Lernende Organisation II: Besuch in Berlin
Heinrich-von-Stephan-Oberschule in Berlin
Sir Simon Rattle machte uns auf die Schule aufmerksam. Die Berliner Philharmonie studiert mit Schülerinnen und Schülern einer Brennpunktschule in Moabit eine Art Ballettaufführung ein. Die Medien berichten ausführlich und man kann halbseitenweise in der Süddeutschen und in der FAZ Details über die spektakulär erfolgreiche Heinrich-von-Stephan-Oberschule erfahren.
Das Erstaunen war groß. Die Grundkonzeption des „Crailsheimer Modells"
ist in einigen Punkten enthalten. Wir denken sofort: Die sind wie wir.
Sie kommen von einem vergleichbaren Ansatz. Allerdings gehen die Anfänge bei ihnen auf das Jahr 1982 zurück, bei uns auf 2002. Sie haben also sehr viel mehr Erfahrung, mehr Zeit und eine Fülle von Antworten auf Fragen, die wir uns gerade erst beginnen zu stellen.
Wir müssen also hin. Sechs Kolleginnen und Kollegen der Projektgruppe beantragen eine Fortbildungsreise und im Juni 2005 ist es dann so weit. Wir fliegen nach Berlin.
Erste Eindrücke
Unser erster Eindruck ist ...
überwältigend. Kurz nach 07:00 h kommt vor dem Eingang des großen
alten Backsteingebäudes ein kleiner Lehrertrupp auf uns zu: „Sie
müssen die Crailsheimer sein, dann kommen sie mal mit." Wir bekommen
einen auf uns zugeschnittenen Stundenplan in die Hand und dann geht es los.
„Alles jetzt, alles gleich und alles schnell. Zackzack", denken wir und sind beeindruckt. Und dann die Regeln: immer nur zwei in eine Klasse und man ist sofort Hilfslehrer. Regeln stehen überhaupt im Mittelpunkt. Alle halten sich daran. Die Lehrenden demonstrativ und vorbildlich, die Lernenden mit einem gewissen Stolz. Es ist neu für sie. Ein Drittel kommt aus Elternhäusern, in denen man von Sozialhilfe lebt. Sie sind die einzigen, die morgens aufstehen. Wenn sie - ohne Mütze, Kaugummi, Handy, aber mit allem Material (Materialkontrolle!) - in die Schule kommen, ist das ihr Eintritt in die Zivilisation, in die Welt der Arbeit.
Und gearbeitet wird hier. Das ist schnell klar. Alle sind hier, um zu arbeiten. Es wird einfach gelernt. In Gruppen zu zwölf oder 24, mit einer oder zwei Lehrkräften in einer Lerngruppe.
Basiskompetenzen
Man hat Trainingsschleifen, Förderunterricht morgens vor der ersten Stunde. Basiskompetenzen ist eines der Zauberworte. Deutsch, Mathe, also Reden, Lesen, Schreiben, Rechnen - alles andere kommt danach.
Binnendifferenzierung, die auf die Qualifikationsunterschiede von zwei Jahren in einer Klasse eingeht, findet in allen Übungsstunden statt. Die Schüler durchlaufen im Schnelldurchgang ihre bisher absolvierten sechs Schuljahre. Das, was sie können, wird abgehakt, alles, was sie nicht können, geübt, selbst wenn es die Addition im Zahlenraum von eins bis zehn ist. Das war beinahe die größte Überraschung für uns. Wie kompromisslos man darauf setzt, dass eben einfach alles funktioniert. Und wie rückhaltlos die Realität als Ausgangspunkt akzeptiert wird. Und wie wenig man jammert.
Alles hier darzustellen, was sich in dieser Schule abspielt, würde Seiten füllen. Es gibt, abgesehen davon, eine Homepage, die ausführlich und genau ist.
Was wir mitnehmen (Konsequenzen)
Wir haben uns umgehend daran gemacht, unsere vielfältigen Erkenntnisse in das Konzept der zweijährigen Berufsfachschule einzubauen.
Elterngespräche
Ab dem Schuljahr 2005/06 gibt es Elterngespräche. Wir führen in Lehrer/innen-Tandems, nach Möglichkeit gemischtgeschlechtlich, jeweils ungefähr 20-minütige Gespräche mit den Eltern unserer Schülerinnen und Schüler. Dazu haben wir einen Fragebogen ausgearbeitet, an dem wir uns orientieren, und ein Formular, das von den Eltern unterschrieben werden muss.
Eingangstests
Es gibt in den allgemein bildenden Kernfächern Eingangstests nach einem wissenschaftlich abgesicherten Blindverfahren. Grundlage dafür sind die Vergleichstests der achten Klasse Realschule. Danach wird ein Klassenranking erstellt, das die Basis für Binnendifferenzierungen liefert. Man kann so die Klasse in zwei, drei oder mehr Leistungsgruppen unterteilen und entweder homogene oder auch heterogene Lerngruppen bilden.
Lernfortschritte in sinkenden Fehlersäulen darstellen
Die Einzelergebnisse beispielsweise der Deutschdiktate werden in Blockdiagrammen dargestellt, so genannten Fehlersäulen. Nach einem halben Jahr werden die Tests wiederholt und die Fehlersäulen ergänzt. Lernfortschritte nach einem und nach zwei Jahren können so exakt bestimmt werden. Die Schülerinnen und Schüler sehen sie und fühlen sich bestätigt.
Nacharbeitsstunde
Die beiden Nacharbeitsstunden sollen von denjenigen, die in allen Tests schlecht abgeschnitten haben, regelmäßig besucht werden. Die beaufsichtigenden Kolleginnen und Kollegen überprüfen die Unterlagen, beraten, geben die Arbeitsaufträge der Fachlehrerschaft weiter und leisten allgemeine Lebenshilfe. Die Gruppe wird nach der Wiederholung der Tests neu zusammengestellt.
Verkürztes Contracting
Das Contractingverfahren wird etwas verkürzt. Über manche Forderungen unsererseits wird es keine Diskussion mehr geben.
Wir haben die Berliner gefragt, ab wann sie aufgehört hätten, über Basics zu diskutieren und sie sagten: „Nach ungefähr zehn Jahren." Unsere Lehrervorstellungen werden vorformuliert und von uns aus eingegeben.
Fotos
Beeindruckt waren wir auch von der affektiven Zuwendung
der Lehrkräfte im Einzelgespräch, der nachhaltigen individuellen
Unterstützung.
Die Klassenlehrer/-innen hängen Fotos von Schülerinnen und Schülern,
die etwas besonders gut gemacht haben, Projektsituationen, Sportwettbewerbe
u. ä. vor den Klassenzimmern in großen Rahmen auf, um ihre Anerkennung
auszudrücken.
Klassenversammlung
Es werden regelmäßige Klassenversammlungen abwechselnd in den großen Fächergruppierungen oder auch in den Nebenfächern abgehalten, in denen ausgetauscht wird, was gut und was schlecht war, so dass es ein gemeinsames Forum gibt.
Auf jeden Fall sind wir mit Enthusiasmus und neu gestärkten Kräften aus Berlin zurückgekommen.
Wir haben gesehen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wir haben auch gesehen, dass er noch weit ist. Aber wir packen es an.