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Jü­di­sche Be­ant­wor­tung der Theo­di­zee-Frage

Grup­pe 1: Jü­di­sche Be­ant­wor­tung der Theo­di­zee-Frage 1

Text 1.1.: Hans Jonas (1903-1993): Der Got­tes­be­griff nach Ausch­witz

Auf­ga­be

Lest den Text von Hans Jonas (be­ach­tet auch die Text­hil­fen (*) auf die­sem Blatt). Be­ar­bei­tet und dis­ku­tiert hier­zu fol­gen­de Ar­beits­auf­trä­ge.
  1. Ar­bei­tet die von Jonas vor­ge­schla­ge­ne Lö­sung des Theo­di­zee-Pro­blems sowie die Ar­gu­men­te hier­für her­aus.
  2. Ord­net die Po­si­ti­on von Jonas den 3 Lö­sungs­mög­lich­kei­ten für das Theo­di­zee-Pro­blem nach Ge­sang (siehe Ein­füh­rungs­text) zu. Lässt sich die Po­si­ti­on kei­ner der 3 Mög­lich­kei­ten zu­ord­nen, for­mu­liert eine neue Ka­te­go­rie.
  3. Er­ör­tert, ob sich der von Jonas ent­wi­ckel­te „Got­tes­be­griff nach Ausch­witz“ noch mit Eurer Vor­stel­lung von „Gott“ ver­ei­nen lässt.

An­mer­kun­gen

  • Dok­trin (Z. 1): Lehre, Theo­rie
  • on­to­lo­gi­schen (Z. 16): Die On­to­lo­gie ist die Lehre vom Sein als sol­chem.
  • theo­lo­gi­schen (Z. 16): Die Theo­lo­gie ist die Lehre von Gott.
  • At­tri­bu­te (Z. 20): At­tri­bu­te be­stim­men eine Sache näher, stel­len Merk­ma­le dar.
  • in­te­gral (Z. 25): we­sent­lich
  • Om­ni­po­tenz (Z. 39): All­macht
  • Dua­lis­mus (Z. 40): Zwei­heit, Ge­gen­sätz­lich­keit, Po­la­ri­tät zwei­er Fak­to­ren
  • ma­nich­äi­sche (Z. 42): dua­lis­tisch. Die Welt­re­li­gi­on des Ma­nich­äis­mus (ge­stif­tet von Mani im 3. Jhd.), deu­te­te die Welt als Kampf zwi­schen zwei Mäch­ten.
  • Au­to­no­mie (Z. 45): Selbst­stän­dig­keit, Un­ab­hän­gig­keit, Frei­heit

1.1. Hans Jonas (1903-1993): Der Got­tes­be­griff nach Ausch­witz

In der Tat be­haup­ten wir, […] dass wir die alt­her­ge­brach­te (mit­tel­al­ter­li­che) Dok­trin* ab­so­lu­ter un­be­grenz­ter Macht nicht auf­recht­er­hal­ten kön­nen. […] Es folgt aus dem blo­ßen Be­griff der Macht, dass All­macht ein sich selbst wi­der­spre­chen­der, selbst-auf­he­ben­der, ja sinn­lo­ser Be­griff ist. Es steht damit, wie im mensch­li­chen Be­reich mit der Frei­heit. Weit ent­fernt, dass diese be­ginnt, wo die Not­wen­dig­keit endet, be­steht und lebt sie im Sich­mes­sen mit der Not­wen­dig­keit. Die Ab­schei­dung vom Rei­che der Not­wen­dig­keit ent­zieht der Frei­heit ihren Ge­gen­stand, sie wird ohne ihn eben­so nich­tig wie Kraft ohne Wi­der­stand. Ab­so­lu­te Frei­heit wäre leere Frei­heit, die sich selbst auf­hebt. So auch leere Macht, und das wäre die ab­so­lu­te Al­lein­macht. Ab­so­lu­te, to­ta­le Macht be­deu­tet Macht, die durch nichts be­grenzt ist, nicht ein­mal durch die Exis­tenz von etwas An­de­rem […]. […] Macht kommt zur Aus­übung nur in Be­zie­hung zu etwas, was sel­ber Macht hat. […] So wie in der Phy­sik Kraft ohne Wi­der­stand, also Ge­gen­kraft, leer bleibt, so auch in der Me­ta­phy­sik Macht ohne Ge­gen­macht, un­gleich wie sie sei. Das­je­ni­ge also, wor­auf die Macht wirkt, muss eine Macht von sich her haben, selbst wenn diese von jener ers­ten ab­stammt und dem In­ha­ber, in eins mit sei­nem Da­sein, ur­sprüng­lich ge­währt wurde durch einen Selbst­ver­zicht der gren­zen­lo­sen Macht – eben im Akt der Schöp­fung. […]

