Zur Haupt­na­vi­ga­ti­on sprin­gen [Alt]+[0] Zum Sei­ten­in­halt sprin­gen [Alt]+[1]

Po­si­ti­on mit Teich­bei­spiel

Wer sich mo­ra­li­scher Ver­pflich­tun­gen ent­zieht, wird un­glück­lich

Der aus­tra­li­sche Phi­lo­soph Peter Sin­ger hat in einem Ge­spräch mit Bar­ba­ra Bleisch und Mi­cha­el Schefc­zyk von der Zür­cher Zei­tung über Welt­ar­mut und un­se­re mo­ra­li­schen Ver­pflich­tun­gen ge­spro­chen.

(...) In den letz­ten Jah­ren haben Sie sich haupt­säch­lich mit der Frage be­schäf­tigt, wozu wir den Ärms­ten die­ser Welt ge­gen­über ver­pflich­tet sind. Wel­che Po­si­ti­on ver­tre­ten Sie dies­be­züg­lich?

„Wenn ich einen Vor­trag über Welt­ar­mut und Ethik halte, be­gin­ne ich meis­tens mit einem Ge­dan­ken­ex­pe­ri­ment. Ich bitte meine Zu­hö­rer, sich vor­zu­stel­len, dass sie an einem Teich vor­bei­kom­men, in dem ein Kind er­trinkt. Es ist nie­mand an­de­res da, der hel­fen könn­te. Durch die Ret­tungs­ak­ti­on würde man al­ler­dings seine feine Klei­dung rui­nie­ren. Fast alle sind über­zeugt, dass man unter sol­chen Um­stän­den eine Pflicht hat, das Kind zu ret­ten, auch wenn man dabei seine teu­ren Schu­he op­fern muss.

Und nun frage ich, wie sich diese Si­tua­ti­on von der un­ter­schei­det, in der wir uns ge­gen­über den ärms­ten Be­woh­nern die­ser Erde be­fin­den.

Wür­den wir auf ein paar teure Kon­sum­gü­ter, die wir nicht un­be­dingt brau­chen, ver­zich­ten und den ent­spre­chen­den Geld­be­trag statt­des­sen spen­den, so könn­ten wir damit das Leben vie­ler Men­schen ret­ten.

Viele Leute wei­gern sich aber zu­zu­ge­ben, dass sie ge­gen­über den Ärms­ten der Welt Pflich­ten haben, die ver­gleich­bar sind mit der Pflicht ge­gen­über jenem er­trin­ken­den Kind im Teich.

Aus ethi­scher Sicht sehe ich je­doch kei­nen Un­ter­schied.“

Wel­che Ein­wän­de wer­den gegen Ihre Ana­lo­gie ins Feld ge­führt?

„Man­che be­zwei­feln, dass wir durch Spen­den wirk­sa­me Hilfe leis­ten kön­nen, und mei­nen, dass dies un­se­re Si­tua­ti­on von der im Teich-Bei­spiel ge­schil­der­ten un­ter­schei­det.

Ich halte die­ses Ar­gu­ment für vor­ge­scho­ben.

Bei aller be­rech­tig­ten Kri­tik kann kein ver­nünf­ti­ger Zwei­fel daran be­ste­hen, dass es Hilfs­wer­ke gibt, die einen ef­fi­zi­en­ten Bei­trag zur Lin­de­rung der Not leis­ten. Ich glau­be, der Um­stand, dass viele Leute beim Teich-Bei­spiel eine Hilfs­pflicht an­er­ken­nen, im Falle der Welt­ar­mut je­doch nicht, lässt sich er­klä­ren, aber nicht recht­fer­ti­gen.

Unser mo­ra­li­sches Emp­fin­den hat sich im Ver­lauf der Evo­lu­ti­on in Klein­grup­pen her­aus­ge­bil­det. Wir re­agie­ren stark auf Si­tua­tio­nen, in denen wir mit Not und Lei­den kon­fron­tiert sind. Ohne die­sen un­mit­tel­ba­ren Bezug ent­wi­ckeln die meis­ten Men­schen keine star­ken mo­ra­li­schen Emp­fin­dun­gen.

Wenn wir aber nach­den­ken, müs­sen wir zu­ge­ben, dass es mo­ra­lisch kei­nen Un­ter­schied macht, ob ein Kind hier vor mei­nen Augen oder viele tau­send Ki­lo­me­ter von mir ent­fernt in Not ist. 

Mein Grund­satz lau­tet: Wenn wir hel­fen kön­nen, ohne etwas op­fern zu müs­sen, das eine ver­gleich­ba­re mo­ra­li­sche Be­deu­tung hat wie das­je­ni­ge Gut, das ohne un­se­re Hilfe ver­lo­ren wäre, so soll­ten wir dies tun.“

Wem ge­gen­über sind wir ver­pflich­tet?

