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M28

Die 2-fache Lektüre von Texten

1. Die historische Sachebene

Es gibt die Lektüre, die die historischen Umstände und Verankerungen von Texten befragt. Hier wird versucht, sachlich zu klären, wie wohl die Welt aussah, die die Texte beschreiben; wie sahen beispielsweise Handelsschiffe zur Zeit Jesu aus, wie viel Kaufkraft hatten 2 Lepta (vgl. Mk 12,42), wie viel Macht hatte König Herodes, welche Gesetze galten? An was also haben Zuhörende der Zeit im ersten Moment und ganz pragmatisch gedacht, wenn sie gewisse Begriffe hörten.

Eine solch historisch-sachliche Lektüre bedenkt aber auch die mögliche Entwicklung der Begriffe und Zusammenhänge und analysiert zum einen, woher sie kommen oder in welchen Texten (v.a. alttestamentlichen und solchen aus dem jüdischen und hellenistischen Umfeld) sie zuvor schon wichtig waren. Zum anderen wird versucht, inhaltliche Unterschiede zu diesen älteren oder anderen, gleichzeitigen Vergleichs-Text zu bestimmen, um Argumente dafür zu finden, wie Autoren gewisse Begriffe weiterentwickelt oder sogar neu mit Inhalten ausgerüstet haben. Diese Lektüreperspektive nennt sich in ihrer methodischen Zusammenschau auch „historisch-kritische Methodik“.

Leitfragen können sein:

  • Was bedeutet dieses Wort dieses Motiv, dieser Zusammenhang sachlich?
  • In welchen historischen Kontext gehört mein Material und was gehört eigentlich noch in diesen Zusammenhang?
  • Woher kommt dieses Wort/ Motiv: Welcher Text/Autor hat das schon mal verwendet? Was sollte damit höchstwahrscheinlich sachlich gesagt werden; worauf wird angespielt?
  • Wo liegen die Unterscheide zu bereits bekanntem Material? Was macht das Besondere gerade meines Materials aus?

2. Die theologisch-poetische Textebene

In dieser Lektüre wird ernst genommen, dass gerade biblische Texte in vielen Passagen mit sog. „Tropen“ arbeiten; diese sind Formen uneigentlicher oder bildlicher Rede (wie Metapher, Metonymie, Gleichnis, Symbol), die nie direkt und vollständig sagen, was sie denn vielleicht meinen. Im theologischen Kontext liegt die Verwendung von Tropen nahe, da das Reden über Gott (also die Theo-Logie – gr. für Theos: Gott und logos=Wort/Rede) mit einem Gegenstand zu tun hat, der gerade durch seine Unverfügbarkeit und sein Ganz-anders-Sein charakterisiert ist. Gleichzeitig aber sind solche Tropen Redefiguren, die einem Inhalt eine besondere Offenheit und zugleich auch eine (z.T. gewollte) Interpretationsbedürftigkeit erhalten können. Dies zum Beispiel dort, wo Autoren es auf genau solch unabschließbare Über-Tragungen (vgl. die Übersetzung von gr. Meta-pher als Über-Tragung) abgesehen haben. Vielleicht um einen Stoff virulent zu halten, oder um die eigene Unsicherheit bezüglich des „wahren“ Sachverhalts auszudrücken.

Jesus selbst sagt, dass er Gleichnisse verwendet, damit die Zuhörenden zwar sehen und hören aber eben nicht (!) verstehen (vgl. Mk 4,12). Es geht Jesus und biblischer Sprache allgemein nicht etwa darum, Zuhörende „für blöd zu verkaufen“, sondern mit den Tropen auf eine Wirklichkeitsebene zu verweisen, die jenseits pragmatischer und rationaler Verstehensbegriffe zu finden ist. Hier geht es zum Beispiel um Begriffe wie „Reich Gottes“, „Sohn Gottes“, „Auferstehung“, „Vergebung“ u.a., die gewisse Glaubensaussagen beinhalten, welche auf einer Interpretations-oder Wahrnehmungsebene liegen, auf die der Text nur hinweisen kann, die er aber selbst keinesfalls 1:1 abbilden oder einlösen könnte. Der Text ist hier im wahrsten Sinne ein Medium, ein Ort des Zwischen und der Vermittlung. In ihm öffnet sich hier ein Interpretationsraum, der sich gerade nicht mehr als eine rationale Wahrheit aussagen lässt. Es ließe sich auch sagen, die Idee einer solchen Wahrheit wird durch eine poetische Bewegung hin zu etwas ersetzt, das sich als solches nie wird festhalten lassen können.

