Der Befähigungsansatz
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Von der philosophischen und theologischen Ethik erwartet man zu Recht, dass sie dem Menschen gerade in schwierigen – als subjektiv belastend empfundenen – Handlungssituationen eine verlässliche moralische Orientierung und damit größere Handlungssicherheit gewährt.
Einen besonders vielversprechenden Anknüpfungspunkt für die Bewältigung dieser Aufgabe bildet die zeitgenössische Fähigkeiten-Ethik (sog. capability approach), die sich zum einen darum bemüht, auf der Basis allgemeiner Grundbestimmungen des Menschseins die gerechtigkeitsethisch zentralen Kategorien der „Menschenwürde“ sowie bestimmter elementarer „Grundrechte“ der Person für alle Menschen argumentativ abzusichern, die zum anderen aber mittels des Fähigkeiten-Begriffs auch eine hohe Sensibilität für die Entwicklungs-, Kontext- und Beziehungsdimension des menschlichen Lebens besitzt. Unter den verschiedenen, für das Menschsein charakteristischen Fähigkeiten nimmt die Handlungsfähigkeit aus den folgenden fünf Gründen einen besonders wichtigen Stellenwert ein, der es letztlich sogar gestattet, ein oberstes handlungsleitendes Prinzip für eine ethische Entscheidung zu formulieren:
Erstens erweist sich die Handlungssituation für den Menschen als schlechthin unhintergehbar, d. h. ein Mensch kann nicht dauerhaft nicht-handeln. Um die verschiedenen sozialen Rollen erfüllen zu können, die für das Selbstverständnis als Personen von größter existenzieller Bedeutung sind, müssen Menschen in aller Regel eine Vielzahl von Handlungen ausführen, in denen sie sich selbst als verantwortliche Person ausdrücken und ihre individuelle Persönlichkeit zur Darstellung bringen.
Zweitens eignet sich der Begriff der „Handlungsfähigkeit“ dazu, eine objektive Güter-Lehre zu entwickeln. Die Befähigung zum Handeln ist nämlich an verschiedene anspruchsvolle Voraussetzungen gebunden, die teils die Person des Handelnden selbst, teils aber auch die verschiedenen Umweltbedingungen betreffen, denen der Handelnde ausgesetzt ist. All jene Voraussetzungen, die zwingend für den Schutz und den Erhalt der Handlungsfähigkeit erforderlich sind, lassen sich als „objektive Güter“ benennen.
Drittens hat der Begriff der „Handlungsfähigkeit“ den Vorteil, dass er der empirischen Überprüfung gut zugänglich ist. Denn ob und wie sich eine bestimmte Handlungsweise als förderlich oder schädlich für den Erhalt der Handlungsfähigkeit eines Menschen auswirkt, ist eine empirische Frage, die sich mit Hilfe von humanwissenschaftlichen Methoden eindeutig beantworten lässt.
Viertens scheint die Kategorie der „Handlungsfähigkeit“ geeignet, das für die Ethik wichtige Problem einer angemessenen Verhältnisbestimmung von Universalität –Allgemeingültigkeit - und Partikularität moralischer Regeln einer Lösung zuzuführen: Denn einerseits weisen die allgemeinen Voraussetzungen der Handlungsfähigkeit eindeutig in eine universalistische Richtung. Da die Handlungsfähigkeit die notwendige Bedingung der Möglichkeit jeder Zielverfolgung ist, ist auch jeder Handelnde – völlig unabhängig von der konkreten Art seiner persönlichen Handlungsziele – dazu genötigt, seine eigene Handlungsfähigkeit sowie die Handlungsfähigkeit Dritter grundsätzlich positiv zu bewerten. Der Schutz der individuellen Handlungsfreiheit ist also keinesfalls ein beliebiges kulturabhängiges Ziel, auf das der Einzelne gegebenenfalls auch aus guten Gründen verzichten könnte. Andererseits gilt aber auch, dass in die genauen Vorstellungen einer optimalen Entfaltung der eigenen oder fremden Handlungsfähigkeit stets auch individuelle und kulturelle Faktoren eingehen, die nicht einfach verallgemeinert (universalisiert) werden können, sondern das Ergebnis persönlicher lebensgeschichtlicher Erfahrungen und verschiedenster partikularer Traditionen darstellen. Der Einfluss solcher individuellen und kulturellen Faktoren auf das Handeln des Einzelnen ist so lange kein moralisches Problem, wie die universalen Grundlagen der Handlungsfähigkeit selbst dadurch nicht in Zweifel gezogen werden.
Fünftens stellt die Handlungsfähigkeit eine dynamische Größe dar, die einer komplexen Entwicklung unterworfen ist. Die Handlungsfähigkeit entfaltet sich gewöhnlich in unterschiedlichen Schritten, Graden und Stufen: Menschen können mehr oder weniger handlungsfähig sein. Da der komplexe Bündelbegriff der „Handlungsfähigkeit“ eine Vielzahl unterschiedlicher kognitiver, emotional-affektiver und sozialer Teilkompetenzen einschließt und alle diese Einzelfähigkeiten ihrerseits wiederum einer ganz spezifischen Entwicklungsdynamik unterliegen, die keineswegs zeitlich völlig parallel bzw. synchron verläuft, ist gerade in der Jugendzeit und im Alterungsprozess des Menschen damit zu rechnen, dass bestimmte Asymmetrien im jeweils aktuellen Zustand dieser Einzelfähigkeiten auftreten, die dann ganz besondere Anforderungen an das Verhalten der sozialen Umwelt stellen. Gerade für eine Biographie-sensible ethische Reflexion, die nicht nur das abstrakt Menschliche im Allgemeinen in den Blick nimmt, sondern auch das Besondere verschiedener Lebensalter und Lebenslagen berücksichtigt, bietet die empirisch gut operationalisierbare Kategorie der Handlungsfähigkeit eine gute Grundlage für die ethische Auseinandersetzung mit den speziellen Herausforderungen verschiedener Lebenssituationen.
Kurzum: Auf der Basis der Kategorie der „Handlungsfähigkeit“ lässt sich daher das folgende oberste moralische Prinzip ableiten:
Handle so, dass du deine eigene Handlungsfähigkeit sowie die Handlungsfähigkeit der von deinem Handeln Betroffenen nach Möglichkeit umfassend entfaltest und nicht ohne zwingenden Sachgrund beeinträchtigst oder gar zerstörst.
Franz-Josef Bormann
Handlungsfähigkeit bei individueller Handlungsunfähigkeit?
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