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Didaktik

Begriffe als Herausforderung

Der Bildungsplan Geschichte enthält für die Kursstufe eine enorme Anzahl an Begriffen: Einige Standards sind mit mehr als zehn Begriffen, manche mit mehr als 15, in einem Fall mit mehr als 20 Begriffen (3.4.4 [7]) versehen. Insgesamt ergibt sich für den zweistündigen Kurs eine Anzahl von über 200, für den fünfstündigen Kurs von über 300 Begriffen.

Der in den Leitgedanken formulierte Anspruch, dass die Schülerinnen und Schüler die Begriffe „beherrschen und sachgerecht sowie problemorientiert verwenden“ (S. 9) können, stellt allein aufgrund dieser Anzahl eine große Herausforderung dar. Anliegen des vorliegenden Papiers ist es, auf Grundlage einer aktuellen fachdidaktischen Veröffentlichung Anregungen zu einem konstruktiven Umgang mit der Begriffsvielzahl des Bildungsplans zu geben.

Grundlagen

Die Thematik „Begriffe im Geschichtsunterricht“ wurde in der didaktischen Literatur bislang weitgehend vernachlässigt. Nun aber liegt eine Veröffentlichung von Michael Sauer vor,1 in der er seine Anregungen aus dem Geschichte-Lernen-Heft „Begriffe“2 konsequent fortführt. Aus dem schmalen Bändchen finden sich im Folgenden einige Basisinformationen zu Geschichtsbegriffen, Begriffslernen und Begriffsarbeit im Geschichtsunterricht zusammengestellt.

Geschichtsbegriffe

„Der Terminus [Geschichtsbegriffe] meint [...] die Gesamtheit der Begriffe, die im Zusammenhang von Geschichte Verwendung finden. Die übliche Bezeichnung ‚historische Begriffe’ ist insofern irreführend, als sie sich nur auf in der Vergangenheit entstandene Begriffe bezieht."
Sauer, M.: Begriffslernen und Begriffsarbeit im Geschichtsunterricht, Frankfurt/M. 2019; Rezension zu dieser Veröffentlichung in: gfh 1 (2020), S. 8.

Typologie nach Rohlfes

Begriff ist nicht gleich Begriff. Nach wie vor hilfreich ist die Typologie von Joachim Rohlfes, der fünf Begriffstypen mit zunehmender Komplexität und Reichweite voneinander unterscheidet:

  • „Symbolische Begriffe: Eigennamen von Personen, Orten, Bauwerken (wenngleich es sich dabei formallogisch nicht um Begriffe handelt)
  • Gegenstands- und funktionsbezogene Begriffe: Patrizier, Konsul, Kloster, Mönch, Manufaktur, Fabrik
  • ‚Begriffe, die komplexe Funktionszusammenhänge bezeichnen’: Stadt, Prinzipat, Kolonie
  • ‚Begriffe, die Geschehenszusammenhänge bezeichnen’: Investiturstreit, Wiener Kongress, Epochenbezeichnungen
  • ‚Deutungsbegriffe zeichnen sich durch einen erheblichen Theorieanteil aus’: Feudalismus, Imperialismus, Emanzipation“3

Die genannten Typen sind freilich nicht trennscharf und sicher lassen sich nicht alle Begriffe zweifelsfrei einem bestimmten Typ zuordnen. Das Modell bietet aber eine Grundorientierung. Und: „Deutlich wird auf alle Fälle, dass wir es mit einem weiten Spektrum zu tun haben, welches von schlichten Benennungen bis zu Theoriebegriffen reicht, hinter denen außerordentlich komplexe Konzepte stehen.“4

Bezogen auf die eingangs dargestellte Herausforderung lässt sich festhalten, dass allein die Anzahl an Begriffen nur bedingt aussagekräftig ist – Begriff ist eben nicht gleich Begriff. Die unterschiedliche Komplexität von Begriffen muss sich in Konsequenz auch im Umgang mit denselben, also in der konkreten Begriffsarbeit, niederschlagen.

Teilkompetenzen nach Alavi

Für die Begriffsarbeit gibt es teilweise äußerst elaborierte Modelle mit unterschiedlichen Phasen bzw. Operationen. Für zentrale (Deutungs-)Begriffe mag ein solches strukturiertes und aufwändiges Verfahren angebracht sein,5 für die überwiegende Mehrheit der Begriffe und für den Unterrichtsalltag dagegen nicht.

Pragmatisch ist dagegen die Systematisierung von Bettina Alavi, die „ein nach Anforderungsniveaus gestuftes ‚Menü’ von möglichen Operationen, die bei passender Gelegenheit durchgeführt werden können“6, vorschlägt:

  • „Begriffserwerb
    • Begriffsinhalt mit eigenen Worten erklären können (Wortherkunft, Semantik)
    • Mit der Nennung des Begriffs Wissen (Merkmale, historische Zusammenhänge, in denen der Begriff relevant ist), Vorstellungen (Anschauungen, Beispiel) und Wertungen (positiv/negativ, angemessen/unangemessen, angenehm/unangenehm etc.) abrufen und einbringen können
  • Begriffsgebrauch
    • Begriff adäquat verwenden können
    • Begriff in neue historische Zusammenhänge einbringen können
    • Den erworbenen Begriff erweitern können (z. B. Revolution: französische, industrielle)
    • Begriff von anderen unterscheiden können (Kenntnis des Begriffsfeldes)
    • Zusammenhänge zwischen dem Begriff und anderen Begriffen herstellen können (z. B. Kausalbeziehungen, zeitliche oder räumliche Beziehungen)
  • Begriffskritik
    • Kritisches Einschätzen der Leistungsfähigkeit eines Begriffs“7

Der bereits zitierte Anspruch des Bildungsplans lautet, dass die Schülerinnen und Schüler die Begriffe „beherrschen und sachgerecht sowie problemorientiert verwenden“ (S. 9) können. Eine Problematisierung – also das ganze „Menü“ – ist natürlich vor allem bei Deutungsbegriffen oder propagandistischen zeitgenössischen Begriffen erforderlich,8 bei weniger komplexen Begriffen (s.o: Typologie nach Rohlfes) reicht dagegen der schlichte „Erwerb“ des Begriffs.

