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Funk­tio­na­lis­ti­sche In­ter­pre­ta­tio­nen der Re­li­gi­on

Re­li­gi­on als Kom­pass (Erich Fromm)

Der Psy­cho­ana­ly­ti­ker Erich Fromm (1900-1980) sieht in der Re­li­gi­on die Er­fül­lung eines Grund­be­dürf­nis­ses des Men­schen. Für den Men­schen sind Idea­le, eine Welt­an­schau­ung und ein Ob­jekt der Ver­eh­rung le­bens­not­wen­dig, um über die nö­ti­ge Ori­en­tie­rung im Leben zu ver­fü­gen. Für Fromm ist der we­sent­li­che Un­ter­schied zwi­schen Mensch und Tier, dass Tiere über ihre In­stink­te ge­lei­tet wer­den, wäh­rend dem Men­schen diese um­fas­sen­de In­stinkt­aus­stat­tung fehlt. Das be­wirkt, im Zu­sam­men­spiel mit dem Vor­stel­lungs­ver­mö­gen, dass sich dem Men­schen viele Rich­tun­gen bie­ten, in die er sich ent­wi­ckeln kann. Diese Of­fen­heit be­deu­tet, dass der Mensch frei ist – aber auch, dass die Mög­lich­keit be­steht, sich zu ver­feh­len. Hier bie­tet die Re­li­gi­on Ori­en­tie­rung. Sie be­fä­higt den Men­schen, sich mit sei­nen Mög­lich­kei­ten – Selbst­be­wusst­sein, Ver­nunft­be­ga­bung, Vor­stel­lungs­ver­mö­gen – über seine tie­ri­sche Natur zu er­he­ben, oder aber sei­nen Spiel­raum ein­zu­en­gen. Der Mensch hat die Wahl zwi­schen einer hu­ma­nis­ti­schen und einer au­to­ri­tä­ren Re­li­gi­on. Die hu­ma­nis­ti­sche för­dert die Ent­fal­tung spe­zi­fisch mensch­li­cher Kräf­te, die au­to­ri­tä­re lähmt sie. Im Rah­men der hu­ma­nis­tisch ver­stan­de­nen Re­li­gi­on wird der Mensch selbst zum Ge­gen­stand der Ver­eh­rung, in­so­fern der Mensch das­je­ni­ge Wesen ist, das in Frei­heit zu sich selbst kom­men kann. Die au­to­ri­tä­re Re­li­gi­on un­ter­wirft den Men­schen unter eine hö­he­re Macht, der er Ge­hor­sam schul­det.

Ver­fas­ser­text. Ver­wen­de­te Li­te­ra­tur: Mi­cha­el Wein­rich: Re­li­gi­on und Re­li­gi­ons­kri­tik. Ein Ar­beits­buch, Göt­tin­gen (Van­den­hoeck & Ru­precht) 2011, S. 230-234.

Re­li­gi­on als Kon­tin­genz­be­wäl­ti­gungs­pra­xis (Her­mann Lübbe)

Der Phi­lo­soph Her­mann Lübbe (geb. 1926) sieht das De­fi­zit der sä­ku­la­ri­sier­ten, auf­ge­klär­ten Mo­der­ne darin, auf be­stimm­te Fra­gen des Men­schen keine Ant­wort geben zu kön­nen. In Ab­gren­zung zur gren­zen­lo­sen Mach­bar- und Ver­füg­bar­keitsil­lu­si­on der Auf­klä­rung ver­steht Lübbe Re­li­gi­on als Ein­übung in die Rea­li­tät: Sie kul­ti­viert näm­lich unser Ver­hal­ten zu dem, was kon­tin­gent ist, d.h. zu dem, was sich er­eig­net, was zu­fällt und sich un­se­rer Ver­füg­bar­keit ent­zieht. Dem­entspre­chend ist Re­li­gi­on für Lübbe Kon­tin­genz­be­wäl­ti­gungs­pra­xis. Ge­meint sind hier­bei je­doch nur so­ge­nann­te ab­so­lu­te Kon­tin­gen­zen, also Er­fah­run­gen, die sich jeg­li­cher Sinn­erwar­tung ent­zie­hen. Hier­zu zäh­len Kon­tin­gen­zen wie z.B. die Tat­sa­che mei­ner Ge­burt, mei­nes Todes oder die alte me­ta­phy­si­sche Frage, warum wir über­haupt sind und nicht viel­mehr nichts. Diese gleich­sam sinn­wid­ri­gen Tat­sa­chen ent­zie­hen sich für Lübbe einer Auf­klä­rung, sie sind daher Ge­gen­stand re­li­giö­ser Le­bens­pra­xis. Die un­ab­weis­ba­ren Tat­sa­chen des Le­bens kön­nen weder ge­än­dert, noch igno­riert wer­den. Auf­ga­be re­li­giö­ser Le­bens­pra­xis ist es, sich zu ihnen ins Ver­hält­nis zu set­zen, sich auf das Un­ver­füg­ba­re ein­zu­stel­len. Es geht in der Re­li­gi­on also darum, seine Ein­stel­lung zu än­dern und die Be­dingt­heit mensch­li­cher Exis­tenz an­zu­er­ken­nen. Re­li­gi­on er­schöpft sich nicht in ein­zel­nen Akten der An­er­ken­nung, ihr ist es viel­mehr um eine um­fas­sen­de Ein­stel­lungs­än­de­rung zu tun, die uns im Um­gang mit der ab­so­lu­ten Kon­tin­genz un­se­res Da­seins erst le­bens­fä­hig macht.

