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Teil B

Men­schen ver­hal­ten sich ge­gen­über not­lei­den­den Men­schen un­ter­schied­lich und sie geben dafür un­ter­schied­li­che Grün­de an. Wie sehr über­zeu­gen uns diese Grün­de als Be­grün­dun­gen für das ei­ge­ne Ver­hal­ten und wor­auf be­ru­fen sie sich? Um einen sol­chen Be­grün­dungs­zu­sam­men­hang geht es im fol­gen­den Ge­spräch mit Peter Sin­ger.

Lies den fol­gen­den Text von Peter Sin­ger und be­ant­wor­te je­weils die mar­kier­ten Fra­gen, bevor du wei­ter­liest. Wenn du ein­zel­ne Be­grif­fe nicht ver­stehst oder du dir nicht wirk­lich etwas dar­un­ter vor­stel­len kannst, gibt es hilf­rei­che Er­klä­run­gen.

Peter Sin­ger, Hun­ger, Wohl­stand und Moral

„Ich be­gin­ne mit der An­nah­me, dass Lei­den und Tod auf­grund von Nah­rungs­mit­tel­man­gel, Ob­dach­lo­sig­keit und me­di­zi­ni­scher Un­ter­ver­sor­gung etwas Schlech­tes sind.“

Was denkst du? Stimmst du Peter Sin­ger zu? Mit wel­cher Be­grün­dung?

„Ich denke, die meis­ten wer­den hier­in über­ein­stim­men.  Auch wenn man auf un­ter­schied­li­chen Wegen zu die­ser An­sicht ge­lan­gen kann, und ich werde diese An­nah­me nicht wei­ter be­grün­den. (…) Wer damit nicht ein­ver­stan­den ist, kann auf eine Wei­ter­lek­tü­re ver­zich­ten.

Mein nächs­ter Punkt ist der fol­gen­de: Wenn es in un­se­rer Macht steht, etwas Schlech­tes zu ver­hin­dern, ohne dabei etwas von ver­gleich­ba­rer mo­ra­li­scher * Be­deu­tung zu op­fern, so soll­ten wir dies, mo­ra­lisch ge­se­hen, tun.

Mit „ohne etwas von ver­gleich­ba­rer mo­ra­li­scher Be­deu­tung zu op­fern”  meine ich, ohne etwas ver­gleich­bar Schlech­tes zu ver­ur­sa­chen oder etwas zu tun, das in sich schlecht ist, oder es zu un­ter­las­sen, etwas mo­ra­lisch Gutes zu be­för­dern, das von ver­gleich­ba­rer Be­deu­tung ist wie das Schlech­te, das wir ver­hin­dern kön­nen. Die­ses Prin­zip * er­scheint bei­nah eben­so un­kon­tro­vers * wie das letz­te.(…)“

Was genau meint Peter Sin­ger mit sei­nem Grund­satz? Kannst du ihn er­läu­tern?

Stimmst du Peter Sin­ger in die­sem Prin­zip zu? Kannst du dir etwas unter dem mo­ra­lisch Guten oder Schlech­ten vor­stel­len? (Wenn nicht, lies wei­ter, ob du eine Er­klä­rung fin­dest.)

„Wenn es in un­se­rer Macht steht, etwas sehr Schlech­tes zu ver­hin­dern, ohne dabei etwas von mo­ra­li­scher Be­deu­tung zu op­fern, so soll­ten wir dies, mo­ra­lisch ge­se­hen, tun. Eine An­wen­dung die­ses Prin­zips sieht wie folgt aus: Wenn ich an einem seich­ten Teich vor­bei­kom­me und ein Kind darin er­trin­ken sehe, so soll­te ich hin­ein­wa­ten und das Kind her­aus­zie­hen. Das bringt zwar mit sich, dass meine Klei­der schmut­zig und nass wer­den, aber das ist be­deu­tungs­los, wo­hin­ge­gen der Tod des Kin­des ver­mut­lich etwas sehr Schlech­tes wäre.“

Kannst du einen Zu­sam­men­hang er­ken­nen zwi­schen dem Teich­bei­spiel und dem Grund­satz von Sin­ger, dass wir etwas Schlech­tes ver­hin­dern sol­len, wenn wir dabei nichts von ver­gleich­ba­rer mo­ra­li­scher Be­deu­tung op­fern müs­sen?

„Der Schein, das eben ge­nann­te Prin­zip sei un­kon­tro­vers, trügt al­ler­dings. Wenn wirk­lich da­nach ge­han­delt würde, selbst in sei­ner ein­ge­schränk­ten Form, würde dies unser Leben, un­se­re Ge­sell­schaft und un­se­re Welt grund­le­gend ver­än­dern.“

Wie würde unser Leben aus­se­hen, wenn wir nach dem Prin­zip, das Sin­ger aus­führt, ver­hal­ten wür­den?

