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Empathie und Erkenntnis

Interpretation und Textverständnis setzen neben den nötigen kognitiven Verarbeitungskapazitäten v.a. zwei unverzichtbare Grundhaltungen voraus, ohne die ein verstehendes Erschließen eines Textes nicht gelingen kann:

  1. ein möglichst gut ausgeprägtes Erkenntnisinteresse und
  2. die Fähigkeit zur Empathie.

Beide Komponenten sind entwicklungspsychologisch bedingt, beginnen entsprechend schon im Kinder- gartenalter sich zu entfalten. Ihre Ausprägungen werden begünstigt durch lebensweltliche, elterliche, aber auch schulische Angebote und können je nach Prägung dieser Einflussfaktoren reifen oder verküm- mern. Während das Erkenntnisinteresse als Disposition zur Texterschließung eine stabile intrinsische Motivationsbasis etabliert, die weitreichende Verstehensprozesse ermöglicht, bleibt eine Textbegegnung ohne Fähigkeit zu Empathie mit den dargestellten Figuren, d.h. zur temporären Übernahme von deren Perspektiven sowie zum kognitiven und emotionalen Nachvollzug von deren Sichtweisen und Proble- men, auf ein flüchtiges Zur-Kenntnis-Nehmen äußerer Sachverhalte beschränkt.

Büchner selbst gilt – wie viele namhaften Dichter – als höchst sensibler Mitleidender und Teilnehmer an den Nöten seiner Mitmenschen:

„Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zu- ckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel [...] Es sind die pro- saischsten Menschen unter der Sonne; aber die Gefühlsader ist in fast allen Menschen gleich, nur ist die Hülle mehr oder weniger dicht, durch die sie brechen muss. Man muss nur Aug’ und Ohr da- für haben“

„Man muss die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen.“

(Georg Büchner: Brief an die Familie vom 28.Juli 1835)

In diesen Sätzen formuliert Büchner sein poetisches Programm des ‚Mitempfindens‘ als produktionsäs- thetische Voraussetzung für realistische Literatur. Wenn Büchner im ‚Woyzeck‘ also das Leiden eines Menschen darstellt, so zielt er jenseits politisch-ideologischer Filter primär auf die Empathiefähigkeit der Rezipienten, die die hoffnungslose Lage Woyzecks’ – und mit ihm des Menschen in der ihn umgebenden Welt – verstehend nachempfinden können sollten. Hierin konvergieren die produktions- mit den rezep- tionsästhetischen Voraussetzungen, die Disposition des Autors mit der des Lesers / der Leserin. Ohne Auswege oder Lösungen anzubieten stellt Büchner das Leid als Grundproblem menschlichen Lebens in sozialen Zusammenhängen dar und wirft damit – lange vor Nietzsche und der literarischen Moderne – ein illusionsloses Licht auf die Trostlosigkeit des Daseins.

 

Georg Büchner: Woyzeck: Herunterladen [pdf][2 MB]

 

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