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M29

Ex­ege­se im Zwi­schen

In Mk 8, 19.20 zi­tiert Jesus die Spei­sun­gen der 5000 und die de 4000 um den Jün­ger_in­nen klar zu ma­chen, dass sie jetzt, da sie mit nur einem Brot im Ge­päck das Schiff be­stei­gen und sich „vor dem Sau­er­teig der Pha­ri­sä­er und dem Sau­er­teig des He­ro­des“ in Acht neh­men müs­sen (8,15), nicht etwa glau­ben soll­ten (wie sie un­ter­ein­an­der ge­ra­de dis­ku­tie­ren), die­ses nur eine Brot könn­te nicht rei­chen.

Aus rhe­to­ri­scher Per­spek­ti­ve wird hier in­ner­halb einer Boots-Sze­ne­rie nicht nur der Sau­er­teig als Me­ta­pher ein­ge­setzt, auch die Spei­sungs­er­zäh­lun­gen funk­tio­nie­ren wie Me­ta­phern, die so­zu­sa­gen als spre­chen­de Bil­der mit Nach­druck be­le­gen sol­len, was die Jün­ger_in­nen ge­ra­de zu ver­ges­sen schei­nen: Mit dem „nur“ einen Brot an Bord haben sie alles, was sie brau­chen, um gegen den Sau­er­teig er­folg­reich „an­zu­ru­dern“; sie müss­ten sich also nicht be­schwe­ren. Da ihnen das Ver­ständ­nis für die­sen Zu­sam­men­hang aber of­fen­bar doch fehlt, prä­sen­tiert uns der Text einen Jesus, der sich genau hier­über über alle Maßen auf­regt: „Ver­steht ihr noch nicht und be­greift ihr nicht? Habt ihr denn ein ver­här­te­tes Herz in euch? (8,17). Und Jesus wird sogar iro­nisch: „Ihr habt Augen, und seht nicht? habt Ohren und hört nicht?“ … „Be­greift ihr denn noch nicht“? (8,21). Die wie­der­hol­ten rhe­to­ri­schen Fra­gen un­ter­strei­chen die Bri­sanz der Si­tua­ti­on.

Aber was pas­siert hier? Han­delt es sich nicht ge­ra­de um DIE Jün­ger_in­nen Jesu, also die al­ler­ers­ten, die doch ver­ste­hen müss­ten – und die hier nun gegen alle un­se­re Er­war­tung nicht ver­ste­hen? Oder sind es nun nur wir, die nicht ver­ste­hen?

Die Jün­ger_in­nen wer­den hier vor Er­eig­nis­se wie vor Bil­der ge­stellt, die mit­un­ter er­neut mit Bil­dern ar­gu­men­tie­ren, so, dass der Blick nun plötz­lich aus den Bil­dern auf die Jün­ger_in­nen fällt: „Ver­steht Ihr denn noch nicht“: Es scheint, als über­for­de­re diese Si­tua­ti­on die Wahr­neh­mung in ge­wis­ser Weise.

In der ver­kom­pli­zier­ten Span­nung der Sze­ne­rie er­le­ben Re­zi­pie­ren­de heute Ähn­li­ches: Die rhe­to­ri­schen Fra­gen Jesu be-tref­fen, be-rüh­ren nach wie vor. Was wirk­lich auf die Ver­ste­hens­fra­ge zu ant­wor­ten wäre, ist kei­nes­falls ge­klärt, die emo­tio­na­le Ver­stri­ckung der Re­zi­pie­ren­den funk­tio­niert, da sie ge­nau­so aus den durch den Text her­vor­ge­brach­ten Bil­dern an­ge­blickt wer­den wie die Jün­ger_in­nen zur Zeit Jesu.

Was wür­den wir dem 'Blick' Jesu ant­wor­ten? Was hätte es zu ver­ste­hen ge­ge­ben? Was hät­ten uns die Spei­sungs­er­zäh­lun­gen bei­ge­bracht? Über­trägt sich also die Wir­kung der Bil­der-Sze­ne­ri­en auf uns: Ein ge­wis­ses Un­be­ha­gen - an­ge­sichts des nur einen Bro­tes, aber auch an­ge­sichts der Rede und Fra­gen Jesu? Ist es die „Ge­müts­re­ak­ti­on“/der Af­fekt Jesu auf das Un­ver­ste­hen der Jün­ger und deren Un­be­ha­gen, das wie­der­um uns zur „Ge­müts­re­ak­ti­on“/ zum Af­fekt - wird, so dass sich die Be­we­gung des Tex­tes aus dem Text her­aus fort­setzt und eine Wie­der­ho­lungs­im­puls be­schreib­bar wird, der weder zu kon­trol­lie­ren noch zu stop­pen ist?

