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Zu­satz­ma­te­ri­al

Vir­tu­al Rea­li­ty: „Ich war so er­schöpft wie nach einem Lang­stre­cken­flug“

(Aus­schnitt aus einem Ar­ti­kel von Chris­ti­an Weber in der Süd­deut­schen Zei­tung am 5. Fe­bru­ar 2017)

Mit 3-D-Bril­len wer­den wir bald in frem­de Wel­ten ein­tau­chen kön­nen. Aber was, wenn wir nicht wie­der auf­tau­chen? Über die Ne­ben­wir­kun­gen einer schö­nen neuen Welt.

Am 22. März 2014 setz­te sich Frank Stei­ni­cke, 37 Jahre, Pro­fes­sor für Mensch-Com­pu­ter-Be­zie­hun­gen von der Uni­ver­si­tät Ham­burg, eine hoch­auf­lö­sen­de 3-D-Bril­le auf und begab sich für 24 Stun­den in die vir­tu­el­le Welt, un­ter­bro­chen nur von we­ni­gen kur­zen Pau­sen. Es war keine Reise in eine Welt feuer¬spei­en­der Dra­chen und Ali­ens mit Strah­len­waf­fen. Stei­ni­cke konn­te le­dig­lich zwi­schen zwei vir­tu­el­len Orten wech­seln, einer schlich­ten Woh­nung und einer tro­pi­schen Insel mit Pal­men­strand. Zudem be­fand er sich die meis­te Zeit auf einer Liege. Nicht ge­ra­de ex­trem. Und trotz­dem war der 24-Stun­den-Aus­flug eine ir­ri­tie­ren­de Er­fah­rung. „Ich war so er­schöpft wie nach einem Lang­stre­cken­flug, ob­wohl ich ge­nü­gend Schlaf hatte“, sagt Stei­ni­cke heute. So litt er stark unter der Si­mu­la­tor-Krank­heit, einer Übel­keit, die bei vie­len Men­schen ent­steht, wenn die Be­we­gun­gen des Kör­pers nicht exakt mit den vi­su­el­len Ein­drü­cken kor­re­spon­die­ren. Ei­ni­ge Male war er sich un­si­cher, ob er sich ge­ra­de in der rea­len oder der vir­tu­el­len Welt be­fand. Als auf der Insel die Sonne un­ter­ging, be­schwer­te sich Stei­ni­cke über auf­kom­men­de Kälte, dabei war die Tem­pe­ra­tur im Ver­suchs­raum kon­stant.

Das Ham­bur­ger Ex­pe­ri­ment lie­fer­te In­di­zi­en, dass Lang­zeit­auf­ent­hal­te in vir­tu­el­len Wel­ten Ne­ben­wir­kun­gen haben kön­nen. Wie bei allen gro­ßen tech­no­lo­gi­schen In­no­va­tio­nen haben sich be­reits die Heils­ver­spre­cher und die Apo­ka­lyp­ti­ker po­si­tio­niert. Die einen ver­spre­chen wun­der­ba­re An­wen­dun­gen in Wirt­schaft, Wis­sen­schaft, Bil­dung und En­ter­tain­ment. Die an­de­ren war­nen vor Lang­zeit­fol­gen für die Psy­che und Es­ka­pis­mus. Wahr­schein­lich haben beide Grup­pen recht.

[Es] ist ge­fähr­lich, wenn star­ke Im­mer­si­on einen Men­schen tat­säch­lich ver­än­dern kann, zum Guten wie zum Schlech­ten. Wenn VR Hö­hen­angst dämp­fen kann, dann viel­leicht auch die Hem­mun­gen, an­de­ren Men­schen aus Fleisch und Blut etwas an­zu­tun. Un­klar ist, wie lange Auf­ent­hal­te im vir­tu­el­len Raum - selbst bei un­pro­ble­ma­ti­schen In­hal­ten - den Geist be­ein­träch­ti­gen. So weiß man aus Träu­men, dem Phä­no­men des Phan­tom­schmer­zes und Out-of-Body-Er­fah­run­gen, dass die Kör­per­wahr­neh­mung nicht hun­dert­pro­zen­tig sta­bil ist. Was kann da erst pas­sie­ren, wenn Men­schen sich stun­den­lang in den Kör­pern von Ava­taren auf­hal­ten?

Lang­zeit­stu­di­en zu den Ne­ben­wir­kun­gen von VR-Auf­ent­hal­ten sind über­fäl­lig. Auch wenn Fach­leu­te über die Dia­gno­se strei­ten, spricht der Ärzt­li­che Psy­cho­the­ra­peut Bert te Wildt von der Uni­ver­si­tät Bo­chum von min­des­tens 600 000 In­ter­net-Süch­ti­gen in Deutsch­land - „mit der VR wird die Welt­flucht noch zu­neh­men.“; Das hat ihm zu­letzt der Be­such der Spie­le­mes­se Ga­mes­com klar­ge­macht, als er selbst, ein Hö­hen­pho­bi­ker, in einen VR-Raum ein­tauch­te und auf einer schwe­ben­den Platt­form in einer rie­si­gen Halle mit einem kon­kur­rie­ren­den Ava­tar Fris­bee spiel­te: „Ich war völ­lig ge­flasht, ein Rau­sch­er­leb­nis, wie ich es noch nie er­lebt hatte, mir sträu­ben sich noch jetzt die Na­cken­haa­re.“ Ge­ra­de des­halb stellt er eine wei­te­re Frage: „Was ist ei­gent­lich, wenn ich aus dem po­si­ti­ven Rausch in ein emo­tio­nal und so­zi­al we­sent­lich är­me­res Re­al­le­ben zu­rück muss?“ Was wird mit denen sein, die aus der Ödnis ihres Le­bens flie­hen wol­len? Denen die Be­nut­zer­ober­flä­che der her­kömm­li­chen Welt nicht ge­nügt?

(C) SZ vom 04.02.2017/avr in Süd­deut­sche Zei­tung (ge­kürzt und sprach­lich leicht an­ge­passt).

Auf­ga­ben

  1. EA: Ar­bei­te her­aus, wel­che Fol­gen eines län­ge­ren „Auf­ent­halts“ in der Vir­tu­el­len Rea­li­tät Ex­pert*innen be­fürch­ten.
  2. For­mu­liert zu zweit (auch aus eurer ei­ge­nen Er­fah­rung) Grün­de, wel­che die Be­fürch­tun­gen der Ex­pert*innen be­stä­ti­gen oder ihnen wi­der­spre­chen.

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