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Didaktische Hinweise

Für die Gestaltung einer Unterrichtseinheit zum Thema Dekolonisation / Dekolonisierung sind drei didaktische Prinzipien von besonderer Wichtigkeit:

(1) Gegenwartsbezug. Dekolonisierung ist ein Vorgang, der „bis heute weiterwirkt“25. Ohne diesen Prozess lässt sich die globale Weltordnung von heute im Allgemeinen, lassen sich damit verbundene Problemlagen im Besonderen nicht verstehen. Das Thema erfordert daher zwingend einen konsequenten Gegenwartsbezug und ist, didaktisch gewendet, besonders zur Förderung und Entwicklung der Orientierungskompetenz geeignet.

(2) „Exemplarität“. Dekolonisierung war ein ungemein vielgestaltiger Prozess und für jeden Einzelfall war eine Vielzahl an Faktoren in besonderer Kombination prägend. Dies bedeutet, dass immer wieder Einzelfälle in den Blick genommen werden müssen, um, in vergleichender Perspektive, zu vorsichtigen Verallgemeinerungen zu gelangen.

(3) „Multiperspektivität“. Dieser Punkt hängt eng mit dem vorherigen zusammen: Nur die Integration unterschiedlicher Perspektiven kann der Komplexität und Vielgestaltigkeit des Vorgangs gerecht werden: unterschiedliche Perspektiven räumlicher und zeitlicher Art, konkret bezogen auf die Akteure, Ursachen und Folgen in den Metropolen und den Kolonien, auf Strukturen und Personen, auf historische und gegenwärtige Entwicklungen usw.

Wie diese Prinzipien in die Unterrichtspraxis überführt werden können, soll im Folgenden anhand zweier konkreter Stundenkonzeptionen – es handelt sich um zwei mögliche Einführungsstunden (siehe Sequenzplanung) – skizziert werden.

Einführung (1) – Von der kolonialen Weltordnung über die Dekolonisation zur Gegenwart

Sachlogischer Ausgangspunkt der Unterrichtseinheit bildet die koloniale Weltordnung, wie es auch der Bildungsplan im ersten Standard 3.4.7/8 (1) über den Begriff „Kolonialismus“ nahelegt.26 Die Untersuchung des Phänomens erfolgt schwerpunktmäßig durch die „Gegenwartsbrille“ und dadurch perspektiviert27: Analog zu einer Kontroverse aus „DIE ZEIT“28 lautet die Fragestellung, inwieweit Kolonialismus und Dekolonisierung für aktuelle globale Problemlagen verantwortlich gemacht und als Erklärung herangezogen werden können. Mit dieser Fragestellung wird eine Analyse- und Urteilsperspektive für die gesamte Unterrichtseinheit aufgeworfen.

Mit der „historischen Brille“ charakterisieren die SuS zuvor die koloniale Weltordnung um 1900, die – im Groben – den Ausgangspunkt der Dekolonisation darstellt, und setzen sich mit zentralen Begrifflichkeiten sowie Bildimpulsen auseinander, die verdeutlichen, dass Kolonialismus mehr als ein Herrschaftsphänomen war. Dieser Input ist deshalb notwendig, weil Kolonialismus und Imperialismus im Bildungsplan der drei vorausgehenden Halbjahre keine Rolle spielen und somit lediglich auf Vorwissen aus den Klassen 8-10 zurückgegriffen werden kann.

Einführung (2) – Fallbeispiel Belgisch-Kongo

Das Foto „Der Degendieb von Léopoldville“ gilt als eine Bildikone, in der sich der Vorgang der Dekolonisation in dramatischer Weise verdichtet: etwa Kolonialherrschaft, Freiheitsdrang, Emanzipation, Verhältnis zwischen Metropole und Kolonie.29 Ausgehend von dem Bild und der entsprechenden Fotoreportage untersuchen die SuS das Fallbeispiel Belgisch-Kongo.30 Dabei wird in einem ersten Schritt der formalrechtliche Aspekt – transfer of power – in den Blick genommen (Dekolonisation als Moment): die Übergabe der Regierungsgewalt an die einheimischen Politiker am 30.6.1960; über den Vergleich der Reden des Königs der Belgier, Baudouin I., und des ersten kongolesischen Premierministers, Patrice Lumumba, lassen sich beispielhaft die unterschiedlichen Perspektiven und Bewertungen der Machtübergabe und der kolonialen Vergangenheit analysieren. 31 In einem zweiten Schritt wird der Vorgang in einen größeren Kontext eingebettet (Dekolonisierung als Prozess: Rückblick in die koloniale Vergangenheit und Ausblick auf die weiteren Entwicklungen bzw. den Stand heute). Eine genaue Analyse des Jahrhundertfotos stellt eine mögliche Vertiefung zur Schulung der Methodenkompetenz dar.

