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Ein­stieg 1: Chris­tus in Ausch­witz – die Ge­schich­te von Zofia Pos­mysz

Zofia Posmysz zum Zeitpunkt ihrer Registrierung im KZ Auschwitz im Jahr 1942. Das Bild zeigt drei Ansichten: Profilansicht von links, Frontalansicht und Profilansicht von rechts. Zofia trägt eine gestreifte Häftlingsuniform und ein Kopftuch.

Abb.: Zofia Pos­mysz zum Zeit­punkt ihrer Re­gis­trie­rung im KZ Ausch­witz (1942)

Ein Medaillon mit einer Kette. Die Vorderseite des Medaillons zeigt eine Gravur des Kopfes von Jesus Christus mit einem Heiligenschein. Die Rückseite des Medaillons ist graviert, die Schrift ist nicht gut lesbar.

Abb.: Das Chris­tus-Me­dail­lon von Zofia Pos­mysz (Vor­der­sei­te: Jesus-Kon­ter­feit; Rück­sei­te: Schrift­zug „Oświęcim“ (Pol­nisch für „Ausch­witz“) mit Dor­nen­kranz)

Zofia Pos­mysz wurde 1923 in Kra­kau (Polen) ge­bo­ren. Ihre Aus­bil­dung muss­te sie wegen des Über­falls Nazi-Deutsch­lands auf Polen 1939 ab­bre­chen. In der Zeit der deut­schen Be­set­zung be­such­te sie il­le­gal or­ga­ni­sier­ten Un­ter­richt und kam mit Un­ter­grund­pres­se in Be­rüh­rung. 1942 wurde sie de­nun­ziert und ver­haf­tet, wor­auf­hin sie in einer Straf­kom­pa­nie zu schwe­rer kör­per­li­cher Ar­beit ge­zwun­gen wurde, die viele ihrer Lei­dens­ge­nos­sin­nen nicht über­leb­ten. An­schlie­ßend kam sie ins Frau­en­la­ger von Ausch­witz-Bir­ken­au, wo im Juni 1943 eine über­ra­schen­de Wende in ihrem Leben ein­trat: Als Ar­bei­te­rin in der La­ger­kü­che wird sie zur „Kü­chen­schrei­be­rin“ be­för­dert. Der Häft­ling Ta­de­usz Pao­lo­ne-Lisow­ski wird dazu be­stimmt, sie in Buch­füh­rung zu un­ter­rich­ten. Zwi­schen bei­den ent­wi­ckelt sich wäh­rend der ins­ge­samt drei Tage dau­ern­den Un­ter­wei­sun­gen ein in­ni­ges Ver­hält­nis (das in der Fol­ge­zeit mit­tels Kas­si­ber, d.h. heim­li­chen Schrei­ben zwi­schen bei­den, am Leben ge­hal­ten wird)

Am nächs­ten Mor­gen saßen wir wie­der ne­ben­ein­an­der, un­glaub­lich, un­be­greif­lich nah. Das war der zwei­te Tag, der von der Frage be­herrscht wurde „Hoffst du hier her­aus­zu­kom­men?“, einer Frage, die ich mir seit der Straf­kom­pa­nie nicht mehr ge­stellt hatte. Ich hatte sie er­setzt durch die Frage: „Wie über­le­be ich die nächs­te Stun­de?“. […] [E]r schien mein Zö­gern zu ver­ste­hen. Er sagte: „Das ist gut“. […] Ich frag­te, was daran gut sei, und die Ant­wort, die ich zu hören bekam, wi­der­sprach allem, was man ge­wöhn­lich über die Hoff­nung zu sagen pflegt: „Hier ster­ben die­je­ni­gen am schnells­ten, die hoff­ten: dass der Krieg in einem Monat vor­über sein wird, dass die Welt Hit­ler ein Ul­ti­ma­tum stel­len wird, dass die Al­li­ier­ten die SS-Gar­ni­son bom­bar­die­ren wer­den.“ […] Es folg­te Tag drei, der letz­te Be­such. Und jene Frage, die er bei der Um­rech­nung der La­ger­stär­ke auf Grüt­ze, Mehl und Zu­cker stell­te: „Glaubst du an Gott?“ Ich er­in­ne­re mich, dass ich em­pört war: „Wie kann man so etwas fra­gen?“ In einem der Kes­sel pfiff der Dampf, die Kö­chin­nen lie­fen her­bei, die Kapo* schrie, das alles drang wie durch Watte ge­dämpft an mein Ohr, da­ge­gen waren seine Worte über­deut­lich zu ver­neh­men. „Viele mei­nen, dass wenn so etwas wie Ausch­witz mög­lich ist…“, er führ­te den Satz nicht zu Ende. Aber auch so ver­fehl­te er seine Wir­kung nicht. […]  Auf der lee­ren Seite des Rech­nungs­bu­ches lag ein klei­ner me­tal­le­ner Ge­gen­stand. Ein Me­dail­lon. „Nimm es zur Er­in­ne­rung. Möge es dich be­schüt­zen. Hüte es sorg­sam und trage es, so Gott will, in die Frei­heit.“ Ich schmug­gel­te es im Schuh in den Block […]. Auf der obers­ten Prit­sche in Block zehn […] be­trach­te­te ich das Ge­schenk, das Ge­sicht des lei­den­den Chris­tus. Ohne Dor­nen­kro­ne* auf dem Haupt. Mit einem Dor­nen­kranz ver­zier­te der Künst­ler statt­des­sen den Orts­na­men auf der Rück­sei­te „Oświęcim“. […] In sei­nen Kas­si­bern kam das Wort Liebe, oder etwas, was diese zu­min­dest an­ge­deu­tet hätte, nicht vor. […] Meine Ant­wor­ten gli­chen sei­nen Brie­fen. Sie ent­hiel­ten kei­ner­lei Be­kennt­nis­se, wie wich­tig er für mich ist […]. […] Ein ein­zi­ges Mal er­laub­te ich mir, sein Ge­schenk zu er­wäh­nen. Das Me­dail­lon mit dem Chris­tus­kopf brach­te mir ein an­de­res Ge­sicht in Er­in­ne­rung, näm­lich das des Ge­gei­ßel­ten im Pi­la­tus­kel­ler in Kal­wa­ria Ze­brzy­dow­ka* […]. […] Es war mir be­wusst, dass meine […] ängst­li­chen Brie­fe ihm nicht ge­fal­len konn­ten. Aber schließ­lich las er sie. Und auf die­sen einen ging er ei­gens in einem kur­zen Kas­si­ber ein: „Der Ge­gei­ßel­te im Pi­la­tus­kel­ler und der vom Me­dail­lon sagen das Glei­che: ‚Dein Wille ge­sche­he‘*. Sprich diese Worte nach, sooft du ihn be­trach­test.“ Das war sein letz­ter Kas­si­ber. […] Ta­de­usz war mit einer gro­ßen Grup­pe von Ge­fan­ge­nen, unter denen sich meh­re­re hohe Of­fi­zie­re der Pol­ni­schen Armee be­fan­den, ver­haf­tet wor­den. Der Vor­wurf lau­te­te, Mit­glied­schaft in einer mi­li­tä­ri­schen La­ger­or­ga­ni­sa­ti­on. Lisow­ski hatte ihr an­ge­hört. […] Er wurde am 11. Ok­to­ber er­schos­sen. […] Es ver­gin­gen Wo­chen, Mo­na­te. Wie, das weiß ich nicht. […] Mich quäl­te nicht mehr die Angst, den mor­gi­gen Tag nicht zu er­le­ben, ich frag­te mich nicht mehr, wie lange ich die Ar­beit aus­hal­ten werde […], ich hörte auf mir Sor­gen zu ma­chen, ob ich Ausch­witz über­le­ben werde. […] Ich trug das Me­dail­lon um den Hals […]. Das „Dein Wille ge­sche­he“ kam mir ohne in­ne­re Wi­der­stän­de über die Lip­pen. Ich war auf alles vor­be­rei­tet, das heißt ich war frei. […]