„Nun kann man un­ter­schied­li­cher Mei­nung dar­über sein, was ein «Gut von ver­gleich­ba­rer mo­ra­li­scher Be­deu­tung» ist. Eine könn­te bei­spiels­wei­se mei­nen, sie tue nichts gegen die Welt­ar­mut, weil sie so gut wie mög­lich für das Wohl ihrer ei­ge­nen Kin­der zu sor­gen habe.

Was ver­stehst du unter „Gut von ver­gleich­ba­rer mo­ra­li­scher Be­deu­tung”?

Na­tür­lich haben El­tern um das Wohl ihrer Kin­der be­sorgt zu sein. Aber es ist eine Frage des Maßes. Wenn die Be­vor­zu­gung der ei­ge­nen Kin­der ge­gen­über frem­den Kin­dern be­deu­tet, dass man meint, es sei bei­spiels­wei­se in Ord­nung, dem ei­ge­nen Kind ein teu­res Fahr­rad zu kau­fen, ob­wohl das alte noch brauch­bar ist, statt den ent­spre­chen­den Be­trag zu spen­den, um an­de­ren Kin­dern das Leben zu ret­ten: Dann würde ich sagen, eine sol­che Be­vor­zu­gung sei mo­ra­lisch nicht zu recht­fer­ti­gen. Der Grund ist ein­fach der, dass das Ret­ten eines Le­bens mo­ra­lisch wich­ti­ger ist als dem ei­ge­nen Kind eine Freu­de zu ma­chen. (...)“

Ist es nicht zu viel ver­langt, unser gan­zes Leben in den Dienst einer so for­dern­den Moral zu stel­len? Warum soll­te man das tun?

„Das kommt dar­auf an, wie man das Warum ver­steht. Eine Mög­lich­keit, die Frage zu ver­ste­hen, be­steht darin zu sagen: «Ich gebe zu, dass ich mo­ra­lisch ver­pflich­tet bin, mehr zu hel­fen, aber warum soll­te ich mo­ra­lisch sein?»

Eine an­de­re Mög­lich­keit, das Warum zu ver­ste­hen, be­strei­tet, dass man wirk­lich mo­ra­lisch ver­pflich­tet sei, so viel zu tun, wie ich ver­lan­ge.

Was den ers­ten Sinn be­trifft, so glau­be ich, kurz ge­sagt, dass das mo­ra­li­sche Leben ein glück­li­che­res Leben ist. Es bringt uns Zu­frie­den­heit und Selbstre­spekt, wenn wir das­je­ni­ge tun, von dem wir glau­ben, dass es mo­ra­lisch rich­tig ist.

Wenn sich aber je­mand auf den Stand­punkt stellt: «Ich will ein schö­nes Leben für mich haben, und die Pro­ble­me der an­de­ren in­ter­es­sie­ren mich nicht», fürch­te ich, kann man ihm nicht ar­gu­men­ta­tiv nach­wei­sen, dass er etwas Ir­ra­tio­na­les sagt.

Ich glau­be aber, dass Men­schen, die sich für ein nicht­mo­ra­li­sches Leben ent­schei­den, grö­ße­re Ge­fahr lau­fen, eines Tages zu er­ken­nen, dass sie ein sinn­lo­ses und letzt­lich un­glück­li­ches Leben ge­führt, ja dass sie ihr Leben ver­schwen­det haben.

Daher han­deln wir im wohl ver­stan­de­nen Ei­gen­in­ter­es­se un­se­rer Kin­der, wenn wir sie zur Moral er­zie­hen.“

Auf­ga­ben zum Text

  1. Worum geht es in dem Ge­dan­ken­ex­pe­ri­ment, das Sin­ger be­schreibt? (Z. 4-9)
  2. Wie soll­ten wir uns nach Sin­ger ge­gen­über den ärms­ten Be­woh­nern der Erde ver­hal­ten? (Z. 10-17)
  3. Wel­che Grün­de wer­den im Ge­spräch ge­nannt, die zu­nächst gegen Sin­gers For­de­rung spre­chen? (Z. 20-36)
  4. Wel­che Ge­gen­grün­de führt Sin­ger an? (Z. 37-51)
  5. Wo liegt für Sin­ger die Gren­ze der Hilfs­be­reit­schaft? (Z.38) Er­läu­te­re bitte.
  6. Was be­inhal­tet für Sin­ger ein glück­li­ches Leben? (Z. 60-70)

Quel­le: 2.6.2008 Neue Zür­cher Zei­tung (nzz.​ch )

Po­si­ti­on mit Teich­bei­spiel Her­un­ter­la­den [doc][147 KB]

Po­si­ti­on mit Teich­bei­spiel Her­un­ter­la­den [pdf][554 KB]