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Der Be­fä­hi­gungs­an­satz

M7

Von der phi­lo­so­phi­schen und theo­lo­gi­schen Ethik er­war­tet man zu Recht, dass sie dem Men­schen ge­ra­de in schwie­ri­gen – als sub­jek­tiv be­las­tend emp­fun­de­nen – Hand­lungs­si­tua­tio­nen eine ver­läss­li­che mo­ra­li­sche Ori­en­tie­rung und damit grö­ße­re Hand­lungs­si­cher­heit ge­währt.

Einen be­son­ders viel­ver­spre­chen­den An­knüp­fungs­punkt für die Be­wäl­ti­gung die­ser Auf­ga­be bil­det die zeit­ge­nös­si­sche Fä­hig­kei­ten-Ethik (sog. ca­pa­bi­li­ty ap­proach), die sich zum einen darum be­müht, auf der Basis all­ge­mei­ner Grund­be­stim­mun­gen des Mensch­seins die ge­rech­tig­keits­ethisch zen­tra­len Ka­te­go­ri­en der „Men­schen­wür­de“ sowie be­stimm­ter ele­men­ta­rer „Grund­rech­te“ der Per­son für alle Men­schen ar­gu­men­ta­tiv ab­zu­si­chern, die zum an­de­ren aber mit­tels des Fä­hig­kei­ten-Be­griffs auch eine hohe Sen­si­bi­li­tät für die Ent­wick­lungs-, Kon­text- und Be­zie­hungs­di­men­si­on des mensch­li­chen Le­bens be­sitzt. Unter den ver­schie­de­nen, für das Mensch­sein cha­rak­te­ris­ti­schen Fä­hig­kei­ten nimmt die Hand­lungs­fä­hig­keit aus den fol­gen­den fünf Grün­den einen be­son­ders wich­ti­gen Stel­len­wert ein, der es letzt­lich sogar ge­stat­tet, ein obers­tes hand­lungs­lei­ten­des Prin­zip für eine ethi­sche Ent­schei­dung zu for­mu­lie­ren:

Ers­tens er­weist sich die Hand­lungs­si­tua­ti­on für den Men­schen als schlecht­hin un­hin­ter­geh­bar, d. h. ein Mensch kann nicht dau­er­haft nicht-han­deln. Um die ver­schie­de­nen so­zia­len Rol­len er­fül­len zu kön­nen, die für das Selbst­ver­ständ­nis als Per­so­nen von größ­ter exis­ten­zi­el­ler Be­deu­tung sind, müs­sen Men­schen in aller Regel eine Viel­zahl von Hand­lun­gen aus­füh­ren, in denen sie sich selbst als ver­ant­wort­li­che Per­son aus­drü­cken und ihre in­di­vi­du­el­le Per­sön­lich­keit zur Dar­stel­lung brin­gen.

Zwei­tens eig­net sich der Be­griff der „Hand­lungs­fä­hig­keit“ dazu, eine ob­jek­ti­ve Güter-Lehre zu ent­wi­ckeln. Die Be­fä­hi­gung zum Han­deln ist näm­lich an ver­schie­de­ne an­spruchs­vol­le Vor­aus­set­zun­gen ge­bun­den, die teils die Per­son des Han­deln­den selbst, teils aber auch die ver­schie­de­nen Um­welt­be­din­gun­gen be­tref­fen, denen der Han­deln­de aus­ge­setzt ist. All jene Vor­aus­set­zun­gen, die zwin­gend für den Schutz und den Er­halt der Hand­lungs­fä­hig­keit er­for­der­lich sind, las­sen sich als „ob­jek­ti­ve Güter“ be­nen­nen.

Drit­tens hat der Be­griff der „Hand­lungs­fä­hig­keit“ den Vor­teil, dass er der em­pi­ri­schen Über­prü­fung gut zu­gäng­lich ist. Denn ob und wie sich eine be­stimm­te Hand­lungs­wei­se als för­der­lich oder schäd­lich für den Er­halt der Hand­lungs­fä­hig­keit eines Men­schen aus­wirkt, ist eine em­pi­ri­sche Frage, die sich mit Hilfe von hu­man­wis­sen­schaft­li­chen Me­tho­den ein­deu­tig be­ant­wor­ten lässt.