Doch neben die­sem lo­gi­schen und on­to­lo­gi­schen* gibt es einen mehr theo­lo­gi­schen* und echt re­li­giö­sen Ein­wand gegen die Idee ab­so­lu­ter und un­be­grenz­ter gött­li­cher All­macht. Gött­li­che All­macht kann mit gött­li­cher Güte nur zu­sam­men be­ste­hen um den Preis gänz­li­cher gött­li­cher Un­er­forsch­lich­keit, d.h. Rät­sel­haf­tig­keit. An­ge­sichts der Exis­tenz des Bösen oder auch nur des Übels in der Welt müss­ten wir Ver­ständ­lich­keit in Gott der Ver­bin­dung der bei­den an­dern At­tri­bu­te* auf­op­fern. Nur von einem gänz­lich un­ver­steh­ba­ren Gott kann ge­sagt wer­den, dass er zu­gleich ab­so­lut gut und ab­so­lut all­mäch­tig ist und doch die Welt dul­det, wie sie ist. All­ge­mei­ner ge­sagt, die drei At­tri­bu­te in Frage – ab­so­lu­te Güte, ab­so­lu­te Macht und Ver­steh­bar­keit – ste­hen in einem sol­chen Ver­hält­nis, dass jede Ver­bin­dung von zwei­en von ihnen das drit­te aus­schließt. Die Frage ist dann: Wel­che von ihnen sind wahr­haft in­te­gral* für un­se­ren Be­griff von Gott und daher un­ver­äu­ßer­lich, und wel­ches drit­te muss als we­ni­ger kräf­tig dem über­le­ge­nen An­spruch der an­dern wei­chen? Ge­wiss nun ist Güte, d.h. Wol­len des Guten, un­trenn­bar von un­serm Got­tes­be­griff und kann kei­ner Ein­schrän­kung un­ter­lie­gen. […] Ein gänz­lich ver­bor­ge­ner, un­ver­ständ­li­cher Gott ist ein un­an­nehm­ba­rer Be­griff nach jü­di­scher Norm. […] Nach Ausch­witz kön­nen wir mit grö­ße­rer Ent­schie­den­heit als je zuvor be­haup­ten, dass eine all­mäch­ti­ge Gott­heit ent­we­der nicht all­gü­tig oder […]  total un­ver­ständ­lich wäre. Wenn aber Gott auf ge­wis­se Weise und in ge­wis­sem Grade ver­steh­bar sein soll […], dann muss sein Gut­sein ver­ein­bar sein mit der Exis­tenz des Übels, und das ist es nur, wenn er nicht all-mäch­tig ist. Nur dann kön­nen wir auf­recht­er­hal­ten, dass er ver­steh­bar und gut ist und es den­noch Übel in der Welt gibt. Und da wir so­wie­so den Be­griff der All­macht als zwei­fel­haft in sich selbst be­fan­den, so ist es die­ses At­tri­but, das wei­chen muss. […]

[K]ein ret­ten­des Wun­der ge­schah; durch die Jahre des Ausch­witz-Wü­tens schwieg Gott. […]. Und da sage ich nun: nicht weil er nicht woll­te, son­dern weil er nicht konn­te, griff er nicht ein. […] Schon aus un­se­rer Er­ör­te­rung von Macht über­haupt folg­te ja die Ver­nei­nung gött­li­cher Om­ni­po­tenz*. Das lässt theo­re­tisch die Wahl offen zwi­schen einem an­fäng­li­chen […] Dua­lis­mus* und der Selbstbe­schrän­kung des ein­zi­gen Got­tes durch die Schöp­fung aus dem Nichts. Der Dua­lis­mus wie­der­um kann die ma­nich­äi­sche* Ge­stalt einer ak­ti­ven Kraft des Bösen an­neh­men, die von An­fang an dem gött­li­chen Zweck in allen Din­gen ent­ge­gen­wirkt: eine Zwei-Gott-Theo­lo­gie […]. Nur mit der Schöp­fung aus dem Nichts haben wir die Ein­heit des gött­li­chen Prin­zips zu­sam­men mit sei­ner Selbstbe­schrän­kung, die Raum gibt für die Exis­tenz und Au­to­no­mie* einer Welt. Die Schöp­fung war der Akt der ab­so­lu­ten Sou­ve­rä­ni­tät, mit dem sie um des Da­seins selbst­be­stim­men­der End­lich­keit wil­len ein­wil­ligt, nicht län­ger ab­so­lut zu sein – ein Akt also der gött­li­chen Selbst­ent­äu­ße­rung.

