Sachanalyse
1. Sachanalyse: 1
Die nach dem Zweiten Weltkrieg erreichte kommunistische Vorherrschaft in den ostmitteleuropäischen Satellitenstaaten wurde von der Sowjetunion mit allen Mitteln gesichert. Dennoch kam es in regelmäßigen Abständen immer wieder zu Reformbestrebungen. Eine erste Zäsur in der Politik der Sowjetisierung stellte der Tod Stalins am 5. März 1953 dar. Die unter seinem Nachfolger Chruschtschow beginnende neue Ära, die nach einem gleichnamigen Roman des russischen Schriftstellers Ilja Ehrenburg mit "Tauwetter" bezeichnet wurde, hatte eine „Entstalinisierung“ als Ziel. Bereits am 27. März 1953 wurden Amnestien erlassen, die das Lagersystem abschafften, und ca. 1,2 Millionen Gefangene aus den Lagern entlassen. Die Reformen entfalteten allerdings unerwartete Folgewirkungen und führten zu Reformbewegungen in den Ostblockstaaten.
Besonders in der Tschechoslowakei hofften die Menschen auf die Chance einer Demokratisierung innerhalb der poststalinistischen Strukturen, wo seit 1957 unter Partei- und Staatschef Antonín Novotny vorsichtige Wirtschaftsreformen und Liberalisierungstendenzen durchgeführt wurden. Zudem waren die CSSR und insbesondere Prag in den 1960ern ein beliebtes Reiseziel der DDR-Bevölkerung sowie vieler Westberliner und Westdeutscher, was zu vielen zwischenmenschlichen Kontrakten und einem regen Gedankenaustausch führte. Als sich 1967 erste Proteste durch Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle um Václav Havel und Pavel Kohout gegen die zu zaghaften Reformen formierten, musste Novotny auf Druck der Sowjetführung Anfang Januar 1968 zurücktreten. Sein Nachfolger Alexander Dubček begann zügig mit einer spürbaren Liberalisierung der Gesellschaft, damit der Sozialismus ein "menschliches Antlitz" bekomme. Dieser Reformprozess erhielt bald von westlichen Medien auch den Namen „Prager Frühling“ und knüpft an den Begriff „Tauwetter-Periode“ für die Entspannungspolitik des Ostens an. Am 5. April 1968 erließ die kommunistische Partei ein "Aktionsprogramm", das binnen zwei Jahren von der Regierung umgesetzt werden sollte und indem sie weitgehend auf ihr Machtmonopol verzichten wollte. Eine teilweise Privatisierung der Wirtschaft wurde beschlossen und Betriebsräten Entscheidungskompetenzen zugestanden. Auch liberale Grundrechte wie Rede-, Reise- und Versammlungsfreiheit sowie die Freiheit von Wissenschaft, Kunst, Kultur, Medien bis zur Gründung von Vereinigungen wurden gewährt. Die Sowjetunion und vor allem die DDR, aber auch Polen, Ungarn und Bulgarien reagierten mit Militärmanövern und der sprachlichen Erklärung: "Wir werden die Tschechoslowakei nicht aufgeben!" Andere kommunistische Staaten wie Jugoslawien und Rumänien begrüßten die Reformen, ebenso die kommunistischen Parteien Westeuropasund nicht zuletzt auch China, dass sich dadurch ebenfalls mehr Unabhängigkeit gegenüber der Sowjetunion versprach. Diese zunächst von der Parteispitze verordneten Reform fanden rasch in der Bevölkerung Zustimmung, besonders bei Jugendlichen und Intellektuellen. Am 27. Juni 1968 veröffentlichten 68 Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern das „Manifest der 2000 Worte" (Dva tisíce slov), das eine Abrechnung mit den letzten 20 Jahren der kommunistischen Herrschaft. Die weitere Demokratisierung, so das Manifest, könne nur außerhalb der KPC gesichert werden. Damit wurde der Sozialismus als Gesellschaftsform generell in Frage gestellt. Für die sowjetische Regierung, aber auch für die Führung anderer Ostblockstaaten, insbesondere der DDR, war das Manifest ein Aufruf zur Konterrevolution, wie es Walter Ulbricht explizit formulierte. Wenngleich sich die kommunistische Partei der Tschechoslowakei auch vom Manifest distanzierte, widersetzte sich Dubček der Forderung nach einem sofortigen Eingreifen gegen die konterrevolutionären Kräfte. Nachdem Dubček einen als Art Ultimatum gedachten gemeinsamen Aufruf der Vertreter der Sowjetunion, Bulgariens, Ungarns, Polens und der DDR („Warschauer Brief") zur Kurskorrektur vom 15. Juli 1968 ignorierte, rückten am 21. August 1968 rückten insgesamt 400.000 Soldaten der Truppen des „Warschauer Paktes“ - ausgenommen Rumäniens - in Prag und der Tschechoslowakei ein und beendeten trotz ziviler Gegenwehr von Demonstranten gewaltsam die reformkommunistische