Vier­tens scheint die Ka­te­go­rie der „Hand­lungs­fä­hig­keit“ ge­eig­net, das für die Ethik wich­ti­ge Pro­blem einer an­ge­mes­se­nen Ver­hält­nis­be­stim­mung von Uni­ver­sa­li­tät –All­ge­mein­gül­tig­keit - und Par­ti­ku­la­ri­tät mo­ra­li­scher Re­geln einer Lö­sung zu­zu­füh­ren: Denn ei­ner­seits wei­sen die all­ge­mei­nen Vor­aus­set­zun­gen der Hand­lungs­fä­hig­keit ein­deu­tig in eine uni­ver­sa­lis­ti­sche Rich­tung. Da die Hand­lungs­fä­hig­keit die not­wen­di­ge Be­din­gung der Mög­lich­keit jeder Ziel­ver­fol­gung ist, ist auch jeder Han­deln­de – völ­lig un­ab­hän­gig von der kon­kre­ten Art sei­ner per­sön­li­chen Hand­lungs­zie­le – dazu ge­nö­tigt, seine ei­ge­ne Hand­lungs­fä­hig­keit sowie die Hand­lungs­fä­hig­keit Drit­ter grund­sätz­lich po­si­tiv zu be­wer­ten. Der Schutz der in­di­vi­du­el­len Hand­lungs­frei­heit ist also kei­nes­falls ein be­lie­bi­ges kul­tur­ab­hän­gi­ges Ziel, auf das der Ein­zel­ne ge­ge­be­nen­falls auch aus guten Grün­den ver­zich­ten könn­te. An­de­rer­seits gilt aber auch, dass in die ge­nau­en Vor­stel­lun­gen einer op­ti­ma­len Ent­fal­tung der ei­ge­nen oder frem­den Hand­lungs­fä­hig­keit stets auch in­di­vi­du­el­le und kul­tu­rel­le Fak­to­ren ein­ge­hen, die nicht ein­fach ver­all­ge­mei­nert (uni­ver­sa­li­siert) wer­den kön­nen, son­dern das Er­geb­nis per­sön­li­cher le­bens­ge­schicht­li­cher Er­fah­run­gen und ver­schie­dens­ter par­ti­ku­la­rer Tra­di­tio­nen dar­stel­len. Der Ein­fluss sol­cher in­di­vi­du­el­len und kul­tu­rel­len Fak­to­ren auf das Han­deln des Ein­zel­nen ist so lange kein mo­ra­li­sches Pro­blem, wie die uni­ver­sa­len Grund­la­gen der Hand­lungs­fä­hig­keit selbst da­durch nicht in Zwei­fel ge­zo­gen wer­den.

Fünf­tens stellt die Hand­lungs­fä­hig­keit eine dy­na­mi­sche Größe dar, die einer kom­ple­xen Ent­wick­lung un­ter­wor­fen ist. Die Hand­lungs­fä­hig­keit ent­fal­tet sich ge­wöhn­lich in un­ter­schied­li­chen Schrit­ten, Gra­den und Stu­fen: Men­schen kön­nen mehr oder we­ni­ger hand­lungs­fä­hig sein. Da der kom­ple­xe Bün­del­be­griff der „Hand­lungs­fä­hig­keit“ eine Viel­zahl un­ter­schied­li­cher ko­gni­ti­ver, emo­tio­nal-af­fek­ti­ver und so­zia­ler Teil­kom­pe­ten­zen ein­schließt und alle diese Ein­zel­fä­hig­kei­ten ih­rer­seits wie­der­um einer ganz spe­zi­fi­schen Ent­wick­lungs­dy­na­mik un­ter­lie­gen, die kei­nes­wegs zeit­lich völ­lig par­al­lel bzw. syn­chron ver­läuft, ist ge­ra­de in der Ju­gend­zeit und im Al­te­rungs­pro­zess des Men­schen damit zu rech­nen, dass be­stimm­te Asym­me­tri­en im je­weils ak­tu­el­len Zu­stand die­ser Ein­zel­fä­hig­kei­ten auf­tre­ten, die dann ganz be­son­de­re An­for­de­run­gen an das Ver­hal­ten der so­zia­len Um­welt stel­len. Ge­ra­de für eine Bio­gra­phie-sen­si­ble ethi­sche Re­fle­xi­on, die nicht nur das abs­trakt Mensch­li­che im All­ge­mei­nen in den Blick nimmt, son­dern auch das Be­son­de­re ver­schie­de­ner Le­bens­al­ter und Le­bens­la­gen be­rück­sich­tigt, bie­tet die em­pi­risch gut ope­ra­tio­na­li­sier­ba­re Ka­te­go­rie der Hand­lungs­fä­hig­keit eine gute Grund­la­ge für die ethi­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit den spe­zi­el­len Her­aus­for­de­run­gen ver­schie­de­ner Le­bens­si­tua­tio­nen.

Kurz­um: Auf der Basis der Ka­te­go­rie der „Hand­lungs­fä­hig­keit“ lässt sich daher das fol­gen­de obers­te mo­ra­li­sche Prin­zip ab­lei­ten:

Hand­le so, dass du deine ei­ge­ne Hand­lungs­fä­hig­keit sowie die Hand­lungs­fä­hig­keit der von dei­nem Han­deln Be­trof­fe­nen nach Mög­lich­keit um­fas­send ent­fal­test und nicht ohne zwin­gen­den Sach­grund be­ein­träch­tigst oder gar zer­störst.

Franz-Josef Bor­mann

 

Hand­lungs­fä­hig­keit bei in­di­vi­du­el­ler Hand­lungs­un­fä­hig­keit?

 

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Wei­ter zu Hand­lungs­fä­hig­keit bei in­di­vi­du­el­ler Hand­lungs­un­fä­hig­keit?