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Me­dia­ti­on

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Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.


Sie kann lä­cheln

In­klu­si­on be­deu­tet: Be­hin­der­te Kin­der sol­len nicht aus­ge­schlos­sen wer­den. Un­se­re Au­to­rin San­dra Roth such­te einen Kin­der­gar­ten­platz für ihre schwer­be­hin­der­te Toch­ter.
Von San­dra Roth


Lotta soll in den Kin­der­gar­ten gehen? Ben lacht. „Die kann doch gar nicht gehen.“ Lotta ist zwei und so schwer be­hin­dert, dass sie sich nicht mal an der Nase krat­zen kann, ihr Bru­der Ben ist fünf und einer der we­ni­gen Men­schen, die das Wort be­hin­dert so aus­spre­chen wie blond oder klei­ne Schwes­ter. „Wie geht das, Mama?“, fragt Ben und lacht schon wie­der. „Lotta kann nicht Fan­gen spie­len, nicht sin­gen, nicht malen ...“ Was macht ein Kind im Kin­der­gar­ten, das so viel wohl nie ler­nen wird? Den an­de­ren zu­se­hen kann sie auch nicht, sie ist auch schwer seh­be­hin­dert. „Lä­cheln“, sagt Ben. „Das kann sie da. Kin­der­gar­ten ist lus­tig, Mama.“ – „Genau“, sage ich. Reicht das?

Lotta wurde mit einer Ge­fäß­fehl­bil­dung im Kopf ge­bo­ren, einer so­ge­nann­ten Vena-Ga­le­ni-Mal­for­ma­ti­on. Ein Teil des sau­er­stoff­rei­chen Bluts in ihrem Kopf nahm schon wäh­rend der Schwan­ger­schaft eine Ab­kür­zung – am Ge­hirn vor­bei. Heute steht auf ihrem Be­hin­der­ten­aus­weis „100 Pro­zent“ und in ihren Arzt­brie­fen „schwer mehr­fach“ und „spas­ti­sche Ce­re­b­ral­pa­re­se“, sie be­kommt Pfle­ge­stu­fe 3 und macht große Fort­schrit­te dabei, ihren Kopf ge­ra­de zu hal­ten.

Sie lacht, wenn im Radio Mi­cha­el Jack­son läuft, und gurrt wie eine Taube, wenn Ben sich neben sie legt und ihr vom Kin­der­gar­ten er­zählt. Sie hat blon­de Lo­cken, große Augen und Knie, die immer nach innen zei­gen. Jede Woche ab­sol­viert sie The­ra­pie­stun­den bei der Phy­sio­the­ra­peu­tin, der Lo­go­pä­din und der so­ge­nann­ten Seh­früh­för­de­rung, bei der sie schon ge­lernt hat, ihre Augen nicht kul­lern zu las­sen, son­dern still zu hal­ten. Sie macht Fort­schrit­te – weil sie ge­för­dert wird. /…/

2009 hat Deutsch­land die UN-Be­hin­der­ten­rechts­kon­ven­ti­on ra­ti­fi­ziert, in dem Jahr, in dem Lotta ge­bo­ren wurde. In­klu­si­on heißt das Stich­wort dazu. In­te­gra­ti­on hieß: Du darfst mit­ma­chen – wenn du dich an­passt. In­klu­si­on heißt: Wir ge­hö­ren alle zu­sam­men. Die in­klu­si­ve Ge­sell­schaft soll kei­nen mehr aus­schlie­ßen. Alle Men­schen haben bei­spiels­wei­se An­spruch auf den glei­chen Zu­gang zu Bil­dung, alle Kin­der sol­len auf die glei­chen Schu­len gehen kön­nen. Das ist ein Men­schen­recht. Im Mo­ment gehen in Deutsch­land nur circa 25 Pro­zent der Schü­ler mit För­der­be­darf auf Re­gel­schu­len, in an­de­ren Län­dern sind es 85 Pro­zent. Das soll sich än­dern. Nur wie? Sol­len die Son­der­schu­len ge­schlos­sen wer­den – so wie der Kin­der­gar­ten in Köln ge­schlos­sen wurde? Sol­len sie ge­öff­net wer­den für an­de­re Kin­der? Wie soll sie aus­se­hen – die „eine Schu­le für alle“? /…/

Nach vie­len Be­mü­hun­gen ge­lingt es der Au­to­rin ihre Kin­der ge­mein­sam in einem Kin­der­gar­ten un­ter­zu­brin­gen.

