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Bei­spiel­klau­sur

Klau­sur­vor­schlag

Tho­mas Pi­ket­ty: Ei­gen­tum muss per­ma­nent um­ver­teilt wer­den

(Aus­zug aus einem In­ter­view mit Tho­mas Pi­ket­ty [17] aus dem Phi­lo­so­phie Ma­ga­zin Nr. 3/2020)

Phi­lo­so­phie Ma­ga­zin: Herr Pi­ket­ty, ste­hen Sie der Idee von Pri­vat­ei­gen­tum als sol­chem kri­tisch ge­gen­über – oder geht es Ihnen „nur“ um des­sen Um­ver­tei­lung und ge­rech­te Be­steue­rung?

Pi­ket­ty: Ich glau­be, das Pri­vat­ei­gen­tum ist eine un­ver­zicht­ba­re In­sti­tu­ti­on, um in­di­vi­du­el­le Hand­lun­gen sowie Hal­tun­gen zu ko­or­di­nie­ren. Das heißt: In­ner­halb eines ver­nünf­ti­gen Rah­mens er­mög­licht Pri­vat­ei­gen­tum Men­schen ihre Pläne zu ver­wirk­li­chen und ihre spe­zi­fi­schen Fä­hig­kei­ten zum ge­gen­sei­ti­gen Vor­teil ein­zu­set­zen. Darum soll­te in einer ge­rech­ten Ge­sell­schaft auch jeder Zu­gang zu Pri­vat­ei­gen­tum haben. Bei­spiels­wei­se schla­ge ich eine „Erb­schaft“ für alle“ von 120.000 Euro (rund 60% des Durch­schnitts­ver­mö­gen von Er­wach­se­nen) vor, das jeder mit sei­nem 25. Le­bens­jahr er­hal­ten soll­te. An­ders ge­sagt: Das Pro­blem be­steht nicht im Pri­vat­ei­gen­tum als sol­chem, son­dern viel­mehr in der ex­zes­si­ven Kon­zen­tra­ti­on von Ei­gen­tum und Macht in den Hän­den we­ni­ger. Ich möch­te eine Ge­sell­schaft, wo nicht nur ein paar we­ni­ge, son­dern jeder seine Vor­ha­ben ver­wirk­li­chen, ein Heim be­sit­zen oder ein Un­ter­neh­men grün­den kann. Woran er­ken­nen wir nun, dass die Kon­zen­tra­ti­on von Ei­gen­tum in den Hän­den we­ni­ger Men­schen ex­zes­siv wird? Dafür habe ich mir his­to­ri­sche Daten an­ge­schaut und sie mit ver­schie­de­nen Zeit­räu­men und Län­dern ver­gli­chen. Eine der Schluss­fol­ge­run­gen aus die­sem Ver­gleich be­steht darin, dass sich seit den 1980er und 1990er-Jah­ren ein enor­mer Zu­wachs an Mil­li­ar­dä­ren voll­zieht, der nicht im In­ter­es­se des All­ge­mein­wohls ist. Des­halb brau­chen wir eine grö­ße­re Um­ver­tei­lung von Reich­tum und Macht, als dies mo­men­tan der Fall ist.

Ph.M.: In Ihren Bü­chern be­nut­zen Sie die Be­grif­fe „par­ti­zi­pa­ti­ver So­zia­lis­mus“ und „trans­na­tio­na­ler So­zi­al­fö­de­ra­lis­mus“. Was be­deu­ten diese Be­grif­fe?

Pi­ket­ty: Par­ti­zi­pa­ti­ver So­zia­lis­mus ruht auf zwei Säu­len: Bil­dungs­ge­rech­tig­keit und per­ma­nen­te Um­ver­tei­lung von Ei­gen­tum. In vie­len Län­dern pro­fi­tie­ren so­zi­al be­nach­tei­lig­te Kin­der we­ni­ger von Bil­dungs­in­ves­ti­tio­nen als so­zi­al bes­ser­ge­stell­te. Die per­ma­nen­te Um­ver­tei­lung von Ei­gen­tum er­for­dert den „Erb­schaft-für-alle“ –Plan, mehr Mit­be­stim­mungs­rech­te für Ar­beit­neh­mer und eine Be­gren­zung der Mit­be­stim­mungs­rech­te von ein­zel­nen Share­hol­dern [18] in gro­ßen Un­ter­neh­men.

Die Grund­idee des So­zi­al­fö­de­ra­lis­mus be­steht wie­der­um darin, dass die so­zio­öko­no­mi­schen Be­zie­hun­gen zwi­schen Län­dern ver­bind­li­chen Zie­len so­zia­ler, fi­nan­zi­el­ler sowie öko­lo­gi­scher Ge­rech­tig­keit un­ter­ge­ord­net wer­den. An­ders ge­sagt: Man soll­te kei­nen frei­en Ka­pi­tal- und Wa­ren­ver­kehr haben, auch nicht zwi­schen eu­ro­päi­schen Län­dern, wenn es nicht gleich­zei­tig ein ge­mein­sa­mes, re­gel­ge­bun­de­nes Sys­tem von So­zi­al­plä­nen (Min­dest­lohn, Ar­beit­neh­mer­rech­te, etc.), Steu­er­ge­rech­tig­keit (ge­mein­sa­me Min­dest­be­steue­rung der größ­ten trans­na­tio­na­len Un­ter­neh­men) und Um­welt­schutz­maß­nah­men (z.B. ver­bind­li­che Ziele bei den CO2-Emis­sio­nen) gibt.

Ph.M.: Was mei­nen Sie genau, wenn Sie von „tem­po­rä­rem Ei­gen­tum“ spre­chen?