Eine solch poetische Lektüreperspektive spürt sensibel den vom Text gesetzten tropischen Besonderheiten nach und versucht, diese in ihrer Verweisfunktion ernst zu nehmen: Hier kann es sowohl um das äußere Inventar eines Textes (seine Personen, Landschaften, Gegenstände, Farben, Zeiten, Szenen, Konstellationen etc.) gehen als genauso um sein Inneres; also seine Stimmungen, Emotionen, Atmosphären, Wiederholungen, Brüche und Verluste. Eine solche Interpretation muss im erweiterten Kon-Text der analysierten Perikope (=episodenhafter Sinnabschnitt), bestenfalls aber am Ganz-Text, z.B. einem Evangelium, plausibilisiert werden.

Leitfragen können sein:

  • Welche Emotionen zeigt der Text (Wut, Trauer, Freude, Verletzungen)?
  • Welche Begriffe sind möglicherweise als Tropen mit Hinweischarakter eingesetzt (zB. Berge als Orte der Gottesbegegnung, Wolken als Gottesverschleierung, ganze Szenen als sprechende Bilder: Wunder, Heilungen, Auferstehungen, Speisungen etc.)?
  • Welche rhetorischen Stilmittel sind auffällig und indizieren etwas Besonderes (Wiederholungen, Kontraste, Brüche, Korrespondenzen)?

Beide Lektürewege schließen sich keinesfalls aus, sondern bedingen, ergänzen und befördern sich gegenseitig – gerade ihr Wechselspiel kann zu ständig neuen Ergebnissen und neuen Denkanstößen führen.

Beide Perspektiven verbindend kann hier auch nach dem Autor des Textes und seinen möglichen historisch-pragmatischen und theologischen Schreibintentionen gefragt werden. Gerade im Verhältnis zu möglichen Vergleichstexten ähnlichen plots oder Inhalten, lässt sich auf die mögliche Intention des Autors, sein Schreib-Ziel schließen (z.B. die besondere theologische Ansprache an gewisse Hörer_innenkreise).

Es darf hierbei aber nicht vergessen werden, dass nicht alle Texte sofort mit einer eigentlichen Ziel- und Wirkungs-Pragmatik zu identifizieren sind und sich gerade theologische Texte genau nicht auf ein solches Ziel (noch dazu im Singular) festlegen lassen. Es darf davon ausgegangen werden, dass gerade biblische Autoren selbst emotional-theologisch und poetisch-existentiell in ihren Gegenstand verstrickt sind – soweit, dass sie mitunter ihren Text selbst nicht kontrolliert, geschweige denn auf ein pragmatisches Ziel hin abgestellt hätten. Mitunter können sie ihre eigenen Intentionen gar nicht kennen - für die Psalmen oder auch die Evangelien ließe sich hier z.B. an Trauer- oder Verlusterfahrungen-/bewältigungen denken.

Arbeitsauftrag: Überprüft in der Gruppe anhand des Textes weitere Methoden der Textanalyse und Interpretation. Beurteilt im Rückblick auf das bisher zu Mk 8,14-21 Herausgefundene, was methodisch sinnvoll war und welche Dimensionen des Textes bisher noch nicht befragt worden sind. Formuliert Fragen an den Text, die bisher noch keine Antwort erhalten haben.

 

Unterrichtssequenz: „Die Bibel öffnet Räume“: Herunterladen [docx][2 MB]

Unterrichtssequenz: „Die Bibel öffnet Räume“: Herunterladen [pdf][1005 KB]

 

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