Zur Hauptnavigation springen [Alt]+[0] Zum Seiteninhalt springen [Alt]+[1]

Anliegen der Gesamttagung

 1 Was hat Geschichte mit mir zu tun? Einführende Überlegungen

1.1. „Non vitale sed scholae discimus“?

„Non vitae sed scholae discimus“ („Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir“) ist ein lateinisches Zitat aus einem Brief von Seneca an seinen „Schüler“, in dem er Kritik an den römischen Philosophenschulen seiner Zeit äußert. Seneca beklagt hier eine Übermäßigkeit (intemperantia) mit der man sich mit Schriften der Gelehrten beschäftige und dabei seinen gesunden Menschenverstand außer Acht lasse. Es dürfe, so Seneca, bei Bildung nicht um lebensferne Inhalte gehen. Diese Kritik wird heute auch noch mit Blick auf institutionalisiertes Lernen geäußert, wie es in einem durch Bildungsplanvorgaben eingeengten System wie Schule oft umgesetzt wird. So stellt sich grundsätzlich die Frage, wie historisches Lernen im institutionellen Kontext „Schule“ also lebensrelevant vermittelt werden kann.

1.2. Kairos oder Chronos?

Wir alle kennen Kronos, den Gott der vergehenden Zeit. Er gab der Chronologie und dem Chronometer, der Uhr, den Namen. Seit dem 14. Jahrhundert wird er als bärtiger Greis mit Sense und Stundenglas bzw. Sanduhr, die unbarmherzig die Sekunden, Minuten, Stunden und Jahre zählt - die unerbittlich verrinnende Zeit bis zum Tod.

Es gibt aber auch noch Kairos, seinen jüngeren Bruder, der Gott der günstigen Gelegenheit, oft dargestellt als Jüngling mit dichtem Haarschopf und geflügelten Füßen. Er ist der Gott des rechten Augenblicks, den man beim Schopfe packen muss, bevor er entwischt. Er symbolisierte die inspirierenden Momente der Schönheit, der Einsicht und Entschlossenheit, die das Leben so spannend machen.

Zwei sich widersprechende oder eher ergänzende Konzepte von Zeitverständnis?

Kronos behält den Überblick, die Kontrolle. Kairos vermittelt dagegen Freude, Leidenschaft, auch Ehrfurcht. Kronos treibt und verbreitet Unruhe, Hektik. Kairos braucht Raum, um es genießen zu können. Kronos versprüht einen Mangel an Flexibilität, pocht auf das ständige Einhalten des Zeitplans aus Angst, nicht alles zu schaffen. Kairos nutzt die Zeit gut. Eine Art Gleichgewicht zwischen beiden zu finden, ist nicht immer einfach.

1.3. Gegenwartsbezug – Lebensweltbezug - Subjektorientierung

Heutige Geschichtsdidaktik erhebt grundsätzlich den Anspruch, dass Bildung und im Speziellen historisches Lernen der Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger gesellschaftlicher Frage- und Problemstellungen zu dienen hat und nicht beschränkt bleiben darf auf bloßes Reagieren auf gesellschaftliche Begebenheiten, sondern auch für das Erlangen von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die es erlauben, die Gesellschaft weiterzuentwickeln und damit auch zu kritisieren, beitragen muss.

Die didaktischen Prinzipien, die diese Vergegenwärtigung zu ermöglichen versuchen, kreisen um zwei, mitunter auch drei Begriffe: Gegenwarts- und Lebensweltbezugs, ergänzt um Subjektorientierung. Diese erscheinen meist als Kollokation (= gehäuft benachbartes Auftreten), teilweise sogar synonym.

Für den Gegenwartsbezug lassen sich zwei Zugriffe unterscheiden.

1.) erkenntnistheoretische Überlegungen, dass Vergangenheit nicht mehr existiert, aber in die Gegenwart transformiert werden muss in eine beobachtbare gegenwärtig existierende Form. Dahinter steht das Prinzip eines konstruktivistisch-narrativen Vorgehens, dass anhand Quellen versucht die wahrscheinliche Vorstellung der Vergangenheit zu rekonstruieren im Akt des Erzählens. Diese Rekonstruktion erfolgt aber immer aus der gegenwärtigen Erkenntnis heraus. Geschichte entsteht also immer nur dann, wo eine gegenwärtige Fragestellung, ein Erkenntnisinteresse, sie angestoßen hat.

