Kompetenzmodell des Sprechens und Zuhörens
Ein fachdidaktisch etabliertes Modell, das den gesamten Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören umfasst, ist m. W. nicht verfügbar. Das hier vorgeschlagene Modell führt verschiedene Ansätzen aus dem Bereich des Sprechens und Zuhörens zusammen. Hier werden oft einzelne Bereiche in den Blick genommen (z. B. Zuhören bei PISA und nach dem Lesemodell von Rosebrock/Nix: Gschwend 2014, Behrens/Krelle 2014, Kröger-Bidlo 2018, Behrens/Düsing 2022; Gesprächskompetenz: Becker-Mrotzek 2009, Krelle 2022; Präsentieren Pabst-Weinschenk 2022 nebst einer Fülle von Literatur zur praktischen Rhetorik; übergreifend Honnef-Becker/Kühn 2019).
Die Unterscheidung von hierarchiehohen und hierarchieniedrigen Kompetenzen spielt in diesem Kompetenzbereich in der wissenschaftlichen Diskussion eine untergeordnete Rolle (lediglich angedeutet Becker-Mrotzek 2009a, 76 ff.). Dies mag daran liegen, dass man beim Sprechen und Zuhören von Beginn der Schulzeit an von einer Grundbeherrschung der hierarchieniedrigen Kompetenzen ausgeht. Gleichwohl besteht auch hier bis in höheres Alter u. U. Förderbedarf (etwa hinsichtlich multimo- daler Wahrnehmung, Körpersprache, Konzentration, …)
Grundsätzlich könnte man die Frage stellen, inwieweit es sich beim Sprechen und Zuhören überhaupt um einen konsistenten Kompetenzbereich handelt – auch wenn dies explizit kaum je infrage gestellt wird und die gängigen Kompetenzmodelle davon ausgehen. Das Paradigma einer engen Verschränkung von mündlicher Produktion und Rezeption ist das Gespräch. Die Ansätze der Zuhördidaktik orientieren sich (mit gewisser Plausibilität) an Modellen der Lesekompetenz (vgl. z. B. Gschwend 2014, Kröger-Bidlo 2018) oder des Schreibens. Man kann hier indes darauf verweisen, dass auch in Situationen des Vortrages etwa, wo Produktion und Rezeption klar rollenverteilt und insofern getrennt sind und wo sprachlich eher Register der bildungssprachlichen konzeptionellen Schriftlichkeit („sekundäre Mündlichkeit“ nach Ong) leitend sind, sind beide immer noch in einer Situation korrespondierend aufeinander bezogen, wo eine beständige Wechselwirkung besteht.
Was ist das Spezifische des Kompetenzbereiches Sprechen und Zuhören? Man kann es im Begriff der Situation bündeln (vgl. dazu auch Fiehler 2009). Das Agieren in einer gemeinsamen Handlungssituation ist immer zentral geprägt von der Beziehungsebene (Watzlawick, Schulz von Thun). Sie ist basal für das gemeinsame kommunikativen Handeln; auf ihr baut sozusagen die Sachebene auf. Aus der Situationalität lassen sich weitere Dimensionen der Mündlichkeit ableiten:
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mehrere Aktanden mit der Möglichkeit variabler Rollenübernahme und Sprecherwechsel
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Textsorten der Mündlichkeit: Hier sind zur Unterscheidung der unabsehbaren Fülle mündlicher Textsorten verschiedene Unterscheidungen fruchtbar. Sie spannen jeweils ein kontinuierliches Spektrum von Textsorten auf:
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monologisch vs. dialogisch. Diese Unterscheidung betont, dass auch Gespräche Texte sind. Ihr Spezifikum liegt darin, dass dieser Text mehrere Produzenten hat und in Struktur und Inhalt weniger planbar und apriori festgelegt ist.
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symmetrisch vs. asymmetrisch je nach situationaler, kompetenzbedingter, sozialer oder machtabhängiger Hierarchie der Aktanden.
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kooperativ vs. agonal
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geringere Normiertheit bei höherer Redundanz. Festlegungen sind potentiell einer Aushandlung zugänglich. Die Option spontaner Klärungssequenzen macht weniger verständnissichernde Normen in Sprache und Aufbau erforderlich. Gleichwohl ist die Mündlichkeit oft konservativer, weil bekannte Muster gerade in ihrer potentiellen Offenheit Orientierung geben. Für den Grad der Normiertheit ist die Unterscheidung konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit leitend.
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Zeitlichkeit: Mündliche Sprechhandlungen vollziehen sich stets in der Zeit. Dies impliziert zwei Aspekte:
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Prozessualität und Sequenzialität: pragmatische und semantische Einheiten (Gedanken, Wissen, Gefühle, Absichten, Handlungen usw.) müssen in Teilhandlungen zerlegt und diese müssen in eine zeitliche Abfolge gebracht werden. Dieser komplexe Organisationsprozess lässt u. U. viel Gestaltungraum.
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Flüchtigkeit: mündliche Sprechhandlungen werden im Moment hervorgebracht und müssen im Gedächtnis bewahrt werden, um überhaupt als kopräsenter Zusammenhang wahrgenommen werden zu können und damit auch als sinntragende Handlungen greifbar zu werden. Bei längeren mündlichen Texten stellen sich hohe Herausforderungen ans Arbeits- und Kurzzeitgedächtnis, was entsprechende Strategien erfordert, um damit umzugehen.
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Multitmodalität des körperlichen Sprechhandelns:
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Artikulation und Identifikation von Wort- und Satzstrukturen im phonetischen Kontinuum
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Parasprachliche Mittel (Prosodie, Betonung)
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Körpersprache (Mimik, Gestik, Proxemik, Haltungsecho)
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Deixis
Dies impliziert auch die Notwendigkeit, mit der Parallelkodierung umgehen zu müssen (Kongruenz zur Bestätigung, Verstärkung, Betonung; Widersprüche als Indikatoren von Unglaubwürdigkeit, Verschleierung oder Ironie)
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Alle Formen medialer Vermittlung haben natürlich je unterschiedlichen Einfluss auf die Ausprägung der Mündlichkeitsaspekte. Durch Medien gewinnen die Aspekte der Distanzkommunikation an Bedeutung. Dies zeigt sehr deutlich: Die Abgrenzung konzeptioneller Schriftlichkeit und Mündlichkeit ist keine harte Unterscheidung, sondern benennt Pole eines Kontinuums von kommunikativen Formen.
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