Sachanalyse
Frank Bösch beschreibt das Jahr 1979 als ein Jahr „globaler Ereignisse, die Türen zu unserer Gegenwart aufstießen.“ (Bösch, 9) und aufs engste mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts verbunden sind. Laut Bösch sind die von ihm dargestellten weltweiten Umbrüche und Revolutionen Reaktionen auf Krisenerfahrungen und -diagnosen der 1970er Jahre und stehen „für einen Bruch mit den Grundannahmen und Erwartungen der Moderne.“ (Bösch, 10) Viele Historiker*innen sehen die 1970er-Jahre als eine der einschneidensten Zäsuren des 20. Jahrhunderts. Sie machen diese Einschätzung an Symbolereignissen (z.B. Ölpreisschock und Ende des Währungssystems von Bretton Woods im Jahr 1973) und -entwicklungen in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur fest, die Teil eines „sich über etwa ein Jahrzehnt hinweg in mehreren Schüben vollziehenden krisenhaften Transformationsprozess[es] mit vielfältigen Ursachen und Folgen“ sind. (Herbert, 887) Herauszuheben sind die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung und der Strukturwandel in Westeuropa und Nordamerika. Dieser „Basisprozess“ (Raphael, 9), dessen „Hauptcharakteristikum (...) der vielgestaltige Rückgang des industriellen Sektors“ und „Schrumpfung industrieller Beschäftigung“ ist, führt zur „Herausbildung des digitalen Finanzmarkt-Kapitalismus“ als „wirkmächtigster Kraft“. (Doering-Manteuffel/Raphael, 8). Dessen Grundkomponenten sind laut Doering-Manteuffel/Raphael der Mikrochip als Grundlage der Digitalisierung, die Ablösung des Keynesianismus durch den Monetarismus und ein Gesellschafts- und Menschenbild, welches das Individuum als Unternehmer ins Zentrum stellt. Das Zusammentreffen und die Wechselwirkungen zwischen diesen Kräften in Westeuropa, aber auch weltweit, beginnend in den 1970ern, werden von Doering-Manteuffel/Raphael als „Strukturbruch“ beschrieben, der einen sozialen Wandel von revolutionärer Qualität mit sich bringt. (Doering-Manteuffel/Raphael, 16) Dieser Wandel ist grenzüberschreitend, er hat kein „Epizentrum“, zeigt sich in Gemeinsamkeiten und nationalen Besonderheiten der westeuropäischen Industrieländer und macht die Jahrzehnte nach 1970 zum Zeitraum des Übergangs und zu einer „Vorgeschichte der Gegenwart“ (Doering-Manteuffel/Raphael, 29): „Vieles spricht dafür, die Zeit nach 1990 als Beginn einer neuen Epoche, den Zerfall des Ostblocks jedoch als Begleiterscheinung des Übergangs nicht als dessen Ursache zu deuten.“ (Doering-Manteuffel/Raphael, 26)
Laut Doering-Manteuffel/Raphael endet in den späten 1970er Jahren nicht nur der Nachkriegsboom, sondern auch ein „Ordnungsmodell der industriellen Lebenswelt“, das auf Marshallplan, Keynesianismus, dem Ausbau des Sozialstaats und der beginnenden europäischen Integration basiert. (Doering-Manteuffel/Raphael, 33) Schon vor Ende des Booms hatten sich in verschiedenen Industriezweigen Krisen angekündigt: „Aus der historischen Rückschau begann mit dem Ende der Kohlegewinnung auch der Niedergang der industriellen Welt, wie sie die ‚Hochmoderne‘ seit der Industrialisierung prägte.“ (Doering-Manteuffel/Raphael, 53) Kaelble nennt drei Erklärungsversuche für das Ende des Nachkriegsbooms. Zum einem sei dieser an sich außergewöhnlich gewesen, weil die europäische Wirtschaft nach den Weltkriegen in den 1970er-Jahren wieder ihr Potential erreichte und zur „Normalität“ zurückkehrte. Zum anderen führten weltwirtschaftliche Gründe wie die sich beschleunigende Globalisierung und die damit einhergehende Auslagerung von Produktionsstandorten und Arbeitsplätzen in kostengünstigere Länder zum Ende des Booms. Schließlich könnten auch innere Schwächen der europäischen Volkswirtschaften, z. B. sinkende Innovationskraft, reformbedürftige Bildungssysteme, mangelnde Risikobereitschaft und fehlende wirtschaftspolitische Weichenstellungen, genannt werden. (Kaelble, 180/181). Die Wirtschaftspolitik vieler westeuropäischer Länder wendete sich von den Vorstellungen Keynes und der damit verbundenen Konjunkturpolitik ab, da man in ihr den Auslöser hoher Staatsverschuldung und Inflationsraten sah. „Wirtschaftliche Dynamik müsse durch die Optimierung der Bedingungen für die Unternehmen hergestellt werden und nicht über die der Nachfrageseite, etwa durch höhere Löhne [und] durch die Kontrolle der Geldmenge durch unabhängige, allein dem Marktgeschehen und nicht den Regierungen verantwortliche Zentralbanken.“ (Herbert, 893) Daher setzten viele Länder mit den Zielen der gesteigerten Effizienz und Produktivität sowie des Schuldenabbaus und der Bekämpfung der Inflation auf Deregulierung und den Rückzug des Staates aus vielen Dienstleistungen. Zuerst wurden staatliche Unternehmen privatisiert, dann öffentliche Dienstleistungen im Bereich Verkehr und öffentlicher Infrastruktur, in einigen Ländern auch im Bereich Gesundheit und Bildung.
