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Wie Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten Men­schen in­te­grie­ren

Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten ge­win­nen und bin­den ihre Mit­glie­der, weil und wenn sie ihnen eine ge­mein­sa­me Spra­che, ge­mein­sa­me Über­zeu­gun­gen und Prak­ti­ken ver­mit­teln. Re­li­gio­nen bie­ten Men­schen eine über das ei­ge­ne Leben hin­aus­rei­chen­de Ori­en­tie­rung. Dazu ge­hö­ren le­bens­lei­ten­de Ein­sich­ten über ele­men­ta­re Fra­gen des per­sön­li­chen Le­bens und so­zia­len Zu­sam­men­le­bens. Re­li­gio­nen schaf­fen und tra­die­ren eine Spra­che und Kul­tur, in denen Grund­fra­gen nach Her­kunft und Zu­kunft, Sinn und Ziel des mensch­li­chen Le­bens an­ge­spro­chen wer­den, die Er­in­ne­rung und Hoff­nung ar­ti­ku­liert, die ei­ge­ne sowie kol­lek­ti­ve Er­fah­run­gen spie­gelt, auf­ein­an­der be­zieht und zu­sam­men­bin­det.

Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten bin­den Men­schen in lo­ka­le, re­gio­na­le und zum Teil glo­ba­le Zu­sam­men­hän­ge ein. Durch In­itia­ti­ons- und an­de­re Über­gangs­ri­ten mar­kie­ren sie an ris­kan­ten Kno­ten- und Wen­de­punk­ten des Le­bens Ab­lö­sung, Zu­ge­hö­rig­keit und Zu­sam­men­ge­hö­rig­keit. In einer Fülle von All­tags­prak­ti­ken und All­tags­ri­ten wer­den Ele­men­te von Grund­über­zeu­gun­gen und Hand­lungs­ori­en­tie­run­gen ha­b­itua­li­siert. Indem Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten ihre je­wei­li­ge Ge­schich­te in einer Viel­zahl von Ge­schich­ten zur Spra­che brin­gen und deren Hö­he­punk­te ri­tu­ell in­sze­nie­ren, stif­ten und be­kräf­ti­gen sie ho­ri­zon­ta­le wie ver­ti­ka­le Ge­mein­schaft. Sie er­rich­ten und un­ter­hal­ten dazu Orte und Räume des Zu­sam­men­kom­mens, des ge­mein­sa­men Fei­erns, des Be­tens, der got­tes­dienst­li­chen Ak­ti­on und In­ter­ak­ti­on. Durch Sym­bo­le der Ver­bun­den­heit, Ges­ten der So­li­da­ri­tät und Prak­ti­ken des Tei­lens un­ter­strei­chen sie die Ver­bin­dung der An­we­sen­den un­ter­ein­an­der und deren Ein­ge­bun­den­heit in die grö­ße­re, um­fas­sen­de Ge­mein­schaft, sei es des Vol­kes Got­tes, der Kir­che Jesu Chris­ti oder der is­la­mi­schen Umma.

Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten nor­mie­ren den Um­gang ihrer Mit­glie­der mit An­ge­hö­ri­gen der ei­ge­nen Ge­mein­schaft und neh­men Ab­gren­zun­gen vor zwi­schen Gläu­bi­gen, An­ders­gläu­bi­gen und Un­gläu­bi­gen. In Bezug auf Letz­te­re kom­men so­wohl de­zi­dier­te Aus­gren­zung und Kon­fron­ta­ti­on vor als auch die Be­to­nung von Ge­mein­sam­kei­ten und das Be­mü­hen um Ein­be­zie­hung in eine ver­bin­den­de ge­mein­sa­me Ge­schich­te. Re­li­gio­nen for­mu­lie­ren mit­tels Ge­bo­ten und Ver­bo­ten fun­da­men­ta­le Le­bens­re­geln als Grund­re­geln für die Be­zie­hung zum sowie den Um­gang mit dem Gött­li­chen, für das per­sön­li­che Leben, das ge­mein­schaft­li­che Zu­sam­men­le­ben in Fa­mi­lie, Ver­wandt­schaft, re­li­giö­ser Ge­mein­schaft, mit nahen und fer­nen Mit­men­schen sowie mit an­de­ren Le­be­we­sen und der Natur. In Re­li­gio­nen ist der All­tag durch ein mehr oder we­ni­ger dich­tes Re­gel­werk von Vor­schrif­ten und Ver­bo­ten nor­miert. Dabei spie­len die Ahn­dung von Ver­ge­hen, die re­li­giö­se und gött­li­che Sank­ti­on gegen Norm­über­tre­ter, Übel­tä­ter und Sün­der eine wich­ti­ge Rolle.

Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten schrei­ben nicht nur Ba­sis­ver­pflich­tun­gen vor und fest, son­dern zei­gen auch auf, was die Gläu­bi­gen wem Gutes tun sol­len; sie ap­pel­lie­ren an die Be­reit­schaft zur So­li­da­ri­tät, Ge­rech­tig­keit und Barm­her­zig­keit und rufen zum so­li­da­ri­schen Tei­len der ma­te­ri­el­len und spi­ri­tu­el­len Güter auf. Glau­bens­ge­mein­schaf­ten sind zudem Lern­or­te für das Ein­üben der nor­ma­ti­ven Re­geln, Ge­bo­te und Ver­bo­te. Sie stel­len Räume dar, in denen die gött­li­chen Vor­ga­ben sowie die nor­ma­ti­ven An­sprü­che der Grün­der, her­aus­ra­gen­den Ge­stal­ten und Vor­bil­der in­di­vi­du­ell und kol­lek­tiv zur Gel­tung ge­bracht wer­den.

Die in­ter­ak­tio­nel­le In­te­gra­ti­on ihrer Mit­glie­der ist für Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten in der plu­ra­lis­tisch ge­wor­de­nen Ge­gen­wart eben­so not­wen­dig wie zu­neh­mend schwie­rig. Glau­bens­ge­mein­schaf­ten er­mög­li­chen eine Viel­falt von face-to-face-In­ter­ak­tio­nen, per­sön­li­cher Kon­tak­te und Be­geg­nun­gen. In Ge­stalt von Got­tes­diens­ten, Un­ter­wei­sung, Hil­fe­leis­tun­gen und Ge­sel­lig­keit schaf­fen sie Ge­le­gen­heit zu Be­geg­nung und Aus­tausch, bie­ten Foren für De­bat­ten und Selbst­ver­stän­di­gung. Durch ein bis­wei­len dich­tes Netz von Ak­ti­vi­tä­ten wir­ken sie so­zia­li­sa­to­risch und le­bens­be­glei­tend, in­so­fern in­ner­halb sol­cher Ge­mein­schaf­ten Be­kann­te ge­fun­den, Freund­schaf­ten ge­schlos­sen, Ehen ein­ge­gan­gen, Kin­der in­iti­iert wer­den und auf­wach­sen, El­tern so­wohl Un­ter­stüt­zung wie Ru­he­punk­te fin­den, Äl­te­ren sich Mög­lich­kei­ten zum En­ga­ge­ment und zu­gleich zur Be­treu­ung er­öff­nen. Zudem wer­den Kran­ke be­sucht, Ster­ben­de be­glei­tet und Tote be­stat­tet. Das ge­mein­sa­me got­tes­dienst­li­che, dia­ko­ni­sche, ge­sel­li­ge und ge­sell­schaft­li­che Han­deln mar­kiert und af­fir­miert Zu­ge­hö­rig­keit, stärkt Bin­dun­gen und nicht nur re­li­giö­se Bande. Be­geg­nun­gen im Zu­sam­men­hang mit Riten, Fes­ten und Fei­ern brin­gen ei­ner­seits den Zu­sam­men­halt sym­bo­lisch und sym­bol­träch­tig zum Aus­druck, sind an­de­rer­seits selbst per­for­ma­ti­ve Voll­zü­ge des Zu­sam­men­ste­hens und Zu­sam­men­han­delns.

Ins­be­son­de­re in frem­der Um­ge­bung sind Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten für re­li­giö­se, eth­ni­sche und kul­tu­rel­le Min­der­hei­ten eine wich­ti­ge In­te­gra­ti­ons­in­stanz, wel­che Kin­der und Ju­gend­li­che in ein eng­ma­schi­ges Netz von Ge­wohn­hei­ten und ge­gen­sei­ti­gen Ver­pflich­tun­gen ein­bin­det, ein Netz, das sich für man­che als ein allzu enges Kor­sett er­weist. Ge­ra­de in un­ver­trau­ter, als fremd er­fah­re­ner oder gar als feind­se­lig wahr­ge­nom­me­ner Um­welt ist dich­te in­ter­ak­tio­nel­le In­te­gra­ti­on für den Fort­be­stand der lo­ka­len Ge­mein­schaft un­ver­zicht­bar. Das zeigt sich etwa am or­tho­do­xen Ju­den­tum, das in der dop­pel­ten Dia­spo­ra einer re­li­giö­sen Min­der­heit in der per­mis­si­ven Ge­sell­schaft um sein spi­ri­tu­el­les wie phy­si­sches Über­le­ben kämpft.