(Aus: Zofia Pos­mysz: Chris­tus von Ausch­witz, Oświęcim (o.V.) 2013, S. 6-11, in: Work­shop­ma­te­ri­al Ar­gu­ment Bio­gra­phie. Mensch­li­che Werte in einer un­mensch­li­chen Welt, hrsg. von der Stif­tung für die In­ter­na­tio­na­le Ju­gend­be­geg­nungs­stät­te in Oświęcim/ Ausch­witz und der Kon­rad-Ade­nau­er-Stif­tung in Polen.)

Auf­ga­ben

  1. Stel­le dar, wie das Chris­tus-Me­dail­lon in den Be­sitz von Zofia kommt und wel­che Be­deu­tung es für sie in Ausch­witz hatte.
  2. Ent­wick­le eine Deu­tung für die Ge­stal­tung des Chris­tus­me­dail­lons; be­rück­sich­ti­ge ins­be­son­de­re die Be­deu­tung der Dor­nen­kro­ne (vgl. Z. 19-21).
  3. Er­klä­re die em­pör­te Re­ak­ti­on Zo­fi­as auf die Frage nach Gott (vgl. Z. 10f.).
  4. Ent­wick­le eine Fort­set­zung des Sat­zes von Ta­de­usz „Viele mei­nen, dass wenn so etwas wie Ausch­witz mög­lich ist…“ (Z. 13f.)
  5. Nimm zu der in Z. 37f. ge­schil­der­ten Ge­fühls­la­ge, zu­gleich schick­sals­er­ge­ben und frei zu sein, Stel­lung.

An­mer­kun­gen zum Text

  • Kapo (Z. 14): Häft­ling eines KZs, der bzw. die die Auf­sicht über an­de­re Häft­lin­ge führt
  • Dor­nen­kro­ne (Z. 20): Kranz aus dor­ni­gen Ästen, den Jesus bei der Kreu­zi­gung ge­tra­gen haben soll; Sym­bol dafür, dass (nach christ­li­cher Lehre) Jesus stell­ver­tre­tend Lei­den auf sich ge­nom­men hat; allg. auch Sym­bol für die Ho­heit und Würde des Lei­den­den bzw. den Sieg über das Lei­den.
  • Kal­wa­ria Ze­brzy­dow­ka (Z. 28): Be­deu­ten­der Pil­ger­ort in Süd­po­len
  • ‚Dein Wille ge­sche­he‘ (Z. 31): Zitat aus dem „Vater unser“

Um­set­zungs­bei­spiel Re­li­gi­on und Re­li­gi­ons­kri­tik: Wo war Gott in Ausch­witz?: Her­un­ter­la­den [docx][3 MB]

Um­set­zungs­bei­spiel Re­li­gi­on und Re­li­gi­ons­kri­tik: Wo war Gott in Ausch­witz?: Her­un­ter­la­den [pdf][1 MB]

Wei­ter zu Ein­stieg 2