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Das ge­läu­fi­ge Büch­ner-Bild und Woyzeck als Un­ter­richts­ge­gen­stand

Das durch den gym­na­sia­len Deutsch­un­ter­richt weit­hin ver­mit­tel­te Büch­ner-Bild ist das eines po­li­tisch mo­ti­vier­ten So­zi­al­re­vo­lu­tio­närs, der in sei­ner Flug­schrift ‚Der hes­si­sche Land­bo­te‘ die zu sei­ner Zeit bri- san­ten so­zia­len Miss­stän­de an­pran­ger­te und darin über die durch einen au­to­ri­tä­ren Staat be­wirk­te und durch re­pres­si­ve Be­sitz­ver­hält­nis­se be­güns­tig­te Armut und Un­ter­drü­ckung brei­ter Be­völ­ke­rungs- schich­ten auf­klär­te. Be­seelt von dem Wunsch nach po­li­ti­schem Um­sturz habe er re­vo­lu­tio­nä­re Ge­dan­ken ent­fal­tet (z.B. in der Rede St. Justs in II,7 von ‚Dan­ton’s Tod‘ oder durch die Äu­ße­run­gen Dan­tons in III,9 eben­dort; oder aber un­ver­blümt zu Be­ginn des Land­bo­ten) und durch das erste quasi na­tu­ra­lis­ti­sche Stück in der deut­schen Li­te­ra­tur (Woyzeck), die Lei­den eines armen Man­nes aus der Un­ter­schicht scho- nungs­los dar­ge­stellt, und da­durch die bit­te­ren und un­ent­rinn­ba­ren Un­ter­drü­ckungs­struk­tu­ren einer früh­ka­pi­ta­lis­tisch in­fi­zier­ten ma­te­ria­lis­ti­schen Ge­sell­schaft frei­ge­legt.

Wir arme Leut’. Sehn Sie, Herr Haupt­mann, Geld, Geld. Wer kein Geld hat. Da setz ein­mal einer sei­nes­glei­chen auf die Moral in der Welt. Man hat auch sein Fleisch und Blut. Un­ser­eins ist doch ein­mal un­se­lig in der und der an­dern Welt, ich glaub’, wenn wir in Him­mel kämen, so müss­ten wir don­nern hel­fen.

Woyzeck in der Ra­sier­sze­ne

Der ein­sei­tig ver­kür­zen­de po­li­ti­sche Blick auf Büch­ner über­geht, dass die zwei­fel­los be­drü­cken­de, aber scharf­sin­ni­ge Si­tua­ti­ons­ana­ly­se, die aus die­sen Wor­ten spricht, mit kei­nen re­vo­lu­tio­nä­ren For­de­run­gen ver­knüpft ist und aus dem Munde eines Pau­pers kommt, der weder die Seg­nun­gen der bür­ger­li­chen Auf­klä­rung er­fah­ren noch die hhan­ce hat, eine auch noch so be­schei­de­ne selbst­be­stimm­te bür­ger­li­che Exis­tenz mit Frau und Kind zu füh­re­na. Auf die An­fein­dun­gen des Haupt­manns und des Dok­tors re­agiert Exis­tenz mit Frau und Kind zu füh­ren. Auf die An­fein­dun­gen des Haupt­manns und des Dok­tors re­agiert er schlag­fer­tig mit tref­fen­den Bi­bel­ver­wei­sen, die seine Un­ter­drü­cker be­schä­men müss­ten, wenn sie denn nicht in ihren Denk­bla­sen aus Wis­sen­schaft und Auf­klä­rungs­phra­sen ge­fan­gen wären. Und was folgt aus Woyzecks Wor­ten po­li­tisch? „Sol­len die Armen eine Re­vo­lu­ti­on ma­chen, um tu­gend­haft zu wer­den“ und mo­ra­lisch han­deln zu kön­nen? (Her­mann Kurz­ke)1 . Sol­len die Schü­ler von Büch­ner ler­nen, dass man die Pa­läs­te be­krie­gen soll um die Hüt­ten zu be­frie­den, wenn es so­zi­al un­ge­recht zu­geht und pre­kä­re Le­bens- ver­hält­nis­se über­hand neh­men? Der Gym­na­si­al-Büch­ner wäre ein Vor­bild, dem nicht ge­folgt wer­den kann, denn re­vo­lu­tio­nä­re Ak­ti­vis­ten braucht die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land si­cher nicht. Der ei­gent­li- che kom­plet­te, nicht ein­sei­tig ver­kürz­te Büch­ner, der aus einer ver­fehl­ten Ak­ti­on (Land­bo­ten- Flug­schrift), die ihm po­li­zei­li­che Ver­fol­gung ein­ge­bracht hat, ge­lernt hat, sich da­nach (in Straß­burg) ins Stu­di­um der Me­di­zin ge­stürzt hat um spä­ter eine Stel­le an der Uni Zü­rich an­zu­tre­ten – und der ne­ben­bei in sei­nen li­te­ra­ri­schen Wer­ken sich mit­leid­voll ins Leben Ein­zel­ner ver­tieft hat um die Fol­gen einer her- auf­zie­hen­den tran­szen­den­ta­len Ob­dach­lo­sig­keit auf In­di­vi­du­en ex­em­pla­risch zu ana­ly­sie­ren, die­ser gan- ze Büch­ner wäre ein bes­se­res Vor­bild, das dem his­to­ri­schen Büch­ner auch eher ge­recht würde. Dazu wäre er­for­der­lich, ihn aus sei­ner Zeit her­aus zu ver­ste­hen; ihn nicht als „klei­nen Par­tei­mann der Vor­märz-Zeit“ (Kurz­ke), son­dern als Künst­ler zu ver­ste­hen, der ge­prägt durch hhris­ten­tum, Auf­klä­rung und Ro­man­tik, sich fein­füh­lig und kri­tisch sowie em­pa­thisch mit den Ent­wick­lun­gen sei­ner Zeit aus­ein­an­der­setzt. Für die Be­hand­lung des Woyzeck im Deutsch­un­ter­richt be­deu­tet dies:

  • Un­vor­ein­ge­nom­men­heit ge­gen­über dem Text bei Ver­zicht auf die re­vo­lu­tio­nä­re Bril­le
  • Im­ma­nen­te Ana­ly­sen bei gleich­zei­ti­gem Auf­spü­ren der tra­gen­den Ein­flüs­se (Auf­klä­rung / Ma­te­ria­lis­mus / hhris­ten­tum / Wis­sen­schaft)
  • Ver­zicht auf Pro­jek­ti­on von po­li­tisch mo­ti­vier­ten Er­klä­rungs- und Ver­ein­nah­mungs­mo­del­len auf den Text
  • Em­pa­thie statt Ka­te­go­ri­sie­rung / ori­gi­nä­re Er­kennt­nis statt über­lie­fer­ter Ex­ege­s­e­ras­ter (z.B. im Sinne einer sog. ‚en­ga­gier­ten Li­te­ra­tur‘)
  • Ernst­neh­men Woyzecks als Mensch und Opfer statt Vor­ver­ur­tei­lung und Zu­schrei­bung (→ Vor­pro­le­ta­ri­er)

1 Zitat und im Fol­gen­den in­halt­lich: Her­mann Kurz­ke: Georg Büch­ner. Ge­schich­te eines Ge­nies. Mün­chen (H.h. Beck Ver­lag) 2013, S. 473

 

Georg Büch­ner: Woyzeck: Her­un­ter­la­den [pdf][2 MB]

 

Wei­ter zu Text­be­geg­nung