Was sich an­kün­digt, ist eine al­ter­na­ti­ve Art der Text­be­trach­tung: Es geht hier nicht darum, Ver­ste­hen zu or­ga­ni­sie­ren und vor­aus­ge­setz­te Text-In­hal­te ver­mess­bar und aus­sag­bar zu ma­chen, son­dern darum, die Text-Be­we­gung, den 'Blick' des Tex­tes, das, was aus dem Text her­aus­weist und sich aus ihm her­aus­be­wegt, ernst zu neh­men und damit als zwar durch­aus er­fahr­bar aber gleich­zei­tig als nicht ver­ein­nahm­bar zu schüt­zen.

Hier ginge es nicht mehr um ein Wahr oder Falsch von In­hal­ten, die wir aus dem Text her­aus de­stil­lie­ren, son­dern um eine Text-Be­geg­nung oder Text-Be­rüh­rung in einem Zwi­schen. Es geht darum, sich in die Be­we­gungs­räu­me des Tex­tes so ein­zu­schrei­ben, dass Er­fah­run­gen be­schreib­bar wer­den, die not­wen­di­ger­wei­se un­se­re je spe­zi­fi­schen und kon­text­ge­bun­de­nen ei­ge­nen sind. Ohne also davon aus­ge­hen zu kön­nen, dass diese ver­all­ge­mei­ner­bar wären oder über das „Ei­gent­li­che des Tex­tes“ etwas sagen könn­ten - die­ses „Ei­gent­li­che“, das dabei als zen­tral­per­spek­ti­vi­sches Zen­trum des Tex­tes in Frage gerät.

Ge­or­ges Didi-Hu­ber­man hat ver­sucht, für die Bild­be­trach­tung einen sol­chen Zu­gang zu be­schrei­ben: Er geht davon aus, dass Bil­der ihre Wirk­sam­keit nicht nur der Ver­mitt­lung von Wis­sen ver­dan­ken, son­dern „im Ge­gen­teil ihre Wirk­sam­keit im Ge­flecht, wenn nicht im Wirr­warr von über­mit­tel­tem und zer­leg­tem Wis­sen, von er­zeug­tem und um­ge­wan­del­ten Nicht-Wis­sen zum Zuge kommt.“1

Für die Ex­ege­se würde dies be­deu­ten, dass das Be­ob­ach­ten der be­ob­ach­ten­den Jün­ger dazu führt, dass Nach­fol­ge be­reits ein (emo­tio­na­les) Er­eig­nis der Evan­ge­li­en­re­zep­ti­on sein kann, wel­ches seine Be­rüh­rung und Be­we­gung wei­ter­trägt. Al­ler­dings kommt jede Be­schrei­bung der Be­we­gung not­wen­di­ger­wei­se zu spät, denn diese ließe sich nie hal­ten, sie wäre immer schon auf dem Weg ihres ei­ge­nen Ent­zugs.

Wie also spre­chen? Su­chen wir in die­ser schein­bar aus­weg­lo­sen Si­tua­ti­on nach einer Be­schrei­bungs­spra­che, hilft die Klä­rung der sicht­ba­ren (ma­te­ria­len) Um­stän­de, die auf den zwei­ten Blick für un­se­ren un­sicht­ba­ren Zwi­schen-Zu­stand ver­ant­wort­lich sind: Die Sze­ne­rie (Boot-Szene, Ab­fahrt ins Un­ge­wis­se), die Me­ta­phern (Brot, Sau­er­teig, Spei­sun­gen), die rhe­to­ri­schen Fra­gen und Wie­der­ho­lun­gen (Ver­steht Ihr denn noch nicht), die emo­tio­na­len Ele­men­te (Habt ihr ver­här­te­te Her­zen?). Hier lässt sich auf­klä­ren: Viel­leicht ging es nie um das Ver­ste­hen; weder um das der Jün­ger noch um unser Ver­ste­hen. Viel­leicht soll­te vor allem die emo­tio­na­le Be­trof­fen­heit Jesu deut­lich wer­den. War die Er­in­ne­rung an die Spei­sun­gen wich­tig, um genau diese Er­in­ne­rung für alles Kom­men­de wach zu hal­ten? Sind die Me­ta­phern ein Spiel? Boot-Fah­ren als Über-Set­zung hin zu etwas: Zum Sau­er­teig der Pha­ri­sä­er/der He­ro­des­leu­te, also zu denen, die Jesus fan­gen und töten wol­len? Das eine Brot soll dazu rei­chen? Brot be­geg­net auch im Abend­mahl: als Leib Jesu; könn­te das auch hier ge­meint sein? Und er­in­nern die Boot-Sze­nen nicht ge­nau­so an die mit Jesu Hilfe über­stan­de­nen Sturm-Sze­ne­ri­en in Mk 4 und 6?

Bil­der und Me­ta­phern las­sen sich also mit Recht quer-ver­bin­den und mit In­hal­ten aus­rüs­ten, die über das bloß Fak­ti­sche und so­fort Sicht­ba­re hin­aus­ge­hen.

 

1 G. Didi-Hu­ber­man, Vor einem Bild, Paris 1990, S. 23.

 

Un­ter­richts­se­quenz: „Die Bibel öff­net Räume“: Her­un­ter­la­den [docx][2 MB]

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Wei­ter zu M30