Jedes Mal, wenn ich Lotta nach dem Mit­tags­schlaf ab­ho­le, finde ich am Schwar­zen Brett einen Zet­tel mit allen Kin­der­na­men. Unter „Fin­ken­grup­pe, Lotta“ steht: „Lotta hat heute mit Theo und Kofi ge­bas­telt.“ – „Ge­bas­telt?“, frage ich Ka­ta­ri­na, die Er­zie­he­rin. „Habt ihr euch nicht im Kind ge­irrt?“ – „Nein“, sagt sie lä­chelnd. „Die an­de­ren haben Watte auf Pappe ge­klebt, und Lotta hat mit den Hän­den drauf­ge­drückt, bis der Kle­ber tro­cken war.“ Ben steht neben mir und küsst Lotta. „Jetzt kannst du auch schon bas­teln“, sagt er. Kofi kommt und küsst Lotta auf die an­de­re Backe. „Das ist meine Lotta“, sagt Ben. „Komm, wir gehen.“ – „Die an­de­ren Kin­der hal­ten noch Ab­stand, oder?“, sage ich zu Ka­ta­ri­na. „Ja, die wis­sen nicht so ganz, wie sie Lotta ein­ord­nen sol­len. Aber Ida ist neu­gie­rig, die traut sich be­stimmt bald.“ Ida hat ge­ra­de lau­fen ge­lernt. Latz­ho­se, rote Haare, Kuh­fell­pan­tof­feln. Lotta heißt bei ihr Lolla.

Es kom­men die Tage, an denen mor­gens Zora an­ruft und darum bit­tet, dass wir Lotta heute nicht in den Kin­der­gar­ten brin­gen. Es sind zu viele Er­zie­her krank: „Wir schaf­fen das heute nicht.“ Es kom­men die Tage, an denen ich mich frage, wann sich die an­de­ren El­tern be­schwe­ren wer­den, weil die Er­zie­her zu viel Zeit für mein Kind auf­wen­den und zu wenig für ihres. Wie lange kön­nen wir ohne In­te­gra­ti­ons­hel­fer wei­ter­ma­chen? Ich gehe zu einer An­wäl­tin und lasse mich be­ra­ten. „Es kommt mir vor, als schö­ben sich die Ämter ge­gen­sei­tig die Ver­ant­wor­tung zu. Als hoff­ten sie, dass wir auf­ge­ben ...“ Das sei kein Ein­zel­fall, sagt die An­wäl­tin. Viel­leicht müs­sen wir vor Ge­richt zie­hen. „Vie­len El­tern bleibt keine an­de­re Wahl. Die Ämter las­sen es dar­auf an­kom­men.“ /…/

Wenn ich sie in den Kin­der­gar­ten brin­ge, lacht Lotta. Wenn Ida und Kofi in den Flur stür­men, fängt sie an zu stram­peln vor Freu­de. Sie macht mehr Laute als frü­her, sie ist wa­cher, sie pro­fi­tiert. /…/ Ja, das funk­tio­niert. Sie wird dort ge­för­dert, und sie hat mir ge­zeigt, dass etwas an­de­res für sie ge­nau­so wich­tig ist: Freun­de fin­den und mit ihnen zu­sam­men sein. Dafür ist es un­wich­tig, ob sie mit­sin­gen kann oder nur „Hei“ gur­ren. Wir haben Er­zie­her ge­fun­den, die fast ein gan­zes Jahr lang neben dem nor­ma­len Be­trieb Lotta mit­ge­tra­gen haben. Frei­wil­lig. Wir haben er­fah­ren, wie sehr man um staat­li­che Un­ter­stüt­zung für die­ses per­sön­li­che En­ga­ge­ment kämp­fen muss. Wir haben end­lich die För­der­mit­tel und eine In­te­gra­ti­ons­hel­fe­rin be­wil­ligt be­kom­men – es hat elf Mo­na­te ge­dau­ert statt vier Wo­chen. Sie heißt Bella und sagt: „Lotta be­wegt sich so viel, ich glau­be, dass die ir­gend­wann krab­belt.“ Unser Kin­der­gar­ten wird im nächs­ten Jahr das nächs­te be­hin­der­te Kind auf­neh­men. Und ich werde die­sen Herbst an­fan­gen, mir Schu­len für Lotta an­zu­se­hen. /…/

Quel­le: DIE ZEIT Nº 34/2013 Ak­tua­li­siert 23. Au­gust 2013 17:25 Uhr

 


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http://​die­pres­se.​com/​home/​kul­tur/​film/​581930/​Pablo-​Pi­ne­da_​Ich-​bin-​nicht-​krank

 

 

Me­dia­ti­ons­auf­ga­be zu Sie kann lä­cheln: Her­un­ter­la­den [doc] [38 KB]

Me­dia­ti­ons­auf­ga­be zu Yo tam­bi­en: Her­un­ter­la­den [doc] [13 KB]