„Denn ers­tens be­rück­sich­tigt das Prin­zip den As­pekt der Nähe oder Dis­tanz nicht. Es ist mo­ra­lisch ir­re­le­vant, ob die Per­son, der ich hel­fen kann, ein 10 Meter von mir ent­fern­tes Nach­bars­kind ist oder ein Ben­ga­le, des­sen Namen ich nie­mals er­fah­ren werde, in 15.000 Ki­lo­me­ter Ent­fer­nung. Zwei­tens macht das Prin­zip kei­nen Un­ter­schied zwi­schen Fäl­len, in denen ich die ein­zi­ge Per­son bin, die etwas tun könn­te, und Fäl­len, in denen ich nur eine Per­son unter Mil­lio­nen in der­sel­ben Lage bin.“

Denkst du, dass es uns in un­se­rem Han­deln be­ein­flusst, ob ein Mensch in un­se­rer Nähe oder in einer grö­ße­ren Ent­fer­nung  lei­det? Hel­fen Men­schen eher dem Bett­ler in der ei­ge­nen Stadt als dem hun­gern­den Kind in Pa­kis­tan? Dür­fen dei­ner Mei­nung nach Nähe und Ent­fer­nung eine Rolle spie­len bei un­se­rer Hilfs­be­reit­schaft?

„Ich denke nicht, dass ich viel zur Ver­tei­di­gung der These sagen muss, dass Nähe und Dis­tanz keine Rolle spie­len. Die Tat­sa­che, dass eine Per­son uns phy­sisch nah ist, wir also per­sön­li­chen Kon­takt zu ihr haben, mag die Wahr­schein­lich­keit er­hö­hen, dass wir ihr hel­fen wer­den , doch be­weist dies nicht, dass wir ihr eher hel­fen soll­ten als ir­gend einer an­de­ren Per­son, die sich zu­fäl­li­ger­wei­se in grö­ße­rer Ent­fer­nung be­fin­det. Wenn wir ir­gend­ein Prin­zip der Un­par­tei­lich­keit * , Uni­ver­sa­li­sie­rung * , Gleich­heit oder der­glei­chen ak­zep­tie­ren, kön­nen wir einen Men­schen nicht be­nach­tei­li­gen, nur weil er sich weit weg von uns be­fin­det (oder wir uns weit weg von ihm).“

Stimmst du Sin­ger zu, dass wir einen Men­schen nicht be­nach­tei­li­gen dür­fen, nur weil er wei­ter ent­fernt von uns ist?  Be­grün­de deine Mei­nung.

„Es sei zu­ge­ge­ben, dass wir mög­li­cher­wei­se bes­ser in der Lage sind zu be­ur­tei­len, was getan wer­den muss, um einer Per­son in un­se­rer Nähe zu hel­fen als einer weit ent­fern­ten Per­son. Viel­leicht sind wir auch eher dazu in der Lage, die für nötig be­fun­den Hil­fe­leis­tung tat­säch­lich zu er­brin­gen. Wenn das der Fall wäre, wäre es ein Grund dafür, Men­schen in un­se­rer Nähe zu­erst zu hel­fen.“

Wel­chen Vor­teil könn­te es nach Sin­ger haben, wenn wir Per­so­nen in un­se­rer Nähe hel­fen?

„Frü­her mag dies eine Recht­fer­ti­gung dafür ge­we­sen sein, sich eher um die Armen in der ei­ge­nen Stadt zu küm­mern als um die Hun­ger­op­fer in In­di­en. Zum Un­glück derer, die ihre mo­ra­li­schen Ver­ant­wor­tung be­grenzt hal­ten möch­ten, haben die ge­wach­se­nen Kom­mu­ni­ka­ti­ons- und Trans­port­mög­lich­kei­ten die Si­tua­ti­on ver­än­dert. Von einem mo­ra­li­schen Stand­punkt aus be­trach­tet, be­deu­tet die Ent­wick­lung der Welt hin zu einem "glo­ba­len Dorf" einen wich­ti­gen Un­ter­schied für un­se­re mo­ra­li­sche Si­tua­ti­on, ob­wohl dies viele noch nicht an­er­ken­nen. Ent­wick­lungs­ex­per­ten und -be­ob­ach­ter, die von hu­ma­ni­tä­ren Or­ga­ni­sa­tio­nen * in Ge­bie­te, die von Hun­gers­nö­ten be­trof­fen sind, ent­sandt wer­den oder dau­er­haft in ge­fähr­de­ten Re­gio­nen sta­tio­niert sind, kön­nen un­se­re Hilfe bei­na­he so wirk­sam einem Flücht­ling in Ben­ga­len zu­kom­men las­sen wie wir einer Per­son in un­se­rem Wohn­block. Es scheint daher keine Recht­fer­ti­gung dafür zu geben, Per­so­nen aus geo­gra­phi­schen Grün­den zu dis­kri­mi­nie­ren.“

Er­läu­te­re, wes­halb es nach Sin­ger frü­her Grün­de dafür ge­ge­ben hat, eher den Armen im di­rek­ten Um­feld zu hel­fen, diese Grün­de aber heute nicht mehr gel­ten.