Bewegung des Prager Frühlings. Die kommunistische Führung der Sowjetunion machte so unmissverständlich deutlich, dass sie in ihren osteuropäischen Satellitenstaaten kein Abweichen von ihrem ideologischen und diktatorischen Kurs duldete. Dubček und andere führende Parteimitglieder wurden nach Moskau entführt, wo Dubček gezwungen wurde, die Aufhebung der Reformprojekte zu erlassen sowie die Stationierung sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei Am 12. November 1968 verkündete der sowjetische Staatschef Leonid Breschnew in der sog. „Breschnew-Doktrin“, dass sich die Sowjetunion generell das Recht vorbehalte, Oppositionsbewegungen in sozialistischen Ländern notfalls mit Gewalt niederzuschlagen.
Zwar war die Demokratiebewegung zunächst damit noch nicht vollkommen beendet, aber hatte ihre staatliche Unterstützung verloren Im Januar 1969 verbrannte sich in Prag der Student Jan Pallach selbst, weil er als „lebendige Fackel“ gegen das Erlöschen der Demokratiebewegung ein Zeichen setzen wollte. Und am Jahrestag der Niederschlagung des Prager Frühlings demonstrierten am 20. und 21. August 1969 erneut in Prag ca. 150.000 Menschen gegen die Besetzung des Landes und für eine Fortsetzung der Reformbewegung, worauf die kommunistischen Machthaber äußerst brutal vorging, um eine erneute Mobilmachung der Sowjetarmee und der damit der drohenden Gefahr eines blutigen Massakers zuvorzukommen. Und auch in der DDR kam es angesichts der Niederschlagung des Prager Frühlings zu zahlreichen Protestaktionen, auf die die Staatsführung mit massenhaften Verhaftungen reagierte. Im gesamten Ostblock aber erloschen für viele Jahre die Hoffnungen auf Liberalisierung und Demokratisierung nach dieser erneuten bitteren Enttäuschung nach 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn und Polen.
Durch die KSZE-Schlussakte von Helsinki, in der sich auch die Staaten des Warschauer Paktes zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten verpflichtet hatten, hatte sich jedoch für die zivilgesellschaftlichen Bürgerbewegungen in Osteuropa (Dissidentenbewegung) etwas grundsätzlich etwas, konnten sie sich doch von nun an auf diese von ihren eigenen Regierungen unterzeichnete Vereinbarung berufen. So wurde am 1. Januar 1977 die „Charta 77“ mit 242 Unterschriften veröffentlicht und am 7. Januar 1977 in führenden europäischen Zeitungen abgedruckt. Die aus vielen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen stammenden Verfasser - unter ihnen der Literat und spätere tschechische Staatspräsident Václav Havel -, die sich ausdrücklich als Bürgerinitiative und nicht als oppositionelle politische Gruppe verstand, forderten die Einhaltung der von der tschechoslowakischen Regierung im August 1975 unterzeichneten und verabschiedeten internationalen Verträge über Menschen- und Grundrechte, essenzielle Bestandteile der Schlussakte von Helsinki. Am 17. Januar gründete sich in Paris ein internationaler Ausschuss zur Unterstützung der Charta 77, dem unter anderen Heinrich Böll, Friedrich Dürrenmatt, Arthur Miller und Graham Greene angehören. Das Zentralkomitee der CSSR organisiert dagegen eine "Anti-Charta". Manche Künstler*innen wurden zur Unterschrift gezwungen, andere unterschrieben freiwillig, vielleicht sogar aus Überzeugung. Die Chartisten wurden als "verkrachte Existenzen der tschechoslowakischen reaktionären Bourgeoisie", die im Auftrag antikommunistischer Mächte des Auslands handelten, diffamiert, verhaftet und teilweise ausgebürgert. Einer der drei Sprecher, Jan Patočka, der mit dem westlichen Ausland Kontakt aufgenommen hatte, erlitt aufgrund einer diffamierenden öffentlichen Kampagne gegen ihn zahllosen Verhören einen Schlaganfall, an dessen Folgen er im März 1977 verstarb. Die Bewegung ließ sich aber nicht mehr unterdrücken. Bereits im Sommer 1977 war die Zahl der Unterzeichner auf 600 angewachsen. Jedes Jahr wurden drei Unterzeichner der Charta zu Sprechern gewählt, die die Charta nach außen repräsentierten. Ihre Führer wurden von Millionen Tschechen als legitime Repräsentanten der Nation angesehen. Zwischen 1977-1989 veröffentlichte sie 572 Publikationen zur Menschenrechtssituation im Lande, aber auch zu Themen wie den Frieden und den Umweltschutz. Bis 1989 bekannten sich fast 2000 Menschen öffentlich zur „Charta 77“.
