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Sachanalyse

„In keinem anderen Jahrhundert dürfte die Vielfalt politischer Formen größer gewesen sein als im neunzehnten.“ (Osterhammel, 818) So charakterisiert Osterhammel die große Vielfalt von Staatsformen, die von kleinen Gemeinschaften bis zu Imperien und Nationalstaaten reicht, darunter auch der „europäische Kolonialstaat in Übersee“. Dessen Zusammenbruch in Nordamerika bringt eine Staatsform hervor, die im 20. Jahrhundert in großen Teilen der Welt zur Norm werden wird - den „republikanischen Verfassungsstaat“ (Osterhammel, 819). Ideen der europäischen Aufklärung beeinflussen und legitimieren den Aufstand der Siedler gegen das als Unterdrücker empfundene England und begründen ihre Abtrennung in der 1776 unterzeichneten Unabhängigkeitserklärung. Die Chance auf einen Neubeginn führt zu grundsätzlichen Fragen, wie der neue Staat, das Verhältnis zwischen Zentralregierung und den Einzelstaaten, die Zugehörigkeit zum Staatswesen und die Rechte der Bürger verfasst sein sollen. Bei Fertigstellung der Verfassung sind viele dieser Fragen nicht geklärt, was im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer wieder Krisen auslöst, die unter anderem im Bürgerkrieg 1861-65 kulminieren.

Die Entwicklung des neuen Staates im 19. Jahrhundert ist als hochgradig dynamisch anzusehen. Aufgrund der schnellen territorialen Ausdehnung, des Wirtschaftswachstums und des im Vergleich zu Europa scheinbar für jeden erreichbaren gesellschaftlichen Aufstiegs, vorhandener Grundrechte und großer politischer Teilhabemöglichkeiten für weiße Männer sind die Vereinigten Staaten für viele das Land der „unbegrenzten Möglichkeiten“. Am Ende des 19. Jahrhunderts steigen die USA nicht nur zur politischen und wirtschaftlichen Großmacht auf, sondern sie beginnen das 20. Jahrhundert als kommende Weltmacht. Betrachtet man die Entwicklung der Vereinigten Staaten auf der Basis dieser Entwicklung, lassen sich in den USA alle typischen Kennzeichen der „Moderne“ nachweisen, die während und durch die „Doppelrevolution“ der politischen und Industriellen Revolution entstehen: Entwicklung einer Industrie- und Klassengesellschaft, Bevölkerungswachstum, Verstädterung, soziale Mobilität und Diversifizierung, Konsumgesellschaft und zunehmende politische Partizipation. Genauso wenig wie in Europa verläuft der Modernisierungsprozess in den USA linear. Trotz des erst im 20. Jahrhundert als „American Dream“ beschriebenen Selbstverständnisses, das in den USA ein vorbildliches Staatswesen sieht, welches jedem „liberty and pursuit of happiness“ ermöglicht, lassen sich die Schattenseiten nicht übersehen, die sich in Demokratiedefiziten (Ausschluss großer Bevölkerungsgruppen von politischer Beteiligung) und wirtschaftlicher Not großer Teile der Industriearbeiterschaft und Kleinunternehmer während des durch Großunternehmen und Wirtschaftskrisen geprägten „Gilded Age“ der 1870/80er zeigen.

Andererseits setzt sich bereits in den 1830ern eine Vorstellung von Demokratie („Jacksonian Democracy“) durch, die nicht mehr Besitzbürger und Wahlmänner, sondern einzelnen Bürger in den Mittelpunkt stellt, die im Sinne der Selbstregierung direkt Wahlmänner, Gouverneure, Richter, Sheriffs und gegen Ende des Jahrhunderts auch Senatoren wählen. „Das was später in Europa „Massendemokratie“ genannt werden sollte, entstand in den USA bereits während der 1820er und 1830er Jahre." (Osterhammel, 862) Diese Entwicklung geht mit einer Ausweitung des Wahlrechts für weiße Männer und einer veränderten Rolle und Wahrnehmung der bereits bestehenden Parteien als notwendige Instrumente der Willensbildung einher. (Heideking, 113) Die Präsidentschaftswahl von 1828 verhilft dem nicht aus der Ostküstenelite stammenden, aber durch Einheirat aufgestiegenen Anwalt, Pflanzer und General Andrew Jackson, der sich als unabhängiger „self-made man“ und Kämpfer gegen undemokratische Eliten verkauft, zur Präsidentschaft. Als selbsternannter Beschützer eines fiktiven „common man“ will Jackson die Bürger vor unnötigen Eingriffen des Staates und vor Schaden durch machtvolle Wirtschaftsinteressen bewahren und stattdessen individuelle Entfaltung garantieren. (Heideking, 114) Sein Verhältnis zum bestehenden Regierungsapparat ist von Misstrauen geprägt. Ohne auf Eignung zu achten, besetzt Jackson viele Ämter mit Unterstützern („spoils system"), schließlich sei jeder Bürger fähig, ein politisches Amt zu übernehmen. „Dieser neue Egalitarismus generierte eine Kultur der Hemdsärmeligkeit, die mit einem neuen Werben der Politiker um die Stimmen der Wähler einherging. Im Präsidentschaftswahlkampf von 1828 zeichneten sich Kontinuitäten dieser neuen, uns heute sehr vertraut erscheinenden populären Politik erstmals ab.“ (Depkat, 106) Mit dem Beginn der Jacksonian Democracy entsteht ein Zweiparteiensystem, das die USA bis heute dominiert.

