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Vortrag: Neu im Bildungsplan 2016

Eines der größten Missverständnisse hinsichtlich der Abfolge von Bildungsplänen ist die Annahme, mit dem jeweils neuesten Bildungsplan wären alle Entscheidungen und Inhalte früherer Pläne grundständig und ein für alle Mal aufgehoben. Vielmehr zeigen sich erneuernde Zielrichtungen oft gerade nicht in revolutionären Runderneuerungen, sondern in einigen klar bestimmbaren Neuakzentuierungen. Diese allerdings verdienen Beachtung und bewirken (hoffentlich) die eine oder andere didaktische Neuorientierung.

 

Eine kurze Beschreibung der Unterschiede zwischen dem Bildungsplan 2004 und dem Bildungsplan 2016 in der Klassenstufe 9/10

  1. Im Bereich „Mensch“ setzt der Bildungsplan 2016 einen deutlichen Akzent auf die Thematisierung der Menschenrechte und bringt damit eine Kategorie ins Spiel, die in den vielfältigen Spannungen und Konflikten in der Gegenwart oftmals zu einer Auseinandersetzung mit Begründungen für Menschenwürde und Menschenrechten führt [3.3.1(2) sich mit Begründungen für Menschenwürde und Menschenrechte auseinandersetzen (zum Beispiel Ebenbild Gottes, Rechtfertigung)]. Diese Neuorientierung ist auch deshalb so bemerkenswert, als Begriff und Sache der Menschenrechte auch in den inhaltlich oft stark konturierten Themenfeldern des Bildungsplanes von 2004 nicht auftaucht.
    Ein weiterer konkretisierender Gang auf ein ethisches Entscheidungsfeld findet sich in der Kompetenz 3.3.1(4): „Die Schülerinnen und Schüler können sich mit Ausprägungen von Liebe, Partnerschaft, Sexualität auseinandersetzen (zum Beispiel in kultureller Bedingtheit, gesellschaftlichem Wandel, medialer Darstellung, biblischer Deutung)“. Dadurch wird gerade auch ein für die höhere Klassenstufe höchst relevanter und altersgruppenspezifisch sensibler Aspekt des Menschseins in den Religionsunterricht eingebracht.
  2. Bereich „Welt und Verantwortung“: Hier fällt bei zwei Kompetenzen der höhere Konkretionsgrad im Abschreiten ethischer Entscheidungsfelder auf. Hatte der Bildungsplan 2004 "aktuelle ethische Probleme" zum Erprobungsfeld von zwei "gegenwärtig relevanten ethischen Ansätzen" ausgemacht, so formuliert der Bildungsplan 2016 das Theorie-Praxisverhältnis anders. Konsequenzen ethischer Ansätze sollen nun anhand „der Frage der Selbstbestimmung des Menschen“ [3.3.2(1)] erläutert werden. Zudem sollen „utilitaristische Ethik und Pflichtenethik“ anhand von Fallbeispielen miteinander verglichen werden [vgl. 3.3.2(3)]. Die ethischen Aussagen der Bibel, die im Bildungsplan 2004 noch als Entscheidungskriterien einer „normenkritischen Urteilsbildung“ spezifiziert wurden, werden im Bildungsplan 2016 in ihrem Verhältnis von „Zuspruch und Anspruch“ [3.3.2(3)] kategorisiert. Hier wurde der Zugang zur ethischen Thematik mit klar erkennbaren theologischen Markern versehen.
    Ferner wird deutlich, dass im Bildungsplan 2016 im Bereich „Welt und Verantwortung“ die Wirklichkeitsthematik stärker akzentuiert wurde: „Die Schülerinnen und Schüler können „unterschiedliche Deutungen der Wirklichkeit (...) darstellen“ [3.3.2(4)].
  3. Der Bereich „Bibel“ wird in der Perspektive des Bildungsplans 2004 zum Erprobungsfeld für eine Anwendung historisch-kritischer Methodik formatiert.
    Dieser Aspekt kommt auch im Bildungsplan 2016 zum Tragen. Er wird sogar explizit terminologisch ausgewiesen: Die Schülerinnen und Schüler können „die Entstehung biblischer Texte aus historisch-kritischer Perspektive exemplarisch erläutern“[3.3.3(2)]. Allerdings wird darüber hinausgehend der Blick auf den Umgang mit den heiligen Schriften erheblich erweitert und zwar einmal um die Perspektive eines existentiellen Zuganges zur Bibel [3.3.3 (3)]; zum anderen wird die hermeneutische Grundfrage nach dem Verständnis heiliger Schriften über den Bereich der christlich-jüdischen Tradition hinaus auf andere Religionen ausgeweitet [3.3.3(4)].