Pi­ket­ty: Ich meine, dass Be­sit­zer von Groß­ver­mö­gen Teile ihres Reich­tums pe­ri­odisch an die Ge­mein­schaft zu­rück­ge­ben soll­ten. Das pas­siert be­reits durch die Erb­schafts­steu­er, die in den USA, Japan, Groß­bri­tan­ni­en, Deutsch­land und Frank­reich bei sehr gro­ßen Ver­mö­gen der­zeit um die 30-50% liegt. In wei­ten Tei­len des 20.​Jahrhun­derts wur­den in den USA, Groß­bri­tan­ni­en und Japan bei gro­ßen Erb­schaf­ten sogar Steu­er­sät­ze von 70-80% ver­an­schlagt. Und das hin­der­te die Wirt­schaft kei­nes­wegs an Wachs­tum. Ganz im Ge­gen­teil: Der Abbau von Un­gleich­heit und der An­stieg von Mo­bi­li­tät be­feu­er­te im Laufe des 20.​Jahrhun­derts das Wirt­schafts­wachs­tum. Die Wirk­sam­keit der Erb­schafts­steu­er hat al­ler­dings ihre Gren­zen, ins­be­son­de­re in Ge­sell­schaf­ten mit hoher Le­bens­er­war­tung. Im 21. Jahr­hun­dert soll­ten wird des­halb auch pro­gres­si­ve Ver­mö­gens­steu­er nut­zen, um Macht- und Reich­tums­kon­zen­tra­ti­on zu be­gren­zen. Die Tat­sa­che, dass je­mand mit 30 eine tolle Idee hat und damit ein Ver­mö­gen ver­dient, soll­te nicht be­deu­ten, dass diese Per­son auch noch mit 50,70 oder 90 alle Ent­schei­dungs­macht auf sich ver­eint.

Ph.M.: Kann man mehr Gleich­heit ein­füh­ren, ohne dabei un­de­mo­kra­ti­sche Mit­tel ein­zu­set­zen?

Pi­ket­ty: Ja. Man kann sich hin zu einem ge­sell­schaft­li­chen und tem­po­rä­ren Ei­gen­tum be­we­gen. Man kann bei den pro­gres­si­ven Steu­ern auf Ein­kom­men, Erb­schaf­ten und Ei­gen­tum noch wei­ter gehen. Es ist mög­lich, ein Sys­tem für eine jähr­li­che Ver­mö­gens­steu­er ein­zu­rich­ten, die bei Men­schen mit wenig Be­sitz ex­trem nied­rig aus­fällt, um die 0,1 %. Für Ei­gen­tum, das einen Wert von meh­re­ren Mil­li­ar­den Euro er­reicht, schla­ge ich hin­ge­gen eine pro­gres­si­ve, sehr viel hö­he­re Steu­er vor: 50, 60, 90%. Das würde Ver­mö­gens­be­sitz von meh­re­ren Mil­li­ar­den Euro ein Ende be­rei­ten; die Mög­lich­keit von Be­sitz in Grö­ßen­ord­nung von ein paar Mil­lio­nen, sogar ein paar Dut­zend Mil­lio­nen Euro blie­be er­hal­ten. Das ist alles an­de­re als ra­di­kal.

(Das Ge­spräch führ­te Mi­chel Elt­cha­ni­n­off / Aus dem Fran­zö­si­schen von Till Bar­doux Phi­lo­so­phie Ma­ga­zin Nr. 3/2020, Phi­lo­ma­ga­zin Ver­lag GmbH, Ber­lin)

Auf­ga­ben:

  1. Er­läu­tern Sie eine Ge­rech­tig­keits­for­mel an­hand eines Bei­spiels aus der Wirt­schaft. (VP 04)
  2. Fas­sen Sie die Aus­sa­gen von Pi­ket­ty zu­sam­men, indem Sie auf seine Vor­schlä­ge zur per­ma­nen­ten Um­ver­tei­lung von Ei­gen­tum ein­ge­hen. (VP10)
  3. Prü­fen Sie, ob Pi­ket­tys Maß­nah­men zur Um­ver­tei­lung eine Dis­kri­mi­nie­rung von Wohl­ha­ben­den dar­stel­len. Gehen Sie dabei auch auf die Ar­gu­men­ta­ti­on von No­zick, Hayek oder Aris­to­te­les ein. (VP 10)
  4. Neh­men Sie ab­schlie­ßend be­grün­det Stel­lung, ob eine un­glei­che Ver­tei­lung von Ver­mö­gen un­ge­recht ist. (10 VP)

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Max: 34 VP


[17] Tho­mas Pi­ket­ty: Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler an der Paris School of Eco­no­mics und der École des hau­tes Études en sci­en­ces so­cia­les. In sei­nen Bü­chern „Das Ka­pi­tal im 21. Jahr­hun­dert“ (2013) und „Ka­pi­tal und Ideo­lo­gie“ ( 2020) kri­ti­siert er die Ver­mö­gens­kon­zen­tra­ti­on im Ka­pi­ta­lis­mus und for­dert eine Um­ver­tei­lung.

[18] Share­hol­der: In­ha­ber oder An­teils­eig­ner eines bör­sen­no­tier­ten Un­ter­neh­mens

Um­set­zungs­bei­spiel Reich­tum und Ge­rech­tig­keit: Her­un­ter­la­den [docx][102 KB]

Um­set­zungs­bei­spiel Reich­tum und Ge­rech­tig­keit: Her­un­ter­la­den [pdf][452 KB]

Wei­ter zu Li­te­ra­tur