Anlässlich des 20. Jahrestags der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ kam es am 21. August 1988 in Prag zur ersten antistaatlichen Massendemonstration seit 1969. In den darauffolgenden Monaten folgten weitere Demonstrationen sowohl in Bratislava als auch in Prag, gegen die die Polizei mit Brutalität und Härte vorging und zahlreiche Oppositionelle verhaftete, darunter auch den Schriftsteller Václav Havel, einen der Initiatoren der regimekritischen Bürgerrechtsbewegung "Charta 77". Die Reformen in den anderen Ostblocksaaten, allen voran Polen und Ungarn, schienen zunächst an der CSSR vorbei zu gehen. Erst am 16. November 1989 kam es erneut in Bratislava zu massiven Protesten für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie. Als es bei einer weiteren Demonstration am 17. November in Prag anlässlich einer Gedenkveranstaltung für den 1939 ermordeten tschechischen Widerstandskämpfer Jan Opletal zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei kam, wurden über 600 Menschen verletzt. Der Gewaltexzess führte zu einer Solidarisierungsbewegung innerhalb der Bevölkerung, weswegen der 17. November heute als Auftakt des folgenden gewaltfreien und daher als "Samtene Revolution" bezeichneten Umbruchs in der Tschechoslowakei gilt. Die Forderung nach einem Generalstreik am 27. November und die Gründung der Demokratiebewegung "Bürgerforum" - in Anlehnung an das kurz zuvor in der DDR gegründete "Neue Forum“ - führten dazu, dass erstmals das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der CSSR Dialogbereitschaft signalisierte und sein Generalsekretär Milouš Jakeš zurücktreten musste. Dennoch kam es am 27. November 1989 zu einem Generalstreik: für zwei Stunden legten Schätzungen nach etwa 80% der Bevölkerung in der gesamten Tschechoslowakei die Arbeit nieder unter dem Motto "Schluss mit der Einparteienherrschaft" nieder und forderten demokratische Neuwahlen. Zum Symbol des Protestes wurde das Rasseln mit Schlüsselbünden, das symbolisch das Ende der kommunistischen Herrschaft einläuten sollte. Am 28. November gab die Staatsführung bekannt, dass die Opposition unter Leitung Václav Havels künftig an der Regierung beteiligt werde. Auch die Grenzbefestigungen zu Österreich und zur Bundesrepublik wurden im Dezember sukzessive abgebaut. Am 29. Dezember 1989 wurde Václav Havel zum Staatspräsidenten gewählt und der politische Umbruch war auch in der Tschechoslowakei erfolgreich beendet.
1 Siehe auch
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Dossier „Der Prager Frühling“, in: https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/68er-bewegung/52007/prager-fruehling (letzter Aufruf 01.02.2021).
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Ebenso Weiss, Stephanie: Zivilgesellschaft in Tschechien, in: https://www.bpb.de/apuz/215175/zivilgesellschaft-in-tschechien#fr-footnode6 (letzter Aufruf 01.02.2021).
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