2.) anthropologische Überlegungen, dass Geschichtsbewusstsein sich entwickelt aus der Konfrontation mit der Vergangenheit.

Die didaktische Auswahl der Inhalte muss dabei einen Nutzen, eine Bedeutung (im anglo-amerikanischen Raum als „historical significance“ bezeichnet), einen Sinn haben. Hiermit verbindet sich das, was wir auch als „Geschichtskultur“ bezeichnen, also als kollektives Geschichtsbewusstsein einer Gesellschaft artikuliert.

Klaus Bergmann, der sich wiederholt zu dem Thema geäußert hat - so zuletzt 2012 in seiner Publikation mit dem Titel „Der Gegenwartsbezug im Geschichtsunterricht“ - fordert daher für „guten Geschichtsunterricht“, historische Themen verstärkt mit aktuellen gesellschaftlichen, politischen oder kulturellen Fragestellungen zu verknüpfen, um so den erkenntnistheoretischen Zusammenhang zwischen Gegenwart und rekonstruierter Geschichte herstellen zu können.

Schon lange geht es also im Geschichtsunterricht nicht um das Aneignen eines vordefinierten historischen Wissenskanons – Nietzsche sprach von einer „ungeheuren Menge von unverdaulichen Wissenssteinen“. Die Frage bleibt, welche Rolle die Perspektive der Schülerinnen und Schüler dabei eingeräumt wird. Die Forderung nach mehr „Subjektorientierung“ stellt genau diese Frage, nämlich die Orientierung am lernenden Subjekt, noch stärker als bisher in den Vordergrund. Die Schülerinnen und Schüler mit ihrem je individuellen historischen Orientierungsbedürfnis und persönlichen Lernvoraussetzungen sollen im Mittelpunkt der geschichtsdidaktischen Bemühungen stehen. Folgen daraus sind somit angesichts diverser Menschen auch mehr Diversität im Geschichtsunterricht. Aufgrund eines erweiterten Inklusionsbegriff gehören zu den Diversitätskategorien auch z. B. Klasse, Ethnie oder Geschlecht.

Subjektorientierung ist daher vor allem auch in der Sonderpädagogik eine wichtige Thematik, aber eben nicht nur.

Wird diese Subjektorientierung ernst genommen, heißt das auch, dass der Unterschied beachten werden muss zwischen dem, was gelehrt wird und dem, was von den Lernenden aufgenommen wird.

1.4. Was meint „Lebenswelt“?

Bis heute besteht in der Geschichtsdidaktik keine Einigkeit über den Lebensweltbegriff. Der Philosoph Fellmann spricht daher von einem „gelebten Begriff“. Dr Begriff lässt sic zurückführen auf den Phänomenologen Edmund Husserl zu Beginn des 20. Jahrhunderts und wurde später von anderen Philosophen wie Gadamer und Habermas rezipiert, ist also kein originär geschichtsdidaktischer, sondern eher ein philosophischer Begriff der Phänomenologie.

Für die Geschichtswissenschaft findet er sich erstmals bei Jörn Rüsen (1996).

Zum einen beansprucht er, von subjektiven Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler (= SuS) auszugehen („dort abholen, wo sie stehen“, „in den Horizont der SuS rücken“). Solche Erfahrungen sind vielfältig, individuell, plural. Zum anderen erfordert er, den Erfahrungsbegriff, um vergangene Erfahrungen zu erweitern und auch strukturelle reflektierte Erfahrungen aufzuzeigen. Ohne diese fachwissenschaftliche Erweiterung der Erfahrungen würde der Lebensweltbezug im Geschichtsunterricht zu einer „Anlass-Beliebigkeit“ führen. Die alleinige Thematisierung der unreflektierten subjektiven konkreten Erfahrung der SuS würde einer Enthistorisierung des Geschichtsunterrichts gleichkommen („Entkleidung der Alterität“). Daher muss der Erfahrungsbegriff um vergangene Erfahrungen erweitert werden und diese durch „mögliche“ Erfahrungen mit den subjektiven Erfahrungen verknüpft werden, um so einerseits die Zeitlichkeit der Erfahrungen zu verdeutlichen (vergangen – gegenwärtig - zukünftig), zugleich aber auch die Geschichtlichkeit von Erfahrungen zu verdeutlichen durch den Blick auf Kontinuität und Wandel. Damit wird letztlich die Andersartigkeit der Erfahrungen deutlich. Erst durch diese Verbindung der unreflektierten Vorerfahrungen mit den reflektierten historischen Erfahrungen wird Alteritätserfahrung, Fremdverstehen und damit auch Empathie möglich. Gegenwärtige und vergangene Erfahrungen werden somit also nicht im Sinne von Gleichheit, sondern Vergleichbarkeit, d. h. im Sinne von Strukturähnlichkeiten reflektiert.