Ver­fas­ser­text. Ver­wen­de­te Li­te­ra­tur: Mi­cha­el Kühn­lein: Her­mann Lübbe (1986), Re­li­gi­on nach der Auf­klä­rung, in: Mi­cha­el Kühn­lein (Hg.): Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie und Re­li­gi­ons­kri­tik. Ein Hand­buch, Ber­lin (Suhr­kamp) 2018, S. 780-788.)

Re­li­gi­on als Kom­ple­xi­täts­re­duk­ti­on (Ni­k­las Luh­mann)

Der So­zio­lo­ge Ni­k­las Luh­mann (1927-1998) be­schreibt die Ge­sell­schaft als Sys­tem, das sich aus einer Viel­zahl von Sub­sys­te­men zu­sam­men­setzt. Ge­sell­schaft­li­che Sub­sys­te­me sind z.B. Po­li­tik, Wirt­schaft, Wis­sen­schaft – oder Re­li­gi­on. Ent­schei­dend für die Her­aus­bil­dung die­ser Sub­sys­te­me ist das Ver­hält­nis des je­wei­li­gen (Sub-)Sys­tems zu sei­ner Um­welt, also auch zu den an­de­ren Sub­sys­te­men. Sys­tem­bil­dung ge­schieht mit­tels Aus­gren­zung der nicht zum Sys­tem ge­hö­ren­den Um­welt. Die Um­welt ist hier­bei immer kom­ple­xer als das Sys­tem. Die Funk­ti­on des Sub­sys­tems Re­li­gi­on ist es nun, so Luh­mann, Un­si­cher­heit in mehr­deu­ti­gen Lagen in Be­stimmt­heit und Klar­heit zu über­füh­ren, un­be­stimm­ba­re in be­stimm­ba­re Kom­ple­xi­tät zu trans­for­mie­ren. Dies ge­schieht da­durch, dass die Re­li­gi­on die un­ver­füg­ba­re und nie gänz­lich be­re­chen­ba­re Um­welt für die Ge­sell­schaft re­li­gi­ös deu­tet. Die Re­li­gi­on tut dies, indem sie mit­tels Codes lei­ten­de Grund­ent­schei­dun­gen trifft, wie z.B. mit­tels der Un­ter­schei­dung von „gut“ und „böse“ oder „Tran­szen­denz“ (das Gött­li­che, Un­end­li­che), und „Im­ma­nenz“ (das Welt­li­che, End­li­che): Grund­the­se der Re­li­gi­on ist, dass das Tran­szen­den­te im Im­ma­nen­ten er­fahr­bar ist. Dar­über hin­aus kön­nen Kon­tin­gen­zen in der Im­ma­nenz auf das Wir­ken der Tran­szen­denz ge­scho­ben, Gott selbst also ver­ant­wort­lich ge­macht wer­den. Der ‚Code‘ der Re­li­gi­on hilft dabei, allen Er­fah­run­gen, also auch den ne­ga­ti­ven, einen Sinn zu ver­lei­hen.

Ver­fas­ser­text. Ver­wen­de­te Li­te­ra­tur: Nor­bert Mette: Luh­mann, in: Re­li­gi­ons­kri­tik von der Auf­klä­rung bis zur Ge­gen­wart. Au­to­ren­le­xi­kon von Ador­no bis Witt­gen­stein, Frei­burg i. Br. (Her­der) 41988, S. 204-207; Jens Schlie­ter (Hg.): Was ist Re­li­gi­on? Texte von Ci­ce­ro bis Luh­mann, Stutt­gart (Re­clam) 2010, S. 241-243; Mi­cha­el Wein­rich: Re­li­gi­on und Re­li­gi­ons­kri­tik. Ein Ar­beits­buch, Göt­tin­gen (Van­den­hoeck & Ru­precht), 2011, S. 222-227.

Um­set­zungs­bei­spiel Re­li­gi­on und Re­li­gi­ons­kri­tik: Wo war Gott in Ausch­witz?: Her­un­ter­la­den [docx][3 MB]

Um­set­zungs­bei­spiel Re­li­gi­on und Re­li­gi­ons­kri­tik: Wo war Gott in Ausch­witz?: Her­un­ter­la­den [pdf][1 MB]