In einer weiteren Stunde kann an dieser Stelle oder am Ende der Unterrichtseinheit Belgiens erinnerungskultureller Umgang mit seiner kolonialen Vergangenheit untersucht – und ggf. mit dem Umgang Deutschlands mit seinem kolonialen Erbe verglichen – werden: Denkmäler und Museen bieten hierfür lohnende Ausgangspunkte, aber auch Auszüge aus einem nach wie vor aufgelegten Comic fordern zur Urteilsbildung heraus. Diese Vertiefungen dienen damit vor allem der Förderung der Reflexions- und Orientierungskompetenz.

Das Fallbeispiel versteht sich als Konkretisierung der in der ersten Einführungsstunde verhandelten Sachverhalte, indem ein Blick auf die für die Dekolonisation bzw. Dekolonisierung konstitutiven Elemente, auf Makrokontexte, Perspektiven, Rechtfertigungen, Bewertungen und Folgen geworfen wird. Das Beispiel kann damit auch als Vergleichsfolie für weitere Fallstudien der Unterrichtseinheit dienen. Um dabei überhaupt zu vergleichbaren Ergebnissen und (vorsichtigen) Verallgemeinerungen zu gelangen, kann über das Fallbeispiel ein entsprechendes Analyseraster quasi als „Werkzeugkasten“ eingeführt werden.

25 Bildungsplan 2016, Stufenspezifische Hinweise, S. 13.

26 Grundlegend zum Kolonialismus: Osterhammel, J. / Jansen, J. C.: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 72012; mit dezidiertem Blick auf Europa: Metzler, IpB 338/2018; zu zentralen Aspekten der Diskussion (z. B. Begriffe, Legitimationen, Neokolonialismus, antikoloniale Bewegungen, Erinnerungen) auch: APuZ 44-45/2012.

27 Diese Perspektivierung folgt der Denkfigur des Bildungsplans: „Aktuelle Probleme postkolonialer Räume in historischer Perspektive“; vgl. auch die Ausführungen in den „Stufenspezifischen Hinweisen“ (Bildungsplan, S. 13).

28 DIE ZEIT, Nr. 32 und Nr. 34 (beide 2018); Textauszüge in: Metzler, IpB 338/2018, S. 81.

29 Zum Foto: Paul, G. (Hg.): Das Jahrhundert der Bilder. 1949 bis heute, Göttingen 2008, S. 243-248.

30 Zum Fallbeispiel Belgisch-Kongo v.a.: Bode, M.: Der Weg ins Chaos. Die Unabhängigkeit von Belgisch-Kongo, in: Geschichte lernen, Heft 99: Entkolonisierung (2004), S. 52-58; vgl. auch: Jansen / Osterhammel: Dekolonisation, S. 77f.; Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestags: Demokratische Republik Kongo – Ausgewählte Aspekte der Geschichte: https://www.bundestag.de/blob/551676/a6163fa29693f6ed9cd3ac76af3c5c9a/wd-1-006-18-pdf-data.pdf; eine eindrückliche Schilderung insb. der Verbrechen während der Kolonialzeit bei: Blom, P.: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914, München 22011, S. 120ff.

31 Insb.: Van Nieuwenhuyse, K. / Goddeeris, I.: Die Reden von Baudouin I. und Patrice Lumumba am 30. Juni 1960, dem kongolesischen Unabhängigkeitstag – zur Diskussion, in: Fenske, U. / Groth, D. / Guse, K.-M. / Kuhn, B. P. [Hgg.]: Kolonialismus und Dekolonisation in nationalen Geschichtskulturen und Erinnerungspolitiken in Europa, Frankfurt a. M. 2015, S. 159-170.

 

 

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