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Exkurs: Fragmente

Drei der Text sind auf den ersten Blick Fragmente. Darin liegt kein Defizit, sondern eine Chance für den Unterricht.

Zunächst kann man festhalten, dass der Fragmentcharakter unterschiedlich ausgeprägt ist: Büchners „Woy- zeck“ ist unvollendet. Büchner starb während der Entstehung. Eine ganze Reihe von Szenen sind ausgerar- beitet, eine endgültige Anordnung hatten sie aber noch nicht gefunden. Hier haben wir eine sehr offen Textgestalt vor uns. Ebenfalls offen ist die Gestalt von Kafkas „Der Verschollene“, wenngleich hier die An- ordnung etwas klarer ist (wenn auch nicht für alle überlieferten Fragmente). Kafkas Roman wurde vom Autor liegen gelassen und nicht weitergeführt; sein Nachlassverwalter Max Brod hat ihn entgegen Kafkas Wunsch nicht vernichtet. Ebenso wie bei Büchner ist der Text erst postum erschienen. Thomas Mann hat hingegen den vorhandenen Text zu Lebzeiten veröffentlicht – er ist insoweit abgeschlossen. Dass er als „Der Memoiren erster Teil“ veröffentlicht wurde und dass dem Krull-Projekt von langer Hand – Mann arbeitete ja über beinahe 50 Jahre daran – ein umfassenderer Schreibplan zugrunde liegt, markiert ihn als intendier- tes Fragment.

Es bietet sich also an, im Unterricht die vielen Gründe zu thematisieren, die zu einem unvollendeten Text- fragment führen können: von den Zufällen der Überlieferung (man denke nur an alt- und mittelhochdeut- sche Texte), die Texte überhaupt oder mehr oder weniger vollständig und korrumpiert auf uns kommen lassen, über das Scheitern von Autor(inn)en, die nicht weiterkommen oder einen Text als missraten aufge- ben, bis hin zur bewussten Gestaltung eines Textes als Fragment.

Das Phänomen des Fragments baut eine ganze Reihe möglicher Brücken zu interessanten Fragen, die für den Unterricht in der Kursstufe fruchtbar gemacht werden können, z.B.

  • Fragen der Entstehungsgeschichte und damit auch die Frage, was mein Interesse als Leser ist. So wenig äußere Umstände der Entstehung für die Deutung eines Textes besagen wollen, so kann doch die Per- son des Schreibenden ein Gegenstand des Interesses sein.
  • Vermittelt über Entstehungsprozesse kann der Schreibprozess als solcher thematisiert werden. Relais können hier z.B. auch Manuskripte sein (die meist relativ gut lesbaren Manuskripte Kafkas z.B. sind in der Frankfurter Ausgabe zu größeren Teilen zugänglich). Diese Beschäftigung kann sich bis zur Frage erstrecken, wann ein Text denn eigentlich fertig ist – was vor allem angesichts der potentiell unendli- chen Überarbeitungsmöglichkeiten nicht trivial ist; sind Texte womöglich nur die letzte Stufe eines Entwurfs?
  • Fragen der Editionsphilologie: Woher eigentlich unsere Textausgabe kommen, welche Rolle der Her- ausgeber spielt, wie mit schwierigen Überlieferungslagen umgegangen wird, was eine Konjektur ist, welche Bedeutung der Wille des Autors hat und wie man ihn ermittelt, das sind Fragen, die im Deutsch- unterricht ein eher randständiges Dasein fristen. Für SuS sind sie durchaus spannend. Gerade an Au- toren wie Kafka oder Büchner kann die Editionsgeschichte plastisch werden.
  • Fragen nach der Autorschaft: Das sind nicht nur die naheliegenden Fragen, inwiefern Interessen, Er- fahrungen, Intentionen einen Text prägen (also z.B. Juli Zehs Anspruch, eine politische Autorin zu sein, oder Thomas Manns Exilerfahrung, Homoerotik oder Hotelerlebnisse), es reicht bis hin zur Frage nach Bedeutung und Status von Autorschaft überhaupt, wie sie Foucaults „Was ist ein Autor“ kulminiert, der bekanntlich auf Barthes’ These vom Tod des Autors antwortet.
  • Das Fragment ist natürlich auch eine Gattung – nicht nur in Form der romantischen Fragmente. Das Fragment als Gattung stellt vor allem die Frage nach dem Rand einerseits und dem Verhältnis zu ande- ren Texten andererseits. Es weist über sich hinaus auf andere Fragmente, die nach der Logik des Puzzles ein größeres Ganzes andeuten, und es verweist im harten Abbruch auf die eigene Endlichkeit. Darin liegen Assoziationen zur Stellung von Texten im Gefüge größerer Ganzheiten (Intertextualität, Litera- turgeschichte, Zeitungskorpus). Es liegt darin aber eine Spur zu inneren Diskontinuitäten, gewisser- maßen der inneren Fragmentarität der Brüche und Sprünge, die sich in jedem Text finden.
  • Durch die Dialektik von Teil und Ganzem impliziert die Beschäftigung mit Fragmenten immer auch die Frage nach der Hermeneutik. Diese – wie auch viele Lesemodelle – geht ja aus von einem potenti- ellen Sinnganzen, das als Asymptote vom Text angeboten, aber in der Unabschließbarkeit der Deutung nie ganz eingelöst wird. Insofern jeder Text erst im Gelesenwerden in seinem Zusammenhang herge- stellt wird, ist er auch immer Fragment.
  • Und diese Überlegungen führen schlussendlich auch zu existentiellen Fragen der räumlichen, sozialen und zeitlichen Fragmentarität unseres endlichen Daseins.

 

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