(Aus: Hans Jonas: Der Got­tes­be­griff nach Ausch­witz. Eine jü­di­sche Stim­me, Frank­furt am Main (Suhr­kamp) 162018, S. 33-41 und 43-45 (ge­kürzt und der neuen Recht­schrei­bung an­ge­passt) © Suhr­kamp Ver­lag Frank­furt am Main 1987. Alle Rech­te bei und vor­be­hal­ten durch Suhr­kamp Ver­lag Ber­lin.)

Ar­beits­auf­trag Grup­pe 2: Jü­di­sche Be­ant­wor­tung der Theo­di­zee-Frage 2

Text 1.2.: Warum sich die Theo­di­zee-Frage nach Ausch­witz nicht stellt

Auf­ga­be

Lest den Text 1.2. (be­ach­tet auch die Text­hil­fen (*) auf die­sem Blatt). Be­ar­bei­tet und dis­ku­tiert hier­zu fol­gen­de Ar­beits­auf­trä­ge.

  1. Ar­bei­tet die Grün­de dafür her­aus, warum die Theo­di­zee-Frage sowie mög­li­che Ant­wor­ten hier­auf im Hin­blick auf Ausch­witz in die Irre füh­ren.
  2. Ord­net die for­mu­lier­te Po­si­ti­on den 3 Lö­sungs­mög­lich­kei­ten für das Theo­di­zee-Pro­blem nach Ge­sang (siehe Ein­füh­rungs­text) zu. Lässt sich die Po­si­ti­on kei­ner der 3 Mög­lich­kei­ten zu­ord­nen, for­mu­liert eine neue Ka­te­go­rie.
  3. Prüft die These, die for­mu­lier­ten Ar­gu­men­te müss­ten ei­gent­lich zu dem Schluss füh­ren, dass es kei­nen Gott gibt; ein der­art pas­si­ver Gott, sei gar kein Gott.

An­mer­kun­gen

  • ju­deo­zen­tri­sche (Z. 5f.): auf die Juden be­schränkt
  • As­si­mi­la­ti­on (Z. 15): An­pas­sung, An­glei­chung; hier: Vor­gang der In­te­gra­ti­on der Juden in die Ge­sell­schaft nicht-jü­di­scher Staa­ten (häu­fig unter Preis­ga­be jü­di­scher Kul­tur und Re­li­gi­on)
  • Zio­nis­mus (Z. 15): Be­stre­bung, die ver­streut in der Welt le­ben­den Juden in Pa­läs­ti­na an­zu­sie­deln und einen jü­di­schen Na­tio­nal­staat zu grün­den

1.2.: (Jüd. Be­ant­wor­tung 2): Warum sich die Theo­di­zee-Frage nach Ausch­witz nicht stellt

Die Frage, wo Gott in Ausch­witz ge­we­sen sei, ist eine, die von der Mehr­heit der Juden selbst als zu­tiefst un­jü­disch emp­fun­den wird. Diese Frage stellt sich from­men Juden ei­gent­lich nicht. Juden sind ge­ra­de in Zei­ten der Not davon über­zeugt, dass Got­tes Geist auch im Lei­den wirke. Es ist viel­fach be­zeugt, dass selbst bis dahin glau­bens­schwa­che Juden in den KZs den Tod als Be­ten­de er­war­te­ten.

Als falsch er­wies sich in der in­ner­jü­di­schen Dis­kus­si­on über Ausch­witz auch die rein ju­deo­zen­tri­sche* Be­trach­tungs­wei­se: Be­liebt war das Deu­tungs­sche­ma, das auch in Ausch­witz die stra­fen­de Hand Got­tes sehen woll­te; Gott wen­det sich von sei­nem Volk ab, wenn es sich von sei­nen Ge­set­zen ab­wen­det. Warum aber wur­den so­wohl die Juden er­mor­det, die das Ge­setz nicht ein­hiel­ten, als auch die ge­set­zes­treu­en Juden? Das Ju­den­tum ist zwar eine Re­li­gi­on kol­lek­ti­ver Ver­ant­wor­tung – womit sich diese un­ge­rech­te Kol­lek­tivstra­fe an­satz­wei­se recht­fer­ti­gen ließe – aber in Ausch­witz star­ben doch nicht nur Juden. In den KZs star­ben auch zahl­rei­che Chris­ten. Warum – und vor allem wofür – hatte Gott, so muss man fra­gen, diese Nicht­ju­den stra­fen sol­len?

