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Kapitel 1: Drei Romananfänge im Vergleich

Vorbemerkung

Über erste Sätze literarischer Werke wurde viel diskutiert und geschrieben - so mancher erste Satz wurde zum geflügelten Wort. Der dtv Verlag bietet auf seiner Internetseite dazu das spielerisches Quiz „Finden Sie das richtige Buch zum ersten Satz?“ an: https://www.dtv.de/blog/quiz/der-erste-satz/ .

Hier bietet es sich an mit den Schülerinnen und Schülern ins Gespräch zu kommen und über deren Leseerfahrung sich der Thematik zu nähern. Terry Eagleton bemerkt dazu in seinem Buch „Literatur lesen - Eine Einladung“ (Reclam 2016): „Zu Beginn des ersten Kapitels möchte ein Autor sich von seiner besten Seite zeigen; er ist eifrig darauf bedacht, den Leser zu beeindrucken und sich dessen Aufmerksamkeit zu sichern, ist also darum bemüht, alle Register seiner Kunst zu ziehen. (S. 18). Theodor Fontane weitet die Bedeutung auf das erste Kapitel aus und spitzt sie auf den ersten Satz zu. Im Folgenden sollen die Romananfänge von Theodor Fontanes Effi Briest, Gustave Flaubert Madame Bovary und Lew Tolstois Anna Karenina mit unterschiedlichen Methoden analysiert werden.

Das Ziel des Moduls ist es, (Leit-)motive und Handlungsräume, Symbole, Stimmungen zu entdecken; Themen, Figuren und Charakterdarstellungen sowie mögliche Entwicklungen/Anlagen und Handlungsverläufe zu skizzieren. Ein Blick soll auch auf Erzählform, -haltung und -perspektive gelenkt werden. Abschließend stellt sich die Frage der Lese-Erwartungen, die sich durch die jeweilige Gestaltung des Romananfangs ergibt.

Als Einstieg in dieses Modul dienen die folgende Impulsfrage und das Autorenzitat Theodor Fontanes:

Impulsfrage:

Rekapitulieren und sammeln Sie ihnen bekannte literarische Anfänge (Roman, Kurzprosa (z. B. Kurzgeschichte, Märchen, Sage...), Drama, Lyrik). Welche Funktionen und Bedeutungen haben sie für Sie als Leser?

„Hochgeehrter Herr und Freund. Eben als Ihre freundlichen Zeilen eintrafen, wollt‘ ich schreiben und mich entschuldigen, dass ich erst 10 bis 12 Tage später mit meiner Novelle vor Ihnen erscheinen kann. Es hapert mitunter mehr, als man, in Hoffnungsduselei, annehmen zu müssen glaubte. Volle acht Tage habe ich gebraucht, um das in Abschrift vor mir liegende erste Kapitel in Ordnung zu bringen. Und ein paar Stellen genügen mir auch jetzt noch nicht und müssen, nach erneuter Abschrift, wieder unter die Feile. Nun müssen Sie aber nicht fürchten, dass das so weiter geht; das erste Kapitel ist immer die Hauptsache und in dem ersten Kapitel die erste Seite, beinah die erste Zeile. [...] Bei richtigem Aufbau muss in der erste[n] Seite der Keim des Ganzen stecken. Daher diese Sorge, diese Pusselei. [...]“

Theodor Fontane 18.8.1880 in einem Brief an den Redakteur Gustav Karpeles von Westermanns Monatshefte

Romananfang von Effi Briest

📖 S. 5: In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schattenerst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein großes, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und Rhabarberstaudenbesetzten Rondell warf. ... [...] → S. 6... Man nannte sie die »Kleine«, was sie sich nur gefallen lassen musste, weil die schöne, schlanke Mama noch um eine Handbreit höher war.

Arbeitsaufträge

  1. Zeichnen Sie eine Skizze des Wohnsitzes der Familie von Briest. Formulieren Sie ihre Gedanken über die mögliche symbolische Bedeutung der Raumgestaltung.
  2. Lesen Sie das erste Kapitel mit Blick auf die darin angelegte Symbolik und Metaphorik. Finden Sie Überbegriffe, denen Sie Symbole und Metaphern zuordnen können.