1.5. „Lebenswelten“ als Präkonzept

Hier ein paar Assoziationen, was Lebenswelt meinen kann und was eben auch nicht:

… ist „einfach da“ (Rolf Schörken)

… nicht bewusst, nicht reflektiert, „pränarrativ“ (Jörn Rüsen)

… die natürlich erscheinende und aus vertrauten Situationen bestehende Welt (Rolf Schörken)

… vorwissenschaftlich, vortheoretisch

… das Offene, Zufällige, nicht Planmäßige, je Eigene

… anerkannte Erzählungen von Gewissheiten, die schnelle Orientierung ermöglichen

… Lebenswelten (Plural, weil divers)

… „der Bereich, der sich von selbst versteht“

Das Grundproblem ist, dass man Lebenswelt nicht bewusst wahrnimmt noch über sie spricht, sie quasi vortheoretisch“ ist - über Lebenswelt theoretisch zu sprechen bedeutet also ein Heraustreten aus ihrer Selbstverständlichkeit, d.h. es ist sogar umstritten, ob Lebenswelt, wenn sie durch einen reflexiven Zugang sichtbar gemacht wird, überhaupt noch Lebenswelt ist Zudem ist der Begriff „Lebenswelt“ im Singular nicht passend, denn wir können nicht mehr von einem einigermaßen einheitlichen Erfahrungs- und Lebenswelthintergrund ausgehen

1.6. Fazit: „Lebensweltbezug“ als Respekt vor den Schülerinnen und Schülern

Allen Definitionsversuchen von Lebenswelten“ gemeinsam ist dabei immer vor allem die hohe Wertschätzung den SuS gegenüber, die in ihrer ganzen Person ins Zentrum des Unterrichts gestellt werden.

Das „Lebensweltkonzept“ ist also grundsätzlich eine Hinwendung hin zum lernenden Subjekt. Die Schüler/-innen mit ihrem je individuellen historischen Orientierungsbedürfnis und persönlichen Lernvoraussetzungen werden in den Mittelpunkt der geschichtsdidaktischen Bemühungen gestellt.

Inwiefern damit zwangsläufig auch eine Abkehr von „genormten Lehrinhalten“ verbunden ist, wäre sicher lohnenswert, zu reflektieren und zu diskutieren. Institutionalisierte Lernvorgaben wie Bildungspläne können bestenfalls durch Themengestaltung die Orientierungsbedürfnisse der Lerngruppe berücksichtigten. Generell aber stellt sich die Frage, ob da genetisch-chronologische Strukturierungsprinzip des Geschichtsunterrichts mit seiner immer noch im Kern nationalhistorischen bzw. eurozentrischen Ausrichtung für die Thematisierung der wesentlichen Veränderungen in der Gesellschaft noch ausreicht, um die gewachsene Diversität der Lernenden – neben der Migrationsgeschichte sei auch noch die queere Geschichte erwähnt – in den Blick zu nehmen. Auch muss ein lebensweltlich orientierter Geschichtsunterricht die digitalen Lebenswelten junger Menschen mit einbeziehen wie Gaming, YouTube, Streaming, Blogging und nicht zuletzt die zunehmend wachsende Bedeutung von Künstlicher Intelligenz.

 

Anliegen der Gesamttagung: Herunterladen [docx][64 KB]

Anliegen der Gesamttagung: Herunterladen [pdf][37 KB]

Weiter zu Literatur