Einstieg 1: Christus in Auschwitz – die Geschichte von Zofia Posmysz
Zofia Posmysz wurde 1923 in Krakau (Polen) geboren. Ihre Ausbildung musste sie wegen des Überfalls Nazi-Deutschlands auf Polen 1939 abbrechen. In der Zeit der deutschen Besetzung besuchte sie illegal organisierten Unterricht und kam mit Untergrundpresse in Berührung. 1942 wurde sie denunziert und verhaftet, woraufhin sie in einer Strafkompanie zu schwerer körperlicher Arbeit gezwungen wurde, die viele ihrer Leidensgenossinnen nicht überlebten. Anschließend kam sie ins Frauenlager von Auschwitz-Birkenau, wo im Juni 1943 eine überraschende Wende in ihrem Leben eintrat: Als Arbeiterin in der Lagerküche wird sie zur „Küchenschreiberin“ befördert. Der Häftling Tadeusz Paolone-Lisowski wird dazu bestimmt, sie in Buchführung zu unterrichten. Zwischen beiden entwickelt sich während der insgesamt drei Tage dauernden Unterweisungen ein inniges Verhältnis (das in der Folgezeit mittels Kassiber, d.h. heimlichen Schreiben zwischen beiden, am Leben gehalten wird)
Am nächsten Morgen saßen wir wieder nebeneinander, unglaublich, unbegreiflich nah. Das war der zweite Tag, der von der Frage beherrscht wurde „Hoffst du hier herauszukommen?“, einer Frage, die ich mir seit der Strafkompanie nicht mehr gestellt hatte. Ich hatte sie ersetzt durch die Frage: „Wie überlebe ich die nächste Stunde?“. […] [E]r schien mein Zögern zu verstehen. Er sagte: „Das ist gut“. […] Ich fragte, was daran gut sei, und die Antwort, die ich zu hören bekam, widersprach allem, was man gewöhnlich über die Hoffnung zu sagen pflegt: „Hier sterben diejenigen am schnellsten, die hofften: dass der Krieg in einem Monat vorüber sein wird, dass die Welt Hitler ein Ultimatum stellen wird, dass die Alliierten die SS-Garnison bombardieren werden.“ […] Es folgte Tag drei, der letzte Besuch. Und jene Frage, die er bei der Umrechnung der Lagerstärke auf Grütze, Mehl und Zucker stellte: „Glaubst du an Gott?“ Ich erinnere mich, dass ich empört war: „Wie kann man so etwas fragen?“ In einem der Kessel pfiff der Dampf, die Köchinnen liefen herbei, die Kapo* schrie, das alles drang wie durch Watte gedämpft an mein Ohr, dagegen waren seine Worte überdeutlich zu vernehmen. „Viele meinen, dass wenn so etwas wie Auschwitz möglich ist…“, er führte den Satz nicht zu Ende. Aber auch so verfehlte er seine Wirkung nicht. […] Auf der leeren Seite des Rechnungsbuches lag ein kleiner metallener Gegenstand. Ein Medaillon. „Nimm es zur Erinnerung. Möge es dich beschützen. Hüte es sorgsam und trage es, so Gott will, in die Freiheit.“ Ich schmuggelte es im Schuh in den Block […]. Auf der obersten Pritsche in Block zehn […] betrachtete ich das Geschenk, das Gesicht des leidenden Christus. Ohne Dornenkrone* auf dem Haupt. Mit einem Dornenkranz verzierte der Künstler stattdessen den Ortsnamen auf der Rückseite „Oświęcim“. […] In seinen Kassibern kam das Wort Liebe, oder etwas, was diese zumindest angedeutet hätte, nicht vor. […] Meine Antworten glichen seinen Briefen. Sie enthielten keinerlei Bekenntnisse, wie wichtig er für mich ist […]. […] Ein einziges Mal erlaubte ich mir, sein Geschenk zu erwähnen. Das Medaillon mit dem Christuskopf brachte mir ein anderes Gesicht in Erinnerung, nämlich das des Gegeißelten im Pilatuskeller in Kalwaria Zebrzydowka* […]. […] Es war mir bewusst, dass meine […] ängstlichen Briefe ihm nicht gefallen konnten. Aber schließlich las er sie. Und auf diesen einen ging er eigens in einem kurzen Kassiber ein: „Der Gegeißelte im Pilatuskeller und der vom Medaillon sagen das Gleiche: ‚Dein Wille geschehe‘*. Sprich diese Worte nach, sooft du ihn betrachtest.“ Das war sein letzter Kassiber. […] Tadeusz war mit einer großen Gruppe von Gefangenen, unter denen sich mehrere hohe Offiziere der Polnischen Armee befanden, verhaftet worden. Der Vorwurf lautete, Mitgliedschaft in einer militärischen Lagerorganisation. Lisowski hatte ihr angehört. […] Er wurde am 11. Oktober erschossen. […] Es vergingen Wochen, Monate. Wie, das weiß ich nicht. […] Mich quälte nicht mehr die Angst, den morgigen Tag nicht zu erleben, ich fragte mich nicht mehr, wie lange ich die Arbeit aushalten werde […], ich hörte auf mir Sorgen zu machen, ob ich Auschwitz überleben werde. […] Ich trug das Medaillon um den Hals […]. Das „Dein Wille geschehe“ kam mir ohne innere Widerstände über die Lippen. Ich war auf alles vorbereitet, das heißt ich war frei. […]
Aufgaben
- Stelle dar, wie das Christus-Medaillon in den Besitz von Zofia kommt und welche Bedeutung es für sie in Auschwitz hatte.
- Entwickle eine Deutung für die Gestaltung des Christusmedaillons; berücksichtige insbesondere die Bedeutung der Dornenkrone (vgl. Z. 19-21).
- Erkläre die empörte Reaktion Zofias auf die Frage nach Gott (vgl. Z. 10f.).
- Entwickle eine Fortsetzung des Satzes von Tadeusz „Viele meinen, dass wenn so etwas wie Auschwitz möglich ist…“ (Z. 13f.)
- Nimm zu der in Z. 37f. geschilderten Gefühlslage, zugleich schicksalsergeben und frei zu sein, Stellung.
Anmerkungen zum Text
- Kapo (Z. 14): Häftling eines KZs, der bzw. die die Aufsicht über andere Häftlinge führt
- Dornenkrone (Z. 20): Kranz aus dornigen Ästen, den Jesus bei der Kreuzigung getragen haben soll; Symbol dafür, dass (nach christlicher Lehre) Jesus stellvertretend Leiden auf sich genommen hat; allg. auch Symbol für die Hoheit und Würde des Leidenden bzw. den Sieg über das Leiden.
- Kalwaria Zebrzydowka (Z. 28): Bedeutender Pilgerort in Südpolen
- ‚Dein Wille geschehe‘ (Z. 31): Zitat aus dem „Vater unser“
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