  4. Bereich „Gott“. Hier sind deutliche Unterschiede zwischen den beiden Bildungspläne zu verzeichnen. Die im Bildungsplan 2004 noch prominent formulierte Brüchigkeit bzw. Angefochtenheit des Glaubens an Gott „nach Auschwitz“ wird im BP2016 so nicht mehr aufgeführt. Stattdessen wird nun vom Bildungsplan für den Unterricht vorgesehen, „sich mit Argumenten für und gegen die Existenz Gottes“ auseinanderzusetzen[3.3.4(2)]. Die „Sprachformen der Bibel als Ausdruck unterschiedlicher Erfahrungen mit Gott“ sind im BP2016 nicht mehr erwähnt. Art und Umfang des Religionenvergleichs hinsichtlich der Gottesfrage (mit seinen Referenzpunkt „fernöstliche Religionen“) bleibt dagegen erhalten [vgl. 3.3.4(3)].
  5. Bereich „Jesus Christus“. Wurde vorher die Bergpredigt als Ausweis des „Vollmachtanspruches Jesu“ thematisiert, so fokussiert der Bildungsplan 2016 dem gegenüber den Blick auf die Spannung zwischen „Anstößigkeit und Aktualität“ von Mt 5-7 für unsere Gegenwart. Neu ist im Bildungsplan 2016 auch die gewichtige Orientierung auf den Tod und die Auferstehung Jesu als Grund der christlichen Hoffnung und als thematischer Vergleichspunkt zu „anderen religiösen und philosophischen Vorstellungen“ [3.3.5(3)] über den Tod.
  6. Bereich „Kirche und Kirchen“. Im Bildungsplan 2004 findet sich in den beiden Kompetenzformulierungen eine deutliche Konzentration auf das Verhältnis von Kirche und Nationalsozialismus. Dem wird einmal beim Bildungsplan 2016 in gewissermaßen entfalteter Weise entsprochen. Die Schülerinnen und Schüler sollen nämlich zum einen einige geschichtliche Stationen zum Verhältnis von Christen und Juden entdecken. Zum anderen wird eine exemplarische Beschäftigung mit dem Verhältnis zwischen „Kirche und Staat“ bzw. „Kirche und autoritären Regimen“ in den Bildungsplan eingeschrieben. Einen neuen Akzent bietet der Bildungsplan allerdings, wenn die Schülerinnen und Schüler nun auch „Kennzeichen und historischen Wurzeln unterschiedlicher Kirchen und Denominationen […] erläutern“ [3.3.6(3)] sollen.
  7. Im Bereich „Religionen und Weltanschauungen“ finden sich im Bildungsplan 2016 gegenüber dem Vorgänger einerseits deutliche Bündelungs- und Verdichtungstendenzen. Im BP2004 wurden nämlich noch für den Buddhismus und den Hinduismus je separat einzelne Aspekte ausgewiesen, wie zum Beispiel: „Bedeutung des Mönchtums“ (für den Buddhismus), „Verständnis von Leben und Tod“, und zwar jeweils im Vergleich mit den Vorstellungen des Christentum u.a.m. Der Bildungsplan 2016 verlegt diesen vergleichenden Aspekt in eine entsprechende Kompetenz im Bereich „Jesus Christus“ [vgl. dazu 3.3.5(3)]. Für den Bereich „Religionen und Weltanschauungen“ wird mit der Kompetenz 3.3.7(1) avisiert, dass die Schülerinnen und Schüler „Ausprägungen und religiöse Praxis einer fernöstlichen Religion erläutern und mit christlichen Erlösungsvorstellungen vergleichen können“.
    Neben diesen verdichtenden Momenten finden sich andererseits auch Tendenzen der Erweiterung. So wird eine Auseinandersetzung mit dem Fundamentalismus [vgl. 3.3.7(2)] und mit „Erscheinungsformen von Religion“ [3.3.7(3)] erwartet. An dieser Stelle wird als mögliches Beispiel ausdrücklich der Animismus genannt. Dadurch entkommt die Beschäftigung mit dem Religionenthema einer Verengung auf die sog. „Weltreligionen“ wenn im Unterricht von nicht-christlichen Religionen die Rede sein soll.