Hinweis: Der Schwerpunkt liegt in der ersten Aufgabe auf der Raumanalyse: Die Schülerinnen und Schüler erschließen den Handlungsraum als Stimmungs- und Symbolraum. In der zweiten Aufgabe wird der Blick auf die Symbolik und Metaphorik gerichtet. Die Schüler sollen Symbole und Metaphern ausfindig machen und anschließend verschiedenen Bereichen zuordnen. Zur Entlastung können mögliche Bereiche vorgegeben werden z.B. Gesellschaft, Kindheit/Natürlichkeit, Tod und Unglück, Freiheit, Gefahr, Sexualität.

 

Romananfang von Anna Karenina

📖 Erster Teil, Kapitel I, S. 7: Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise. [...]→ ... der Koch hatte gestern das Weite gesucht, noch während des Diners; Küchenmagd und Kutscher baten um Auszahlung.

Arbeitsauftrag:

Lesen Sie den Romananfang und führen Sie eine Wortfeldanalyse durch. Welche Thematik wird aufgerufen?

Hinweis: Der Schwerpunkt liegt auf der Wortfeldanalyse: Schülerinnen und Schüler erschließen die Thematik „Familie“. Ebenso wird ein wesentliches Motiv des Romans, das Glück und das Unglück, bereits im ersten Satz vorgestellt, das Gegenstand von Tolstois Roman ist und leitmotivisch in beiden großen „Erzählstränge“ – Lewin und Kitty – und – die Liebe zwischen Anna und Wronski bzw. die Ehesituation zwischen Anna und Karenin immer wieder aufgegriffen wird. Glück/Unglück gehört wie Liebe, Trauer und Schmerz zu den menschlichen Extremerfahrungen. Von Anfang an stellt der Roman die Frage: Was ist Glück bzw. Unglück denn genau? Der erste Satz, der das Glück an ein intaktes Familienleben bindet, liefert darauf eine Antwort. Indem Glück und Unglück im zweiten Teil des Romans zwischen dem Ehepaar Anna – Karenin und dem Liebespaar Anna – Wronski weiter aufgegriffen wird, spiegelt sich die Komplexität wider: Glück und Unglück hat viele Facetten und es setzt sich aus verschiedenen Dingen zusammen.

 

Romananfang von Madame Bovary

📖 Erster Teil, Kapitel 1, S. 11: Wir saßen im Arbeitssaal, als der Direktor hereintrat, gefolgt von einem Neuen in bürgerlichem Aufzug und einem Schuldiener, der ein großes Pult schleppte. [...]→ S. 14 ... „Und Sie, Neuer, Sie schreiben zwanzigmal das Verb ridiculus sum.

Arbeitsauftrag:

Wie wird die literarische Figur eingeführt? Erstellen Sie eine Charakteristik.

Hinweis: Der Schwerpunkt liegt auf der Figurendarstellung und der ersten Charakteristik von Charles Bovary. Er tritt als Schüler auf und wird gleich zur Lachnummer. Seinen Namen kann er nicht deutlich aussprechen – er wirkt beschränkt, lächerlich und wird als Witzfigur gestaltet. Die Einführungsszene ich geprägt von Komik.

 

Resümee

Arbeitsauftrag:

Formulieren Sie nach der Analyse aller Romananfänge Hypothesen zur weiteren Entwicklung. Halten Sie Ihre Überlegungen schriftlich fest.

Rechercheauftrag:

Stellen Sie den Inhalt der Romane vor. Arbeiten Sie dazu mit einschlägigen Nachschlagewerken (z.B. Kindler Literaturlexikon). Lassen Sie sich durch die Lehrkraft oder eine/n Bibliothekar/in beraten.

Hinweis: Die Aufgabe kann auch arbeitsteilig erfolgen. Eine gemeinsame Sicherung über Vorträge, schriftliche Resümees o.ä. sollte stattfinden.

 

Weltliteratur lesen: literarischer Vergleich: Herunterladen [docx][223 KB]

Weltliteratur lesen: literarischer Vergleich: Herunterladen [pdf][966 KB]

 

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