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Stun­den 9 und 10

Ist der Mensch ein frei­es Kul­tur­we­sen?

Der Mensch ist ein Kul­tur­we­sen und bleibt als sol­cher ein Ge­fan­ge­ner sei­ner Kul­tur.

Ani­mal sym­bo­li­cum und Frei­heit

Ernst Cas­si­rer (1874-1945) gilt als Pio­nier der Kul­tur­phi­lo­so­phie. Er lehr­te als Pro­fes­sor für Phi­lo­so­phie in Ham­burg (1919-1933), nach der Emi­gra­ti­on in Ox­ford, Gö­te­burg und in den USA. Sein Haupt­werk ist die drei Bände um­fas­sen­de „Phi­lo­so­phie der sym­bo­li­schen For­men“(1923-1929). Eine Zu­sam­men­fas­sung sei­ner Phi­lo­so­phie, ge­nau­er sei­ner An­thro­po­lo­gie, Er­kennt­nis­theo­rie, Sprach­phi­lo­so­phie und Kul­tur­phi­lo­so­phie, fin­det sich in sei­nem Werk „Ver­such über den Men­schen. Ein­füh­rung in eine Phi­lo­so­phie der Kul­tur“(1944).

„Ver­gli­chen mit den an­de­ren Wesen, lebt der Mensch nicht nur in einer rei­che­ren, um­fas­sen­de­ren Wirk­lich­keit; er lebt so­zu­sa­gen in einer neuen Di­men­si­on der Wirk­lich­keit. Es be­steht ein un­ver­kenn­ba­rer Un­ter­schied zwi­schen or­ga­ni­schen „re­ac­tions“ (Re­ak­tio­nen) und mensch­li­chen „re­s­pon­ses“ (Ant­wort-Re­ak­tio­nen). Im ers­ten Fall wird di­rekt, un­mit­tel­bar eine Ant­wort auf einen äu­ße­ren Reiz ge­ge­ben; im zwei­ten Fall wird die Ant­wort auf­ge­scho­ben. Sie wird un­ter­bro­chen und durch einen lang­sa­men, kom­ple­xen Denk­pro­zess ver­zö­gert. […]

Be­kannt­lich sind tie­ri­sche Ge­sell­schaf­ten in vie­len ihren Leis­tun­gen dem Wir­ken nicht nur gleich­ran­gig, son­dern sogar über­le­gen. Man hat oft dar­auf hin­ge­wie­sen, dass Bie­nen beim Baum ihrer Waben wie per­fek­te Geo­me­ter ar­bei­ten und dabei höchs­te Prä­zi­si­on und Ge­nau­ig­keit be­wei­sen; eine sol­che Tä­tig­keit setzt ein sehr kom­ple­xes Ko­or­di­na­ti­ons- und Ko­ope­ra­ti­ons­sys­tem vor­aus. Doch bei all die­sen tie­ri­schen Leis­tun­gen fin­den wir nir­gend­wo in­di­vi­du­el­le Dif­fe­ren­zie­rung. Über­all wer­den sie auf die glei­che Weise und gemäß den­sel­ben un­ver­än­der­li­chen Re­geln aus­ge­führt. Es bleibt kein Spiel­raum für in­di­vi­du­el­le Ent­schei­dun­gen oder in­di­vi­du­el­les Ta­lent. […] Jede Ver­voll­komm­nung, zu der ein Or­ga­nis­mus im Laufe sei­ner in­di­vi­du­el­len Ge­schich­te ge­langt, ist auf sein ei­ge­nes Da­sein be­schränkt und be­ein­flusst das Leben der Spe­zi­es nicht. […]

Aber der Mensch hat eine neue Me­tho­de ge­fun­den, um sein Wir­ken zu sta­bi­li­sie­ren und „fort­zu­pflan­zen“. Er kann sein Leben nicht leben, ohne es zum Aus­druck zu brin­gen. Die ver­schie­de­nen Arten die­ses Aus­drucks bil­den eine neue Sphä­re. Sie be­sit­zen ein Ei­gen­le­ben, eine Art von Ewig­keit, in der sie die flüch­ti­ge Exis­tenz des Ein­zel­nen über­dau­ern. In allen mensch­li­chen Ak­ti­vi­tä­ten be­geg­nen wir einer grund­le­gen­den Po­la­ri­tät, die sich auf un­ter­schied­li­che Weise be­schrei­ben lässt. Wir könn­ten von einer Span­nung zwi­schen Ver­fes­ti­gung und Evo­lu­ti­on spre­chen, zwi­schen einer Ten­denz, die zu fes­ten, sta­bi­len For­men führt, und einer an­de­ren Ten­denz, die die­ses stren­ge Sche­ma auf­bricht. Der Mensch steht zwi­schen die­sen bei­den Ten­den­zen, von denen die eine alte For­men zu be­wah­ren sucht, wäh­rend die an­de­re neue her­vor­zu­brin­gen strebt. Er herrscht ein un­ab­läs­si­ger Kampf zwi­schen Tra­di­ti­on und In­no­va­ti­on, zwi­schen re­pro­du­zie­ren­den und krea­ti­ven Kräf­ten. Auf die­sen Dua­lis­mus trifft man in allen Kul­tur­be­rei­chen; un­ter­schied­lich ist nur das je­wei­li­ge Kräf­te­ver­hält­nis zwi­schen ge­gen­sätz­li­chen Fak­to­ren. Mal scheint der eine, mal der an­de­re zu über­wie­gen. […]