Iden­ti­fi­ka­to­ri­sche In­te­gra­ti­on im Sinne der af­fek­ti­ven Bin­dung an sowie der emo­tio­na­len Ein­bin­dung in eine Re­li­gi­ons­ge­mein­schaft be­deu­tet, dass die Ge­mein­schaft für ihre Mit­glie­der nicht nur eine kul­tu­rell-ko­gni­ti­ve, nor­ma­ti­ve und in­ter­ak­ti­ve Größe dar­stellt, son­dern zu­gleich die Ge­fühls­ebe­ne an­spricht und ge­fühls­mä­ßi­ge Be­deu­tung be­sitzt. Iden­ti­fi­ka­to­ri­sche In­te­gra­ti­on ge­schieht durch den Ge­brauch ge­mein­sa­mer Sym­bo­le wie Er­ken­nungs­zei­chen, Fah­nen, durch das Tra­gen grup­pen­spe­zi­fi­scher Klei­dung, durch si­gni­fi­kan­te ri­tu­el­le Voll­zü­ge und Fei­ern, in und mit denen die kol­lek­ti­ve Iden­ti­tät per­for­ma­tiv in Szene ge­setzt, sin­nen­fäl­lig de­mons­triert und be­we­gend be­kun­det wird. Ein hohes iden­ti­fi­ka­to­ri­sches Po­ten­zi­al haben au­ße­r­all­täg­li­che Voll­zü­ge, in denen sich in­ten­si­ve In­ter­ak­ti­on, Be­we­gung und Iden­ti­täts­be­kun­dung ver­bin­den. Dazu zäh­len emo­tio­na­le und spi­ri­tu­el­le Hö­he­punk­te und Gip­fel­erfah­run­gen wie Wall­fahr­ten, der is­la­mi­sche Hadsch oder die christ­li­che Pil­ger­rei­se. Zur Be­kräf­ti­gung und In­ten­si­vie­rung der af­fek­ti­ven Bin­dung tra­gen für die Be­tei­lig­ten zum Bei­spiel spi­ri­tu­el­le „events“ bei, wie sie ame­ri­ka­ni­sche „Me­ga­church­es“ Woche für Woche in­sze­nie­ren, aber auch Groß­ver­an­stal­tun­gen wie Papst­rei­sen, Welt­ju­gend­ta­ge oder Ka­tho­li­ken- und Kir­chen­ta­ge.

Iden­ti­fi­ka­to­ri­sche In­te­gra­ti­on wird gleich­falls mit Hilfe von Lie­dern und Ge­sän­gen mo­bi­li­siert, wel­che emo­tio­nal be­rüh­ren, be­we­gen und sti­mu­lie­ren. Als his­to­ri­sches Bei­spiel sei nur die vor­kon­zi­li­a­re Hymne des Ka­tho­li­zis­mus in Er­in­ne­rung ge­ru­fen: „Ein Haus voll Glo­rie schau­et“, eine voll Er­grif­fen­heit ge­sun­ge­ne Hymne der Iden­ti­fi­ka­ti­on mit der „aus ewi­gem Stein“ er­bau­ten ka­tho­li­schen Kir­che, zu­gleich ein Kampf­lied gegen den be­drän­gen­den äu­ße­ren Feind, denn „wohl tobet um die Mauer der Sturm in wil­der Wut“. Wer diese Hymne schmet­ter­te, hatte zu­gleich das im ur­sprüng­li­chen Text for­mu­lier­te tri­um­pha­lis­ti­sche Ge­fühl: „das Haus wird’s über­dau­ern“! Das war gut zu wis­sen, laut zu sin­gen und schweiß­te zu­sam­men.

 

Fach­vor­trag von Prof. Ed­mund Arens: Her­un­ter­la­den [pdf][160 KB]

 

Wei­ter zu Re­li­giö­se Min­der­hei­ten in der Mehr­heits­ge­sell­schaft