Intertextualität
Nach Abschluss der Aufgaben und fragend-entwickelnden Impulsen durch die Lehrkraft verstehen die Schülerinnen und Schüler den Begriff der Intertextualität.
Definitionsvorschlag
Literarische Texte sind in der Regel durch zwei Arten des Bezugs gekennzeichnet. Sie beziehen sich auf
- Personen, Ereignisse, Raum und Zeit einer fiktiven Welt und
- andere literarische Texte.
Bezüge zu anderen literarischen Texten werden „intertextuell“ genannt. Für das Verständnis und die Interpretation eines literarischen Textes sind beide Bezüge relevant. Das Auffinden und Deuten von intertextuellen Bezügen gilt als anspruchsvoll, da es die Kenntnis von anderen Texten und literaturgeschichtlichen Zusammenhängen voraussetzt.
Fachlicher Exkurs: Die Odyssee als Vergils Vorlage
Es ist offenkundig, dass auch Vergil beim Verfassen des sechsten Buchs Vorlagen benutzte. Als maßgebliche Vorlage gilt Homers elftes Buch der Odyssee. Die beiden epischen Bücher sind in ihrer Struktur und ihrer Funktion innerhalb des Epos durchaus vergleichbar. Auf der Reise des epischen Helden stellen sie jeweils einen Wendepunkt dar. Beide Protagonisten empfangen Zukunftsweisungen, die ihnen den weiteren Verlauf der Reise eröffnen. Bei Homer sind bereits zahlreiche Orte, Figuren und Motive angelegt, die in Vergils Unterweltsbuch Einzug halten. Zu nennen sind die religiösen Riten, die Prophezeiungen oder auch die Begegnung mit den Seelen der Verstorbenen.
Auch wenn Vergil die Bezüge zu Homers Prätext erkennen lässt, schafft der römische Dichter dennoch eine in hohem Maße eigenständige Erzählung. Beispielhaft lässt sich dies an der Figur des Anchises zeigen. Er ist keineswegs eine Nachahmung oder Entsprechung des Sehers Teiresias. Dieser weist Odysseus den weiteren Weg seiner Irrfahrt und versichert ihm die Rückkehr in seine Heimat Ithaka. Vergil greift die Prophezeiung auf, legt sie jedoch in den Mund der Sibylle, die Aeneas noch vor der Katabasis die in Italien bevorstehenden Kämpfe ankündigt. Anchises’ Rolle ist eine andere. Er spricht zu Aeneas in der Unterwelt zunächst als ein Weiser, der ihm die Seelenwanderung erläutert, sodann als enigmatischer Prophet. Mit der Heldenschau verlässt Anchises die Ebene der mythischen Handlung und wendet sich der römischen Geschichte und Gegenwart zu. Seine Prophezeiung richtet sich folglich weniger an Aeneas, dem der Inhalt unverständlich bleiben muss, als vielmehr an den Leser. Gleichzeitig wird in Vater Anchises Odysseus’ Begegnung mit der verstorbenen Mutter Antikleia aufgegriffen und variiert.
Ein Unterschied besteht ferner in der räumlichen Konzeption der beiden epischen Bücher. Homers Unterwelt liegt jenseits der geographisch bekannten Regionen, an den Grenzen des Okeanos, während Vergil den Hades gemäß der römischen Tradition am Avernersee bei Cumae verortet. Odysseus lässt mit Hilfe des Teiresias die Seelen der Verstorbenen an die Oberfläche treten. Es liegt demnach keine Katabasis vor, sondern eine Nekyia. Aeneas hingegen überschreitet die Schwelle zur Unterwelt und erkundet diese unter der Führung der Sibylle. Anders als bei Homer nimmt Vergils Erzähler den Leser gleichsam mit hinein in die Räume und Regionen der Unterwelt.
Ein weiterer Unterschied zwischen Homer und Vergil wird in der narrativen Konzeption deutlich. Homers Unterweltsbuch ist als Binnenerzählung auf einer sekundären Erzählebene angesiedelt. Die äußere Handlung ist angehalten. Odysseus weilt am Hof der Phäaken, wo er von den Irrfahrten, darunter von seiner Reise zur Unterwelt, analeptisch (als Rückblende) berichtet. Bei Vergil wird hingegen in der dritten Person erzählt und die Handlung schreitet auf der primären Erzählebene voran. Aeneas erreicht von Sizilien kommend Cumae, steigt dort in die Unterwelt hinab, kehrt zurück und reist mit seinen Gefährten weiter nach Latium.
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