Im Gegensatz zur beschworenen Demokratisierung, so die Forschung, verhärten sich soziale Unterschiede (Depkat, 107) in der beginnenden „Marktrevolution“, die durch den Ausbau der Infrastruktur, insbesondere des Eisenbahnbaus, die Erschließung neu hinzugewonnener Gebiete ermöglicht, die Gesellschaft im Sinne „kapitalistische[r] Marktkräfte“ umgestaltet und der Industrialisierung den Boden bereitet. Trotz der Demokratisierung des Wahlrechts bleiben große Teile der Gesellschaft von politischer Partizipation ausgeschlossen, z.B. Afroamerikaner und Ureinwohner, „die Frauen hatte es ebenso wenig einbezogen wie die neue demokratische Öffnung etwa die ökonomischen Rechte der Arbeiter und insbesondere von Großbritannien übergreifende Versuche der Gründung und Legalisierung von Gewerkschaften gefördert hätte. Im Gegenteil war Jackson der erste amerikanische Präsident, der Truppen gegen streikende Arbeiter einsetzte.“ (Dippel, 122)

Die politische Moderne geht in den USA der industriellen Moderne voraus. Erst nach Ende des Bürgerkriegs steigt die Industrie zum dominierenden Sektor auf. Gleichzeitig entsteht „die Klassengesellschaft mit den ihr eigenen Formen marktbedingter sozialer Ungleichheit“. (Depkat, 139) Das besondere Merkmal ist ihre durch eine zweite große Einwanderungswelle, Überfremdungsängste und staatliche Repression radikaler Bewegungen geprägte „ethnisch-kulturelle“ Vielfältigkeit. Diese steht der Entstehung einer durchsetzungsfähigen Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung ähnlich der deutschen Sozialdemokratie entgegen, die die sozialen Missstände des von „zerstörerischer Konkurrenz“ geprägten Wirtschaftslebens und den sich in den Konzentrationsprozessen bildenden Trusts hätten abmildern können. Die zahlreichen Streiks der 1880/1890er scheitern und werden blutig niedergeschlagen. In der darauffolgenden sogenannten „Progressive Era“ der 1890er dringen viele Reformbewegungen (Populismus, Progressivismus) auf größere soziale Gerechtigkeit und die Regulierung der Großunternehmen. Es gelingt ihnen jedoch weder den „oft sozialdarwinistisch legitimierte[n] laissez-faire-Kapitalismus noch die extrem ungleiche Wohlstandsverteilung“ in Frage zu stellen. (Berg, 47) „Gegen Ende des 19. Jahrhunderts besaßen 10% der Amerikaner mehr als zwei Drittel des Volksvermögens; allein auf das reichste Prozent entfielen 40%. Die Vermögen der Superreichen wurden ebenso zum Markenzeichen der amerikanischen Geldaristokratie wie großzügige Philanthropie.“ (Berg, 47)

Didaktische Hinweise

Die Herausforderung dieses Fensters zu Welt liegt darin, die politische und wirtschaftliche Dimension des US-amerikanischen Modernisierungsprozesses im 19. Jahrhundert und dessen Ambivalenz aufzuzeigen. Der Zugang kann sowohl ausschließlich auf die Entwicklung in den USA konzentriert als auch vergleichend mit den europäischen Modernisierungsprozessen erfolgen. Angesichts der großen Zahl europäischer Einwanderer bietet auch die beziehungsgeschichtliche Perspektive vielfältige Möglichkeiten. Diese Neuankömmlinge spielen während des Gilded Age wichtige Rollen als erfolgreiche Konzernlenker und Arbeiterführer.

Das Ziel der Doppelstunde ist eine Analyse und Bewertung der politischen und wirtschaftlichen Modernisierung in den USA des 19. Jahrhunderts. In der Doppelstunde werden mit Hilfe von Text- und Bildmaterialien und einer arbeitsteiligen Gruppenarbeit Grundzüge der „Jacksonian Democracy“ der 1820/30er und der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung vor und nach Ende des Bürgerkriegs erarbeitet, um einen Einblick in die Vielfältigkeit und Ambivalenz der Modernisierungsprozesse und eine Bewertung derselben zu ermöglichen.

 

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