 

Einige Aspekte zur Gesamtbewertung der Veränderungen im Bildungsplan für die Klassenstufen 9/10

  1. Bereich „Mensch“: Die gegenwärtigen politischen Konflikte und Krisenszenarien lassen die Menschenrechte in den öffentlichen Debatten und im öffentlichen Bewusstsein immer wieder als entscheidende Parameter für die Humanisierung des individuellen und gesellschaftlichen Lebens erscheinen. Die durchaus nicht spannungsfreie Einigung auf ihren Geltungsanspruch stellt inmitten einer pluralen Gesellschaft auch für eine religiöse Begründung ethischen Handelns einen zentralen Bezugspunkt dar.
  2. Bereich „Welt und Verantwortung“. Veränderte gesellschaftliche, gesellschaftspolitische und auch religionspolitische Parameter werden an einigen Stellen aufgenommen. Dies gilt beispielsweise für die prominente Thematisierung vonSelbstbestimmung im ethischen Kontext (vgl. oben unter 1.1.). Die auch religionspädagogisch immer relevanter werdende spezifische Subjektorientierung in einer pluralistisch verfassten Gesellschaft wird dabei nicht einfach unkritisch überhöht1. Sie wird aber als vielfältig greifbare und auch verfassungsrechtlich verbürgte Voraussetzung ethischen Handelns ausdrücklich ernst genommen. Allerdings werden die problematischen Überhöhungen der Subjektivität als Entscheidungsinstanz auch kritisch befragbar, wenn unterrichtlich nach den Begründungszusammenhängen der Selbstbestimmung gesucht wird. Das hat Gründe: Eine unkritische Begründung für die Wertschätzung einer „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) kann im christlichen Religionsunterricht nicht stattfinden.
  3. Bereich „Bibel“. Eine verengende Konzentration auf die Thematisierung historisch-kritischer Exegese soll im Unterricht nach Möglichkeit vermieden werden. Dabei bleibt es (explizit) didaktisch einzulösender Standard, dass die historisch-kritische Methode als unverzichtbares Instrument gegenwärtig relevanter Bibelauslegung bleibt. Die Arbeit an letzten, existentiell relevanten Begründungszusammenhängen und facettenreichen Wahrheitsansprüchen der Heiligen Schrift wird aber nicht beiseitegeschoben. Dies gilt gerade auch bei der Fragestellung nach dem Geltungsanspruch von Heiligen Schriften in nicht-christlichen Religionen.
  4. Bereich „Gott“. Die im BP 2016 terminologisch nicht mehr sichtbare Verbindung der Gottesfrage mit dem Holocaust darf nicht als die erinnerungspolitische Suspension der Holocaust-Thematik missverstanden werden. Dies zeigt sich schon an der Zusammenstellung der „Möglichen Fachbegriffe“ zur einschlägigen Kompetenz 3.3.6(2), wie sie im Bildungsplan hinterlegt ist [„Deutsche Christen; Kirche und Juden nach Auschwitz; Shoah“]. Wohl aber ist es nicht zuletzt eine generationelle Aufgabe, die notwendige Erinnerungsarbeit so zu gestalten, dass sie von der jeweiligen Jugend- bzw. Schülergeneration auch intensiv gehört werden kann. Einer bloßen Historisierung ist damit nicht das Wort geredet – es sei denn, man (miss)versteht die Thematisierung von (Christentums)Geschichte im Religionsunterricht generell als „Abhaken“ von historischen Informationen.
  5. Bereich „Jesus Christus“. Sowohl die neue Perspektive in Richtung auf die Anstößigkeit und Aktualität der Bergpredigt als auch der religionsvergleichende Horizont bei der Thematik „Auferstehung“ sind darauf aus, den unterrichtlichen Umgang mit Botschaft und Geschichte Jesu Christi nicht nur im Bereich der historischen Information über „Zeit / Umwelt / Verkündigung“ zu belassen. Die auf jeweilige Gegenwartskonstellationen zielenden Fragestellungen wollen vielmehr Ausgangspunkte für einen existentiell relevanten Umgang mit der Person und der Botschaft Jesu Christi sein.
  6. Bereich „Kirche und Kirchen“. Ähnlich wie für den Bereich „Jesus Christus“ oder für den Bereich „Gott“ schlägt der Bildungsplan 2016 einen Weg in Problemfelder der Gegenwart ein. Das Verhältnis zwischen Kirche und staatlicher Gewalt ist so nicht nur als historisch Fassbares, sondern als gegenwärtig relevantes Thema anvisiert. Die Beschäftigung mit unterschiedlichen Konfessionen und Denominationen für den Religionsunterricht insgesamt macht zugleich deutlich: Der religionspädagogisch oftmals allein auf den interreligiösen Kontakt projizierter Pluralisierungsaspekt kann durchaus (variiert!) als eine im Bereich der christlichen Kirchen selbst angesiedelte Gegebenheit identifiziert werden. Schülerinnen und Schüler können präziser erkennen: Es gibt auch verschiedene „Christentümer“.
  7. Bereich „Religionen und Weltanschauungen“. Die komparatistisch gebrauchte Kategorie der „Erlösung“ als gemeinsames Strukturmerkmal von Buddhismus, Hinduismus und Christentum kann wegen der implizit behaupteten, aber nicht stabil bestehenden anthropologischen Gemeinsamkeiten durchaus kritisch betrachtet werden. Allerdings ist unter didaktischen Gesichtspunkten auch kritisch zurückzufragen: Unter welchen Parametern erscheint es sinnvoll, in der Schule divergierende anthropologische Konzepte in Religionen zu vergleichen? Zudem erscheint der Begriff der „Erlösung“ der Sache nicht zuletzt im Hinblick auf religiöse Praktiken im Hinduismus (Yoga) und im Buddhismus (Meditation) durchaus praktikabel zu sein, wenn man in religiösen Praktiken „Erlösungswege“ mit sehr präzise formulierten Entlastungsperspektiven sieht.

 

1 Vgl. zur Ambivalenz einer Überhöhung der Subjektivität: Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017, bes. S. 7-26.

 

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