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M4

Leistungsfach Katholische Religionslehre – Unterrichtseinheit 3 – Was ist zu tun?

Der unvermeidliche Konflikt

Papst Franziskus in seiner Enzyklika Fratelli tutti vom 3. Oktober 2020

237. Vergebung und Versöhnung sind für das Christentum äußerst wichtige Themen; in unterschiedlicher Form auch in anderen Religionen. Es besteht allerdings die Gefahr, dass Glaubensüberzeugungen nicht entsprechend verstanden und so dargestellt werden, dass sie am Ende Fatalismus, Handlungslosigkeit oder Ungerechtigkeit nähren oder – als entgegengesetztes Extrem – Intoleranz und Gewalt. 238. Christus hat nie dazu aufgerufen, Gewalt oder Intoleranz zu schüren. Er selbst verurteilte offen die Anwendung von Gewalt, um sich durchzusetzen: »Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Großen ihre Vollmacht gegen sie gebrauchen. Bei euch soll es nicht so sein« (Mt 20,25–26). Andererseits fordert das Evangelium, »siebzigmal siebenmal« (Mt 18,22) zu vergeben, und führt das Beispiel des unbarmherzigen Knechtes an, dem vergeben wurde, der aber seinerseits nicht fähig war, anderen zu vergeben (vgl. Mt 18,23–35). 239. Bei der Lektüre weiterer Texte des Neuen Testaments können wir feststellen, dass tatsächlich die ersten Gemeinden, inmitten einer heidnischen Welt mit weit verbreiteter Korruption und vielen Verirrungen, ein Gespür für Geduld, Toleranz und Verständnis besaßen. […]

240. Wenn wir jedoch über Vergebung, Frieden und soziale Eintracht nachdenken, stoßen wir auf einen überraschenden Ausdruck Christi: »Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein« (Mt 10,34–36). Das muss im Kontext des Kapitels gelesen werden. Dort wird deutlich, dass vom Thema der Treue zur eigenen Entscheidung die Rede ist, ohne sich dafür zu schämen, selbst gegen Widerstände und sogar, wenn sich die Angehörigen gegen diese Entscheidung stellen. Es ist daher keine Einladung, den Konflikt zu suchen, sondern einfach den unvermeidlichen Konflikt zu ertragen. Die Achtung vor anderen Menschen darf nicht dazu führen, um des vermeintlichen Friedens in Familie und Gesellschaft willen sich selbst untreu zu werden. […]

Berechtigte Kämpfe und Vergebung

241. Es geht nicht darum, auf unsere eigenen Rechte zu verzichten und Vergebung für einen korrupten Machtinhaber, einen Kriminellen oder jemanden, der unsere Würde herabsetzt, vorzuschlagen. Wir sind gerufen, ausnahmslos alle zu lieben, aber einen Unterdrücker zu lieben bedeutet nicht, zuzulassen, dass er es weiter bleibt; es bedeutet auch nicht, ihn im Glauben zu belassen, dass sein Handeln hinnehmbar sei. Ihn in rechter Weise zu lieben bedeutet hingegen, auf verschiedene Weise zu versuchen, dass er davon ablässt zu unterdrücken; ihm jene Macht zu nehmen, die er nicht zu nutzen weiß und die ihn als Mensch entstellt. Vergeben heißt nicht, zuzulassen, dass die eigene Würde und die Würde anderer weiterhin mit Füßen getreten wird oder dass ein Krimineller weiterhin Schaden anrichten kann. Wer Unrecht erleidet, muss seine Rechte und die seiner Familie nachdrücklich verteidigen, eben weil er die ihm gegebene Würde schützen muss, eine Würde, die Gott liebt. Wenn ein Verbrecher mir oder einem geliebten Menschen Schaden zugefügt hat, kann mir niemand verbieten, Gerechtigkeit zu fordern und dafür Sorge zu tragen, dass diese Person – oder irgendjemand anders – mir oder anderen nicht wieder Schaden zufügt. Das ist mein Recht, und Vergebung negiert diese Notwendigkeit keineswegs, sondern verlangt sie sogar. 242. Der springende Punkt ist, dies nicht zu tun, um eine Wut zu schüren, welche die eigene Seele und die Seele unseres Volkes krankmacht, oder wegen eines ungesunden Wunsches nach Vernichtung des Nächsten, der eine Reihe von Rachefeldzügen auslöst. Niemand erreicht auf diese Weise inneren Frieden oder versöhnt sich mit dem Leben. […]

Die wahre Bewältigung

244. Wenn Konflikte nicht gelöst, sondern in der Vergangenheit verborgen oder begraben werden, kann Schweigen manchmal bedeuten, sich an schweren Fehlern und Sünden mitschuldig zu machen. Wahre Versöhnung aber geht dem Konflikt nicht aus dem Weg, sondern wird im Konflikt erreicht, wenn man ihn durch Dialog und transparente, aufrichtige und geduldige Verhandlungen löst. […]

Erinnerung

246. Von dem, der auf ungerechte und grausame Weise viel gelitten hat, kann man nicht eine Art „gesellschaftliche Vergebung“ verlangen. Versöhnung ist eine persönliche Angelegenheit: niemand kann sie einer ganzen Gesellschaft aufzwingen, selbst wenn sie gefördert werden muss. Im rein persönlichen Bereich kann jemand aus freier und großzügiger Entscheidung heraus darauf verzichten, eine Strafe zu fordern (vgl. Mt 5,44–46), selbst wenn die Gesellschaft und ihre Rechtsprechung dies berechtigterweise verlangen. Es ist jedoch nicht möglich, eine „allgemeine Versöhnung“ zu verordnen und zu glauben, Wunden per Dekret zu schließen oder Ungerechtigkeiten mit einem Mantel des Vergessens überdecken zu können. Wer kann das Recht beanspruchen, im Namen anderer zu vergeben? Es ist ergreifend, die Fähigkeit zur Vergebung einiger Menschen zu sehen, die imstande waren, über den erlittenen Schaden hinwegzugehen; es ist aber auch menschlich, die zu verstehen, die das nicht können. Was jedenfalls niemals vorgeschlagen werden darf, ist das Vergessen.

Enzyklika Fratelli tutti von Papst Franziskus – Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft. Hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Verlautbarungen des Heiligen Stuhls, Nr. 227) Bonn 2020

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