Die Ver­su­che, Ausch­witz auf die eine oder an­de­re Weise als Be­stra­fung zu in­ter­pre­tie­ren, set­zen grund­sätz­lich vor­aus, sich gegen his­to­ri­sche Fak­ten stel­len zu müs­sen: Wenn Ausch­witz ei­ner­seits der Preis für die As­si­mi­la­ti­on* und die Ab­leh­nung des Zio­nis­mus* ge­we­sen sein soll, warum wurde dann an­de­rer­seits bei­spiels­wei­se auch jene Mil­li­on zio­nis­ti­scher Juden in den KZs er­mor­det, die in Polen auf ein Ein­wan­de­rungs­zer­ti­fi­kat nach Is­ra­el war­te­ten?

Denkt man das Deu­tungs­sche­ma ‚Ausch­witz als Stra­fe Got­tes‘ kon­se­quent zu Ende, dann stellt sich zudem die Frage, warum die Stra­fe nur die eu­ro­päi­schen Juden traf. Und: Warum konn­te man sich der Stra­fe da­durch ent­zie­hen, dass man kur­zer­hand nach Ame­ri­ka aus­wan­der­te? Reich­te es – über­spitzt for­mu­liert – für Got­tes Straf­ge­richt, wenn nur die so­zi­al Schwa­chen be­straft wur­den, die sich keine Fahr­kar­te nach Über­see leis­ten konn­ten? Ein gött­li­ches Straf­ge­richt nach dem Maß­stab ir­di­scher Un­ge­rech­tig­keit – zum Wohle der Be­tuch­ten, die sich her­aus­win­den konn­ten? – Das macht kei­nen Sinn.

Auch Chris­ten ist es nicht mög­lich, den Ho­lo­caust aus­schließ­lich auf das Ju­den­tum zu be­zie­hen: Ausch­witz hätte al­len­falls Gott-Vater ver­hin­dern kön­nen. Warum stellt nie­mand die Frage: Warum hat Jesus, der Sohn Got­tes, Ausch­witz zu­ge­las­sen? – Der Heils­brin­ger, der Gott der Liebe und der Barm­her­zig­keit passt nicht in eine Be­stra­fungs-Theo­lo­gie, die in Ausch­witz le­dig­lich eine Be­stra­fung der Juden etwa für ihre Wei­ge­rung sieht, Jesus als den Mes­sias an­zu­er­ken­nen.

Wenn der Ho­lo­caust Teil eines gött­li­chen Heils­plans ge­we­sen wäre, dann wären Hit­ler, Himm­ler, Eich­mann und all die an­de­ren gro­ßen und klei­nen Nazi-Scher­gen keine Ver­bre­cher, keine Mas­sen­mör­der ge­we­sen, die für ihre Taten ver­ant­wort­lich waren, son­dern bloße Werk­zeu­ge Got­tes?!
Kurz­um: Den meis­ten Juden hat sich die Frage, ob der Ho­lo­caust gott­ge­wollt war, nicht ge­stellt. Das Un­glück der Ver­fol­gung war da, und nun galt es, diese Not als Prü­fung des Glau­bens zu ver­ste­hen, zu be­ste­hen und es nie­man­dem zu­zu­ge­ste­hen, einen Keil zwi­schen die From­men und Gott zu trei­ben.

Letzt­lich muss jede Theo­lo­gie schei­tern, die Gott für alles ver­ant­wort­lich macht. Gott hat den Men­schen nicht als blo­ßes Spiel­zeug in die Welt ge­setzt und ihn damit zur Pas­si­vi­tät ver­dammt. Und des­halb ist die Frage, warum Gott Ausch­witz zu­ließ, falsch ge­stellt. Ei­gent­lich muss man fra­gen: Warum ließ der Mensch Ausch­witz zu?

(Ver­fas­ser­text. Ver­wen­de­te Li­te­ra­tur: Gün­ther Bernd Gin­zel: Chris­ten und Juden nach Ausch­witz, in: Ders. (Hrsg.): Ausch­witz als Her­aus­for­de­rung für Juden und Chris­ten, Ger­lin­gen (Lam­bert Schnei­der) 21993, S. 234-274, hier S. 264-272; Susan Nei­man: Das Böse den­ken. Eine an­de­re Ge­schich­te der Phi­lo­so­phie, über­setzt von Chris­tia­na Gold­mann, Frank­furt am Main (Suhr­kamp) 2004, S. 371f.))

Um­set­zungs­bei­spiel Re­li­gi­on und Re­li­gi­ons­kri­tik: Wo war Gott in Ausch­witz?: Her­un­ter­la­den [docx][3 MB]

Um­set­zungs­bei­spiel Re­li­gi­on und Re­li­gi­ons­kri­tik: Wo war Gott in Ausch­witz?: Her­un­ter­la­den [pdf][1 MB]