Öffentliche Religionen in ziviler Gesellschaft
Den Begriff der „öffentlichen Religion“ hat der spanisch-amerikanische Religionssoziologe José Casanova in Umlauf gebracht. In seinem Werk „Public Religions in the Modern World“ hat er deutlich gemacht, dass öffentliche Religion zum einen Resultat einer Entprivatisierung des Religiösen und zum anderen einer Entstaatlichung der Religion ist. Das Heraustreten aus der Privatsphäre meint, dass Religion den ihr von Seiten der Aufklärung, des Liberalismus und Laizismus zugewiesenen Bereich verlässt. Das Öffentlichwerden beinhaltet zugleich die Absage an alle Formen von Staatsreligion, also die Aufgabe jedes Monopolanspruchs, der sich aus der exklusiven Verbindung mit dem Staat ableitet. Bei der öffentlichen Religion tritt an die Stelle der Beschränkung auf den Privatbereich bzw. der Beanspruchung staatlicher Privilegien und politischer Macht deren Lokalisierung in der Zivilgesellschaft. Letztere wird zum Ort, an dem Religionen ihre Anliegen, Beiträge, Perspektiven und Potenziale öffentlich einbringen und im Diskurs mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren zur Geltung bringen können.
Als öffentliche Religionen kommen sowohl christliche Kirchen als auch andere Glaubensgemeinschaften in Frage, die nicht nur um das persönliche Heil ihrer Anhänger und Mitglieder besorgt sind, sondern zugleich das gesellschaftliche Zusammenleben und Wohlergehen, das Gemeinwohl und damit die soziale Gerechtigkeit und Solidarität im Blick haben. Bei den Trägern und Akteuren öffentlicher Religion kann es sich zum einen um Gemeinschaften handeln, die sich vorbehaltlos auf die Zivilgesellschaft einlassen, die sich die Prozeduren des zivilgesellschaftlichen Diskurses aneignen und das Verfahren demokratischer Auseinandersetzung und Willensbildung zu eigen machen. Andererseits kommen dafür auch Gemeinschaften und Bewegungen in Betracht, welche die Öffentlichkeit als Arena begreifen, in der sie im Dissens und Konflikt mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren für ihre damit nicht unbedingt übereinstimmenden Überzeugungen, Wertvorstellungen und Praktiken kämpfen. Zu den potentiellen Trägern öffentlicher Religion können folglich auch fundamentalistische Bewegungen gehören, sofern sie sich nicht separatistisch von der gesellschaftlichen Öffentlichkeit abschotten.
Öffentlich wird Religion dann, wenn eine religiöse Gemeinschaft dem von ihr vertretenen und gelebten Glauben eine gesellschaftliche Bedeutung beimisst und dies in ihrer Glaubenspraxis bekundet, was sich in der Bereitschaft manifestiert, sich an den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Grundfragen menschlichen Lebens und Zusammenlebens zu beteiligen. Über die Teilnahme an öffentlichen Auseinandersetzungen wird ein „public encounter“ (Casanova), eine öffentliche Begegnung mit anderen möglich, was längerfristig zu Lernprozessen und zur Verständigung der verschiedenen Religionen miteinander führen kann.
Öffentlichen Religionen geht es darum, die in ihnen tradierten Glaubensüberzeugungen, moralischen Einsichten und Wertvorstellungen zu bewahren, sichtbar zu machen und öffentlich darzustellen und damit zugleich ihre Vorstellungen vom guten Leben und gerechten Zusammenleben in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen. Indem sie ihre substantiellen Auffassungen über soziale Gerechtigkeit und Gemeinwohl, Solidarität und Anerkennung, Fürsorge und Verantwortung füreinander sowie für andere in ihrer eigenen gemeinschaftlichen Praxis zum Ausdruck bringen und zudem in gesellschaftliche Meinungs- und Willensbildungsprozesse einspeisen, erweisen sie sich als wichtige Akteure im Raum der Zivilgesellschaft. Mit ihren prophetischen Interventionen leisten sie eine normative Kritik an bestimmten modernen Entwicklungen. Sowohl mit ihren prophetischen Herausforderungen als auch mit ihren moralischen Optionen und Interventionen tragen öffentliche Religionen zur Vitalisierung der Zivilgesellschaft bei. Sie mobilisieren moralische Ressourcen, deren auch eine moderne pluralistische Gesellschaft und ein säkularer Staat bedürfen.
Religionen können Menschen zusammenschweißen und auseinanderreißen. Auf der einen Seite sind sie Solidargemeinschaften, die ihre Mitglieder sozialisieren und sozial integrieren, ihnen Identität vermitteln, Begegnungsräume eröffnen und ein Gefühl von Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit geben. Auf der anderen Seite können Religionsgemeinschaften sich verhärten, versteinerte Bollwerke bilden, sich dem Kampf gegen die feindliche Außenwelt verschreiben und so desintegrative und destruktive Kräfte entfesseln.
Religionsgemeinschaften bieten insbesondere marginalisierten Minderheiten Rückzugs- und Schutzräume, Orte der Bewahrung und Weitergabe ihrer kulturellen und religiösen Identität. Dabei geschieht dann primär ein bonding, das gemeinschaftliche soziale Integration befördert, aber bei zu starker, exklusiver Bindung zugleich gesellschaftliche Integration verhindert.
Öffentliche Religionen balancieren am ehesten das bonding mit dem bridging. Von daher wären Anstrengungen zu unternehmen, die darauf zielen, dass auch religiöse Minderheiten mit ihren Symbolen und Überzeugungen öffentlich sichtbar werden, ihre Anliegen und Interessen öffentlich zur Sprache bringen und in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Durch Sichtbarkeit, gesellschaftliches Engagement, aktive Teilnahme am zivilgesellschaftlichen Diskurs und öffentliche Konfliktaustragung wächst die Chance, Brücken des Verstehens und der Verständigung zu bauen. Auf diese Weise lässt sich die soziale Integration im Nahbereich mit der Integration in die Gesamtgesellschaft verbinden, was wiederum sowohl die gemeinschaftliche Zusammengehörigkeit als auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt.
Fachvortrag von Prof. Edmund Arens: Herunterladen [pdf][160 KB]
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