Der Ölpreisschock, fallende Wachstumsraten und hohe Inflation in Westeuropa waren für die Zeitgenossen eindrückliche Kennzeichen des Endes des Nachkriegsbooms und des Strukturwandels, der den Niedergang des industriellen Sektors vor allem im Bereich der sogenannten „Alten Industrien“ (z.B. Stahlwerke, Kohlezechen, Werften und Textilfabriken) verschärfte und zum Wegfall von Millionen von Arbeitsplätzen führte. In Deutschland zeigte sich die Krise ab Ende 1973. Während 1973 noch ein Wachstum von 4,7 % zu verzeichnen war, lag es ein Jahr später bei Null. Inflation, Arbeitslosigkeit und die Verschuldung von Bund, Ländern und Gemeinden stiegen stark an. Weltweit sanken die Warenproduktion und der Welthandel an Industriegütern, höhere Energiepreise brachten Entwicklungsländer wie Industrieländer in Schwierigkeiten. In Westeuropa wurde besonders die britische Wirtschaft wegen ihrer niedrigen Produktivität, Investitionsbereitschaft und negativen Handelsbilanz von der Krise getroffen. Schon ab den 1960ern schränkten veraltete Produktionsanlagen und Infrastruktur, sehr hohe Steuersätze und unrentable Staatsunternehmen die Wettbewerbsfähigkeit ein und führten zu einer beginnenden Deindustrialisierung. „Mit der Explosion der Ölpreise verschärfte sich diese ohnehin schwierige Lage (...), und so wurden die siebziger Jahre hier zu einer Dekade der Dauerkrise und des zähen Ringens zwischen Gewerkschaften und Regierung um Löhne und Reformen.“ (Herbert, 896) Auch in Frankreich sorgte die Krise für ein sinkendes Wachstum, steigende Arbeitslosigkeit, steigende Preise und Streiks. In Westdeutschland wuchs zwar die Wirtschaft ab 1976 wieder, die Arbeitslosigkeit sank jedoch wegen des Verlusts von Arbeitsplätzen in Bergbau und Textilindustrie, Eisen- und Stahlindustrie, Maschinenbau, Werften und Automobilbau nicht, was auf die starke D-Mark, neue Konkurrenten auf dem Weltmarkt, den hohen Anteil der im industriellen Sektor Beschäftigten und den Rückstand in zukunftsträchtigen Branchen zurückzuführen war. Zur Bewältigung dieser Probleme setzten die Unternehmen auf „Einsparungen, Kostenreduzierung, Rationalisierung und Entlassungen, zum anderen mit der Veränderung der Produkte und der Marktorientierung.“ (Herbert, 898) Auch in Westdeutschland führten diese Veränderungen zu massiven Streiks.
Es setzte ein internationaler Wettbewerb zwischen Industriestandorten ein, in dem es z. B. Westdeutschland teilweise gelang, Standort alter und neuer Schlüsselindustrien zu bleiben. Insgesamt verloren die westeuropäischen Länder ganze Industriezweige, was zum Niedergang vieler Regionen z.B. in Nord- und Mittelengland, Wales, Nordfrankreich, Südbelgien, in Westdeutschland im Ruhrgebiet und im Saarland führte. Angesichts von Rationalisierung und Automatisierung leiteten neue Arbeits- und Produktionsformen den „Abschied“ vom Berufsbild des klassischen männlichen Industriearbeiters ein, der körperliche Schwerstarbeit verrichtet. Seitdem arbeiten zunehmend mehr Menschen im Dienstleistungssektor, jedoch nehmen zeitlich befristete Angebote und Teilzeitarbeit zu. Arbeitslosigkeit trifft bis heute vor allem gering und nicht qualifizierte Arbeitskräfte, deren Alltag zum Teil über Generationen hinweg von prekären Lebenserfahrungen geprägt ist. (Doering-Manteuffel/Raphael, 59/60).
„So gerieten mit dem Anfang vom Ende der industriellen Massenfertigung auch die politischen, sozialen und kulturellen Grundlagen dieses Typs von Industriegesellschaft ins Wanken, der sich vor der Jahrhundertwende gebildet hatte und auf dessen Ordnung und Ausgestaltung sich die politischen Auseinandersetzungen in den etwa acht Jahrzehnten seither konzentriert hatten.“ (Herbert, 902)
Literatur:
- Frank Bösch: Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann. München 2019.
- Anselm Doering-Manteuffel/ Lutz Raphael. Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen 3. Auflage 2012.
- Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014.
- Hartmut Kaelble: Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat. Europa 1945 – 1989, München 2011.
- Werner Plumpe: Das kalte Herz. Kapitalismus: die Geschichte einer andauernden Revolution, Berlin 2019.
- Werner Plumpe: Unternehmensgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 2018.
- Werner Plumpe: Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart. München 5. Auflage 2017.
- Lutz Raphael: Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019.
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