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Re­li­giö­se Min­der­hei­ten in der Mehr­heits­ge­sell­schaft

Der ame­ri­ka­ni­sche So­zio­lo­ge Jef­frey Alex­an­der zeich­net in sei­nen gro­ßen Werk „The Civil Sphe­re“ nach, auf wel­che Weise Ein­wan­de­r­er­grup­pen in die zu­nächst nord­west­eu­ro­pä­isch do­mi­nier­te Ge­sell­schaft der Ver­ei­nig­ten Staa­ten in­te­griert wur­den. Die In­te­gra­ti­on er­folg­te in den ers­ten Jahr­hun­der­ten nach der Staats­grün­dung gemäß dem Mo­dell der As­si­mi­la­ti­on. Die­ses er­mög­lich­te Ein­zel­nen, sich unter Auf­ga­be, durch Neu­tra­li­sie­rung bzw. durch Ver­ber­gen der vor­ma­li­gen kol­lek­ti­ven Iden­ti­tät ihrer Her­kunfts­län­der er­folg­reich an die neuen Ver­hält­nis­se an­zu­pas­sen und darin zu re­üs­sie­ren. Wegen der un­ge­lös­ten Wi­der­sprü­che die­ses Mo­dells hat sich laut Alex­an­der An­fang des 20. Jahr­hun­derts ein neues Mo­dell der ge­sell­schaft­li­chen In­te­gra­ti­on durch­ge­setzt, die „Bin­de­strich-Iden­ti­tät“ des „mel­ting pot“. Sie ver­lang­te kein En­we­der-oder mehr, son­dern er­laub­te Im­mi­gran­ten­grup­pen zu­neh­mend, ihre bis­he­ri­ge eth­ni­sche und re­li­giö­se Iden­ti­tät mit der neuen, plu­ra­le­ren Le­bens­wei­se eines Schmelz­tie­gels, in dem aus vie­len Un­ter­schied­li­chen eine Na­ti­on ge­gos­sen wird, zu ver­bin­den. Aber auch die Vor­stel­lung vom „mel­ting pot“ war nach Alex­an­der noch zu re­strik­tiv und „iden­ti­tär“, so dass sich un­ter­des­sen ein drit­tes Mo­dell an­bie­tet, das des Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus. Die­ser be­trach­te Ver­schie­den­heit als eine wich­ti­ge Er­run­gen­schaft, er­ken­ne Dif­fe­renz wirk­lich an, re­spek­tie­re und ak­zep­tie­re sie nicht nur mit Blick auf In­di­vi­du­en, son­dern auch auf Grup­pen und Ge­mein­schaf­ten. Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus be­zeich­net Alex­an­der als „ein Pro­jekt der Hoff­nung, nicht der Ver­zweif­lung“, das sich nur im Kon­text weit ver­brei­te­ter Ge­füh­le ge­mein­sa­men Mensch­seins ent­fal­ten könne.

Aus der Sicht von re­li­giö­sen und eth­ni­schen Min­der­hei­ten ist die As­si­mi­la­ti­on eine durch­aus wün­schens­wer­te Al­ter­na­ti­ve zur Ex­klu­si­on wie zur Re­pres­si­on. Aber sie zahlt den Preis, dass sie Re­li­gi­on aus der Öf­fent­lich­keit aus­schließt, Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten so wenig öf­fent­li­che Räume und kol­lek­ti­ve Rech­te wie mög­lich zu­ge­steht und Re­li­gi­ons­aus­übung mehr oder we­ni­ger strikt auf die Pri­vat­sphä­re be­schränkt. Jörg Stolz nennt als ent­schei­den­des Motiv für as­si­mi­la­to­ri­sche Po­li­tik eine Be­fürch­tung: „Kol­lek­ti­ve Rech­te (z. B. auf ei­ge­ne Schu­len, ei­ge­ne Be­stat­tungs­ein­rich­tun­gen, ei­ge­ne Ge­sund­heits­in­sti­tu­tio­nen, ei­ge­ne Me­di­en, ei­ge­ne Ge­richts­bar­keit) wür­den zur Her­aus­bil­dung von ‚Par­al­lel­ge­sell­schaf­ten’ füh­ren und letzt­lich die In­te­gra­ti­on der Ge­samt­ge­sell­schaft zer­stö­ren.“ Frei­lich kann eine as­si­mi­la­to­ri­sche Po­li­tik leicht die Aus­gren­zung und Aus­schlie­ßung nicht as­si­mi­la­ti­ons­wil­li­ger Ge­mein­schaf­ten be­inhal­ten, damit ge­ra­de des­in­te­gra­ti­ve Kräf­te stär­ken und fun­da­men­ta­lis­ti­sche Ten­den­zen be­güns­ti­gen bzw. ver­stär­ken.

Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus lässt nicht nur den In­di­vi­du­en, son­dern auch den di­ver­sen Grup­pen und re­li­giö­sen Ge­mein­schaf­ten Raum zur ei­ge­nen Ent­fal­tung. Mul­ti­kul­tu­ra­lis­ti­sche Po­li­tik ge­währt Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten weit­rei­chen­de kol­lek­ti­ve Rech­te. Die mul­ti­kul­tu­rel­le Op­ti­on für Dif­fe­renz und To­le­ranz be­jaht die Ent­ste­hung von Par­al­lel­ge­sell­schaf­ten und hält diese für eine an­ge­mes­se­ne Aus­ge­stal­tung kul­tu­rell und re­li­gi­ös he­te­ro­ge­ner mo­der­ner Ge­sell­schaf­ten. Darin soll to­le­ran­tes Ne­ben­ein­an­der und vom Zu­trau­en in die Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on der di­ver­sen Ge­mein­schaf­ten ge­tra­ge­ne Nicht­ein­mi­schung einer nicht for­dern­den, son­dern frei­heit­lich ge­wäh­ren las­sen­den In­te­gra­ti­on zu­gu­te kom­men. Dass der Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus der Kö­nigs­weg zur In­te­gra­ti­on ist, wird indes nicht nur von Ver­fech­tern einer „Leit­kul­tur“ be­zwei­felt. Auch aus der Sicht des men­schen­recht­li­chen Uni­ver­sa­lis­mus blei­ben Vor­be­hal­te. Er­laubt mul­ti­kul­tu­ra­lis­ti­sche To­le­ranz ri­gi­den Ge­mein­schaf­ten nicht ge­ra­de, ihre ei­ge­ne in­to­le­ran­te Dis­kri­mi­nie­rung etwa von Frau­en, Gleich­ge­schlecht­li­chen oder Dis­si­den­ten auf­recht­zu­er­hal­ten und sich im Namen der ei­ge­nen „Kul­tur“ gegen Kri­tik zu im­mu­ni­sie­ren?

Zwi­schen re­pres­si­ver As­si­mi­la­ti­on ei­ner­seits und per­mis­si­vem Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus an­de­rer­seits ist im Sinne einer frei­heits­för­der­li­chen, ge­rech­ten und so­li­da­ri­schen In­te­gra­ti­on ein drit­tes Mo­dell an­ge­zeigt – eine „In­te­gra­ti­on durch Teil­ha­be“, also eine „par­ti­zi­pa­ti­ve In­te­gra­ti­on“. Diese ver­bin­det die pas­si­ve Zu­stim­mung zu be­stimm­ten Nor­men und Wer­ten – Jür­gen Ha­ber­mas spricht von der „Zu­stim­mung zu den Prin­zi­pi­en der Ver­fas­sung“ – mit einem ak­ti­ven ge­mein­schaft­li­chen sowie zi­vil­ge­sell­schaft­li­chem En­ga­ge­ment.

 

Fach­vor­trag von Prof. Ed­mund Arens: Her­un­ter­la­den [pdf][160 KB]

 

Wei­ter zu Öf­fent­li­che Re­li­gio­nen in zi­vi­ler Ge­sell­schaft