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Exegese im Zwischen
In Mk 8, 19.20 zitiert Jesus die Speisungen der 5000 und die de 4000 um den Jünger_innen klar zu machen, dass sie jetzt, da sie mit nur einem Brot im Gepäck das Schiff besteigen und sich „vor dem Sauerteig der Pharisäer und dem Sauerteig des Herodes“ in Acht nehmen müssen (8,15), nicht etwa glauben sollten (wie sie untereinander gerade diskutieren), dieses nur eine Brot könnte nicht reichen.
Aus rhetorischer Perspektive wird hier innerhalb einer Boots-Szenerie nicht nur der Sauerteig als Metapher eingesetzt, auch die Speisungserzählungen funktionieren wie Metaphern, die sozusagen als sprechende Bilder mit Nachdruck belegen sollen, was die Jünger_innen gerade zu vergessen scheinen: Mit dem „nur“ einen Brot an Bord haben sie alles, was sie brauchen, um gegen den Sauerteig erfolgreich „anzurudern“; sie müssten sich also nicht beschweren. Da ihnen das Verständnis für diesen Zusammenhang aber offenbar doch fehlt, präsentiert uns der Text einen Jesus, der sich genau hierüber über alle Maßen aufregt: „Versteht ihr noch nicht und begreift ihr nicht? Habt ihr denn ein verhärtetes Herz in euch? (8,17). Und Jesus wird sogar ironisch: „Ihr habt Augen, und seht nicht? habt Ohren und hört nicht?“ … „Begreift ihr denn noch nicht“? (8,21). Die wiederholten rhetorischen Fragen unterstreichen die Brisanz der Situation.
Aber was passiert hier? Handelt es sich nicht gerade um DIE Jünger_innen Jesu, also die allerersten, die doch verstehen müssten – und die hier nun gegen alle unsere Erwartung nicht verstehen? Oder sind es nun nur wir, die nicht verstehen?
Die Jünger_innen werden hier vor Ereignisse wie vor Bilder gestellt, die mitunter erneut mit Bildern argumentieren, so, dass der Blick nun plötzlich aus den Bildern auf die Jünger_innen fällt: „Versteht Ihr denn noch nicht“: Es scheint, als überfordere diese Situation die Wahrnehmung in gewisser Weise.
In der verkomplizierten Spannung der Szenerie erleben Rezipierende heute Ähnliches: Die rhetorischen Fragen Jesu be-treffen, be-rühren nach wie vor. Was wirklich auf die Verstehensfrage zu antworten wäre, ist keinesfalls geklärt, die emotionale Verstrickung der Rezipierenden funktioniert, da sie genauso aus den durch den Text hervorgebrachten Bildern angeblickt werden wie die Jünger_innen zur Zeit Jesu.
Was würden wir dem 'Blick' Jesu antworten? Was hätte es zu verstehen gegeben? Was hätten uns die Speisungserzählungen beigebracht? Überträgt sich also die Wirkung der Bilder-Szenerien auf uns: Ein gewisses Unbehagen - angesichts des nur einen Brotes, aber auch angesichts der Rede und Fragen Jesu? Ist es die „Gemütsreaktion“/der Affekt Jesu auf das Unverstehen der Jünger und deren Unbehagen, das wiederum uns zur „Gemütsreaktion“/ zum Affekt - wird, so dass sich die Bewegung des Textes aus dem Text heraus fortsetzt und eine Wiederholungsimpuls beschreibbar wird, der weder zu kontrollieren noch zu stoppen ist?
Was sich ankündigt, ist eine alternative Art der Textbetrachtung: Es geht hier nicht darum, Verstehen zu organisieren und vorausgesetzte Text-Inhalte vermessbar und aussagbar zu machen, sondern darum, die Text-Bewegung, den 'Blick' des Textes, das, was aus dem Text herausweist und sich aus ihm herausbewegt, ernst zu nehmen und damit als zwar durchaus erfahrbar aber gleichzeitig als nicht vereinnahmbar zu schützen.
Hier ginge es nicht mehr um ein Wahr oder Falsch von Inhalten, die wir aus dem Text heraus destillieren, sondern um eine Text-Begegnung oder Text-Berührung in einem Zwischen. Es geht darum, sich in die Bewegungsräume des Textes so einzuschreiben, dass Erfahrungen beschreibbar werden, die notwendigerweise unsere je spezifischen und kontextgebundenen eigenen sind. Ohne also davon ausgehen zu können, dass diese verallgemeinerbar wären oder über das „Eigentliche des Textes“ etwas sagen könnten - dieses „Eigentliche“, das dabei als zentralperspektivisches Zentrum des Textes in Frage gerät.
Georges Didi-Huberman hat versucht, für die Bildbetrachtung einen solchen Zugang zu beschreiben: Er geht davon aus, dass Bilder ihre Wirksamkeit nicht nur der Vermittlung von Wissen verdanken, sondern „im Gegenteil ihre Wirksamkeit im Geflecht, wenn nicht im Wirrwarr von übermitteltem und zerlegtem Wissen, von erzeugtem und umgewandelten Nicht-Wissen zum Zuge kommt.“1
Für die Exegese würde dies bedeuten, dass das Beobachten der beobachtenden Jünger dazu führt, dass Nachfolge bereits ein (emotionales) Ereignis der Evangelienrezeption sein kann, welches seine Berührung und Bewegung weiterträgt. Allerdings kommt jede Beschreibung der Bewegung notwendigerweise zu spät, denn diese ließe sich nie halten, sie wäre immer schon auf dem Weg ihres eigenen Entzugs.
Wie also sprechen? Suchen wir in dieser scheinbar ausweglosen Situation nach einer Beschreibungssprache, hilft die Klärung der sichtbaren (materialen) Umstände, die auf den zweiten Blick für unseren unsichtbaren Zwischen-Zustand verantwortlich sind: Die Szenerie (Boot-Szene, Abfahrt ins Ungewisse), die Metaphern (Brot, Sauerteig, Speisungen), die rhetorischen Fragen und Wiederholungen (Versteht Ihr denn noch nicht), die emotionalen Elemente (Habt ihr verhärtete Herzen?). Hier lässt sich aufklären: Vielleicht ging es nie um das Verstehen; weder um das der Jünger noch um unser Verstehen. Vielleicht sollte vor allem die emotionale Betroffenheit Jesu deutlich werden. War die Erinnerung an die Speisungen wichtig, um genau diese Erinnerung für alles Kommende wach zu halten? Sind die Metaphern ein Spiel? Boot-Fahren als Über-Setzung hin zu etwas: Zum Sauerteig der Pharisäer/der Herodesleute, also zu denen, die Jesus fangen und töten wollen? Das eine Brot soll dazu reichen? Brot begegnet auch im Abendmahl: als Leib Jesu; könnte das auch hier gemeint sein? Und erinnern die Boot-Szenen nicht genauso an die mit Jesu Hilfe überstandenen Sturm-Szenerien in Mk 4 und 6?
Bilder und Metaphern lassen sich also mit Recht quer-verbinden und mit Inhalten ausrüsten, die über das bloß Faktische und sofort Sichtbare hinausgehen.
1 G. Didi-Huberman, Vor einem Bild, Paris 1990, S. 23.
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