Wissenschaftliche Interpretationsthesen
M8 Wissenschaftliche Interpretationsthesen exzerpieren und auf ein Gedicht anwenden
Bildquelle: Oer-Weimarer Musenhof.jpg (gemeinfrei) http://commons.wikimedia.org/ |
In Auf dem See verweist die Natur nicht mehr auf einen im Himmel thronenden Schöpfergott; das Gedicht verbleibt ganz in der Immanenz des irdischen Seins. Damit tritt ‚Mutter Natur’ als entscheidende Bezugsgröße an die Stelle des transzendenten ‚Herrn’: „Mutter Natur ist eine moderne Erfindung. Sie konnte erst gemacht werden, als Gott der Schöpfer, der Richter und Erlöser in den programmatischen Welt- und Selbstentwürfen der Menschen zurückzutreten begann.“ [Gerhard Kaiser: Augenblicke deutscher Lyrik. Gedichte von Martin Luther bis Celan. Frankfurt a.M., S. 158] [...] Goethes Gedicht bleibt jedoch, wie sich gezeigt hat, nicht bei Einheits- und Verschmelzungsphantasien stehen, sondern entwirft die Reifung des Ich als Prozess einer Ablösung von der Natur, der zu einem veränderten Verhältnis zwischen beiden führt. Obwohl der Sprecher jener „Welt“, der er anfangs noch symbiotisch* verbunden war, am Ende freier gegenübersteht, bleibt sein Selbstverständnis eng mit dem Gegenstand ‚Natur’ verknüpft, denn gerade in der neugewonnenen, stärker objektivierten und distanzierten Beziehung zu ihr erfährt er sich als eigenständiges Subjekt.
Ulrich Kittstein: Deutsche Naturlyrik. Ihre Geschichte in Einzelanalysen. Darmstadt (WBG) 2009, S. 86 f.
* symbiotisch: ungleiche Wesen leben zusammen zum gegenseitigen Nutzen
1. Arbeiten Sie die Kernthesen des Interpreten in eigenen Worten heraus. Welche Funktion hat das Zitat, dessen sich der Autor bedient?
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2. Wer könnte nach Kittsteins Argumentation mit dem Schlussbild der „reifenden Frucht“, die sich „selbst bespiegelt“, gemeint sein? Begründen Sie!
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3. Welchen Beitrag zu diesem von Kittstein beschriebenen Selbstreifungsprozess leisten die formalen Bestandteile des Gedichts?
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