver­tre­te­rin­nen und Ver­tre­ter des Bür­ger­fo­rums ver­han­del­ten mit dem Mi­nis­ter­prä­si­den­ten der ČSSR La­dis­lav Adamec über Neu­wah­len. Am 28. No­vem­ber gab die Staats­füh­rung be­kannt, die Op­po­si­ti­on künf­tig an der Re­gie­rung zu be­tei­li­gen. Die Grenz­be­fes­ti­gun­gen zu Ös­ter­reich und zur Bun­des­re­pu­blik wur­den im De­zem­ber suk­zes­si­ve ab­ge­baut. Das Par­la­ment der Tsche­cho­slo­wa­kei wähl­te Havel am 29. De­zem­ber 1989 zum Staats­prä­si­den­ten. Die ers­ten frei­en Wah­len für die Na­tio­nal­rä­te Tsche­chi­ens und der Slo­wa­kei fan­den im Juni 1990 statt.

 

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Wei­ter zu An­hang