Lernbegriffe – Arbeitsbegriffe

Die im vorigen Punkt dargelegte Abstufung der zu erwerbenden Teilkompetenzen kann die Begriffsarbeit im Unterricht entlasten. Mit der Unterscheidung von „Lernbegriffen“ und „Arbeitsbegriffen“ wird dieser Punkt konsequent weitergedacht:

„Was sind Begriffe, die für das Verständnis zentraler historischer Phänomene und Prozesse unentbehrlich sind und langfristig gelernt und beherrscht werden sollten? Gibt es Begriffe, über die Schülerinnen und Schüler verfügen sollten, um am öffentlichen politischen Diskurs teilhaben oder geschichtskulturellen Phänomenen angemessen begegnen zu können (‚Demokratie’ / ‚Diktatur’, ‚Antisemitismus’)? Und wo handelt es sich um Arbeitsbegriffe, die im Kontext eines einzelnen Themas wichtig sind, aber nicht dauerhaft verfügbar sein müssen?“
Sauer, M.: Begriffslernen und Begriffsarbeit im Geschichtsunterricht, Frankfurt/M. 2019; Rezension zu dieser Veröffentlichung in: gfh 1 (2020), S. 23.

Auch diese Unterscheidung kann die konkrete Begriffsarbeit im Unterricht entlasten – und sogar befruchten, indem die Frage, welches die zentralen Begriffe einer Unterrichtseinheit sind, „durchaus auch einmal exemplarisch mit Schülerinnen und Schülern der Oberstufe diskutiert“9 wird. In diesem Sinn kann die Auseinandersetzung mit und die Diskussion von Begriffen nicht nur eine lästige und unerlässliche Bürde darstellen, sondern auch eine echte Chance.

Lernbegriffe – „Pensum-Begriffe“

In seiner Veröffentlichung zum Begriffslernen und zur Begriffsarbeit geht Michael Sauer auf die Bildungspläne verschiedener Bundesländer ein und gelangt zu folgender Feststellung:

„Vielfach bleibt auch unklar, ob genannte Begriffe tatsächlich als verbindliche Lernbegriffe zu verstehen sind oder ob sie lediglich das thematische Pensum stichwortartig beschreiben sollen.“
Sauer, M.: Begriffslernen und Begriffsarbeit im Geschichtsunterricht, Frankfurt/M. 2019; Rezension zu dieser Veröffentlichung in: gfh 1 (2020), S. 20.

Auf den baden-württembergischen Bildungsplan Geschichte mit seinen jeweils mehreren hundert Begriffen für die Sekundarstufe I und II trifft häufig wohl Zweiteres zu. Ganz in diesem Sinn lässt sich der Hinweis in den Leitgedanken lesen: „[...] Teilkompetenzen [...] werden konkretisiert durch Begriffe in Klammern.“ (S. 9) Handelt es sich bei Begriffen aber eindeutig um reine „Pensum-Begriffe“ (siehe Beispiele unten), dann erfordern diese auch keinen aufwändigen Umgang – sie sind lediglich zu verstehen als Konkretisierungen der inhaltsbezogenen Kompetenzen.10

 

1 Sauer, M.: Begriffslernen und Begriffsarbeit im Geschichtsunterricht, Frankfurt/M. 2019; Rezension zu dieser Veröffentlichung in: gfh 1 (2020), S. 137f.

2 GL 168 (2015)

3 Rohlfes, J.: Geschichte und ihre Didaktik, Göttingen 1986, 3. und erw. Aufl. 2005, S. 71f., zit. nach: Sauer (2019), S. 8f.

4 Sauer (2019), S. 9.

5 Vgl. etwa die Modelle von Grzesik (1988) und Ventzke (2011), vorgestellt in: Sauer (2019), S. 24-30.

6 Ebd., S. 31; das vorgeschlagene Modell stammt von: Alavi, B.: Begriffsbildung im Geschichtsunterricht, in: Uffelmann, U. / Seidenfuß, M. (Hgg.): Verstehen und Vermitteln, Idstein 2004, S. 39-61.

7 Alavi (2004), S. 41, zit. aus: Sauer (2019), S. 30f.

8 So sieht es etwa der niedersächsische Bildungsplan vor, siehe: Sauer (2019), S. 20.

9 Sauer, M.: Begriffslernen und Begriffsarbeit im Geschichtsunterricht, Frankfurt/M. 2019; Rezension zu dieser Veröffentlichung in: gfh 1 (2020), S. 23.

10 Sauer vergleicht die Vorgaben explizit zu lernender Begriffe unterschiedlicher Bildungspläne (Sekundarstufe I) miteinander. Im Ergebnis führt Baden-Württemberg die Liste mit 500 Begriffen für die gesamte Sekundarstufe I an, mit weitem Abstand folgt Bayern mit etwa 100 Begriffen. „Bei Größenordnungen wie in Baden-Württemberg oder Bayern dürfte das [die Beherrschung der Begriffe, A. K.] nicht zu leisten sein.“ (ebd., S. 23)

 

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