Er [der Mensch] lebt nicht mehr in einem bloß phy­si­ka­li­schen, son­dern in einem sym­bo­li­schen Uni­ver­sum. [Spra­che], My­thos, Kunst und Re­li­gi­on sind Be­stand­tei­le die­ses Uni­ver­sums. Sie sind die viel­ge­stal­ti­gen Fäden, aus denen das Sym­bol­netz, das Ge­spinst mensch­li­cher Er­fah­rung ge­webt ist. Aller Fort­schritt im Den­ken und in der Er­fah­rung ver­fei­nert und fes­tigt die­ses Netz. Der Mensch kann der Wirk­lich­keit nicht un­mit­tel­bar ge­gen­über­tre­ten; er kann sie nicht mehr als di­rek­tes Ge­gen­über be­trach­ten. Die phy­si­sche Rea­li­tät scheint in dem Maße zu­rück­zu­tre­ten, wie die Sym­bol­träch­tig­keit des Men­schen an Raum ge­winnt. Statt mit den Din­gen hat es der Mensch nun gleich­sam stän­dig mit sich selbst zu tun. So sehr hat er sich mit sprach­li­chen For­men, künst­le­ri­schen Bil­dern, my­thi­schen Sym­bo­len oder re­li­giö­sen Riten um­ge­ben, dass er nichts sehen oder er­ken­nen kann, ohne dass sich die­ses ar­ti­fi­zi­el­le Me­di­um zwi­schen ihn und die Wirk­lich­keit schö­be.

Dabei ist in der theo­re­ti­schen Sphä­re die Si­tua­ti­on für ihn die glei­che wie in der prak­ti­schen. Auch hier lebt er nicht in einer Welt har­ter Tat­sa­chen und ver­folgt nicht un­mit­tel­bar seine Be­dürf­nis­se oder Wün­sche, son­dern viel­mehr in­mit­ten ima­gi­nä­rer Emo­tio­nen, in Hoff­nun­gen und Ängs­ten, in Täu­schun­gen und Ent­täu­schun­gen, in sei­nen Phan­ta­si­en und Träu­men. […] Oft hat man die Spra­che mit der Ver­nunft gleich­ge­setzt oder in ihr ge­ra­de­zu die Quel­le der Ver­nunft ge­se­hen. Aber man er­kennt leicht, dass diese De­fi­ni­ti­on nicht das ge­sam­te Feld be­schreibt. […] Denn neben der be­griff­li­chen Spra­che gibt es eine emo­tio­na­le Spra­che, neben der lo­gi­schen oder wis­sen­schaft­li­chen Spra­che gibt es eine Spra­che der poe­ti­schen Phan­ta­sie. Zu­al­ler­erst drückt die Spra­che nicht Ge­dan­ken oder Ideen aus, son­dern Ge­füh­le und Af­fek­te. […]

Unter dem Ge­sichts­punkt, den wir hier be­zeich­net haben, kön­nen wir die klas­si­sche De­fi­ni­ti­on des Men­schen kor­ri­gie­ren und er­wei­tern. […] Der Be­griff der Ver­nunft ist höchst un­ge­eig­net, die For­men der Kul­tur in ihrer Fülle und Man­nig­fal­tig­keit zu er­fas­sen. Alle diese For­men sind sym­bo­li­sche For­men. Des­halb soll­ten wir den Men­schen nicht als ani­mal ra­tio­na­le, son­dern als ani­mal sym­bo­li­cum de­fi­nie­ren. Auf diese Weise kön­nen wir eine spe­zi­fi­sche Dif­fe­renz be­zeich­nen und ler­nen wir be­grei­fen, wel­cher neuer Weg sich ihm öff­net – der Weg der Zi­vi­li­sa­ti­on.

Im Gan­zen ge­nom­men, könn­te man die Kul­tur als den Pro­zess der fort­schrei­ten­den Selbst­be­frei­ung des Men­schen be­schrei­ben. Spra­che, Kunst, Re­li­gi­on und Wis­sen­schaft bil­den un­ter­schied­li­che Pha­sen in die­sem Pro­zess. In ihnen allen ent­deckt und er­weist der Mensch eine neue Kraft – die Kraft, sich eine ei­ge­ne, eine „idea­le“ Welt zu er­rich­ten.“

(Aus: Cas­si­rer, Ernst (1944/1996): Ver­such über den Men­schen. Ein­füh­rung in eine Phi­lo­so­phie der Kul­tur. Ham­burg: Mei­ner, S. 49-51, 338f., 345f., Ver­öf­fent­li­chung mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung des Felix Mei­ner Ver­lags)

Ar­beits­auf­trä­ge

  1. Stellt in einer Ta­bel­le dar, wo­durch sich der Mensch vom Tier nach Ernst Cas­si­rer un­ter­schei­det.
  2. Er­läu­tert an­hand eines Bei­spiels Cas­si­rers Be­zeich­nung des Men­schen als „ani­mal sym­bo­li­cum“.
  3. Be­grün­det, warum Cas­si­rer den Pro­zess der Kul­tur als einen der „fort­schrei­ten­den Selbst­be­frei­ung des Men­schen“ be­greift.
  4. Dis­ku­tiert an zwei aus­ge­wähl­ten Bei­spie­len Cas­si­rers These von Selbst­be­frei­ung des Men­schen durch kul­tu­rel­le Ent­wick­lung.

Um­set­zungs­bei­spiel Frei­heit und Selbst­ver­ständ­nis des Men­schen: Her­un­ter­la­den [docx][86 KB]

Um­set­zungs­bei­spiel Frei­heit und Selbst­ver­ständ­nis des Men­schen: Her­un­ter­la­den [pdf][602 KB]

Wei­ter zu Stun­den 11 und 12