„Stär­ker recht­fer­ti­gungs­be­dürf­tig mag die zwei­te Im­pli­ka­ti­on * mei­nes Prin­zips sein – das die Tat­sa­che, dass es Mil­lio­nen von an­de­ren Men­schen gibt, die sich in Bezug auf die ben­ga­li­schen Flücht­lin­ge in der­sel­ben Lage be­fin­den wie ich, diese Si­tua­ti­on nicht si­gni­fi­kant von einer Si­tua­ti­on un­ter­schei­det, in der ich die ein­zi­ge Per­son bin, die etwas sehr Schlech­tes ver­hin­dern kann.“

Fasse die zwei­te in­di­rek­te Fol­ge­rung Sin­gers zu­sam­men und über­le­ge, ob du ihr zu­stimmst.

„Ich gebe na­tür­lich wie­der­um ohne wei­te­res zu, dass sich die bei­den Fälle in psy­cho­lo­gi­scher Hin­sicht von­ein­an­der un­ter­schei­den; man fühlt sich we­ni­ger schul­dig, nichts getan zu haben, wenn man auf an­de­re in der­sel­ben Lage zei­gen kann, die eben­falls nichts getan haben. Doch kann dies für un­se­re mo­ra­li­schen Ver­pflich­tun­gen kei­nen wirk­li­chen Un­ter­schied ma­chen. Soll­te ich etwa der Mei­nung sein, dass ich we­ni­ger dazu ver­pflich­tet bin dass er­trin­ken­de Kind aus dem Teich zu zie­hen, wenn ich an­de­re Men­schen sehe, nicht wei­ter ent­fernt als ich, die das Kind eben­falls be­merkt haben und keine An­stal­ten ma­chen ein­zu­grei­fen? Man muss nur diese Frage stel­len, um zu be­grei­fen, wie ab­surd die An­sicht ist, die An­zahl der Ver­pflich­te­ten min­de­re die Ver­pflich­tung.“

Wie denkst du über sein Bei­spiel und die Schluss­fol­ge­rung, die er dar­aus zieht?

„Es han­delt sich dabei um eine An­sicht, die eine idea­le Ent­schul­di­gung für Ta­ten­lo­sig­keit ab­gibt. Un­glück­li­cher­wei­se stel­len die meis­ten gro­ßen Übel – Armut, Über­völ­ke­rung, Um­welt­ver­schmut­zung – Pro­ble­me dar, in die bei­nah alle glei­cher­ma­ßen in­vol­viert * sind.“

Stimmst du Sin­ger zu, dass Men­schen sich nur her­aus­re­den, um Not­lei­den­den nicht zu hel­fen, wenn sie ar­gu­men­tie­ren, dass an­de­re es auch nicht tun? Be­grün­de deine Mei­nung.

(Peter Sin­ger äu­ßert sich aus­schließ­lich zu un­se­rer Pflicht, not­lei­den­den Men­schen zu hel­fen und dafür auch unser Leben zu än­dern, nicht aber zu den Ur­sa­chen der Welt­ar­mut. Man­che Men­schen den­ken, dass die Län­der, in denen große Armut herrscht, selbst Schuld sind. An­de­re wie­der­um ar­gu­men­tie­ren, dass die Län­der der west­li­chen Welt zu einem gro­ßen An­teil mit­ver­ant­wort­lich für die Welt­ar­mut sind. Lest dazu die bei­den Texte von Tho­mas Pogge und be­ar­bei­tet die da­zu­ge­hö­ri­gen Auf­ga­ben.)

(aus: Sin­ger, Peter (1972/2007): Hun­ger, Wohl­stand und Moral. In: Bleisch/Scha­ber (Hg.): Welt­ar­mut und Ethik, Men­tis Ver­lag, Pa­der­born 2007, S. 37-51)

Sach­text: Her­un­ter­la­den [doc][54 KB]

Sach­text: Her­un­ter­la­den [pdf][684 KB]

Wei­ter zu Teil C, D, E


*   Be­griffs­klä­rung zu Peter Sin­ger