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Hans-Ulrich Wehler

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Diese Seite ist Teil einer Materialiensammlung zum Bildungsplan 2004: Grundlagen der Kompetenzorientierung. Bitte beachten Sie, dass der Bildungsplan fortgeschrieben wurde.

Hans-Ulrich Wehler, Gesellschaftsgeschichte als Versuch einer Synthese: Dimensionen und Ziele (1987) 1

Wenn man […] in einer Synthese die dominierenden Elemente eines Zeitalters in ihrem Zusammenhang erfassen möchte, ist es unvermeidbar, sie einem abstrakten Ordnungsschema zu unterwerfen. Dazu dient die bereits mehrfach genannte Unterscheidung von zentralen Dimensionen oder auch „Achsen“, welche das Gesellschaftsgefüge durchziehen. „Achse“ bedeutet hier zweierlei: sowohl einen – zumindest unterstellten – verdichteten realhistorischen Wirkungszusammenhang als auch ein heuristisches Hilfsmittel, das die genauere historische und systematische Untersuchung erleichtern soll. Gesellschaftsgeschichte hat es wesentlich mit der Verfassung des Binnenbereichs einer Gesamtgesellschaft zu tun, ihn kann man auch ihre „Sozialstruktur“ nennen. Mit dieser Kategorie gewinnt man einen allgemeinen Sammelbegriff für das ganze innergesellschaftliche Gefüge, das bestimmt wird durch die wirtschaftlichen Verhältnisse, die Lage der sozialen Schichten, die politischen Einrichtungen, auch durch gesellschaftliche Organisationen wie Parteien und Interessenverbände, durch Familie, Bildungssystem und Kirche – mit anderen Worten: durch eine Vielzahl von Institutionen und vorstrukturierten Handlungsfeldern, nicht zuletzt auch durch kulturelle Normen, religiöse Wertvorstellungen und die wechselnde Deutung der sozialen Lebenswelt. So gesehen ist Gesellschaftsgeschichte über weite Strecken Sozialstrukturgeschichte. (S. 9f.)

Es ist eine der Grundannahmen dieser Arbeit, dass sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eine beispiellose universalgeschichtliche Zäsur im Westen angebahnt hatte. (S. 12) […] Wirtschaft, Sozialhierarchie, Herrschaft und Kultur werden hier als Hauptachsen der Gesellschaft angesehen und zugleich in ihrer Wechselwirkung im Verlauf des neuzeitlichen Modernisierungsprozesses vor allem während der beiden letzten Jahrhunderte verfolgt. (13) […] Im Anschluss wiederum an Weber wird unter der Modernisierung und dem Evolutionsziel der Wirtschaft die Durchsetzung des Kapitalismus bis hin zum hochentwickelten Industriekapitalismus verstanden; im Hinblick auf die Sozialschichtung die damit zusammenhängende Durchsetzung „marktbedingter Klassen“ bis hin zu großen, politisch handlungsfähigen „sozialen Klassen“; im Hinblick auf die politische Herrschaft die Durchsetzung des bürokratisierten Anstaltsstaats (seit dem 19. Jahrhundert in der Regel in der Form des Nationalstaats); im Hinblick auf die Kultur die Durchsetzung der „Rationalisierung“ in wachsenden Bereichen des kulturellen Lebens in dem vorn umrissenen weiten Sinn, wie das am Aufstieg der Wissenschaften, der Säkularisierung und „Entzauberung“ der Welt, an der Ausdehnung des Zweck-Mittel-Denkens einer instrumentellen Vernunft am augenfälligsten zutage tritt. (S. 14)

Wenige Staaten haben in dieser Zeit einen vergleichbaren Wechsel der politischen Regime und Herrschaftsformen, derart abrupte Brüche und neue Anfänge erlebt wie Deutschland. Zugleich mahnt diese Geschichte zur Vorsicht gegenüber allzu glatten Thesen. So hat sich etwa die deutsche Industrialisierung im Gehäuse des traditionalen Obrigkeitsstaats durchsetzen können, und jahrzehntelang vertrugen sich bestechende ökonomische Erfolge mit autoritär-bürokratischer Politik. Die von wenigen Ausnahmen abgeleitete bequeme Gleichung, dass Industrialisierung zugleich notwendig Demokratisierung bedeute, führt auch hinsichtlich Deutschlands in die Irre. In einem Land, das so lange durch vorindustrielle Faktoren eine maßgebende Prägung erfahren hat, stellt sich die relative Autonomie von Politik sogar besonders scharf als Problem. (S. 17)

Hans-Ulrich Wehler, Epilog (2008) 2

Da erschien der Versuch gerechtfertigt, ja wissenschaftspolitisch geradezu geboten zu sein, eine Synthese unter Gesichtspunkten in Angriff zu nehmen, die eine umfassende Erörterung möglichst vieler wichtiger, von der deutschen gesellschaftlichen Entwicklung aufgeworfener Probleme gestatteten.
Damit war sogleich die Herausforderung verbunden, ein Strukturierungsschema für die Bewältigung eines außerordentlich weitläufigen Stoffes zu entwerfen. Es musste die Eigenschaft besitzen, dass man ihm auch noch nach geraumer Zeit vertrauen konnte. […] Daher empfahl es sich, in großzügiger, keineswegs philologisch strenger Anlehnung an Max Webers Überlegungen, von der relativ abstrakten Triade von Wirtschaft, Herrschaft und Kultur, sowie, als Überschneidungsprodukt dieser Dimensionen, von Sozialer Ungleichheit als den vier maßgeblichen Achsen der gesellschaftlichen Entwicklung bei der Konstruktion einer Synthesekonzeption auszugehen. (420)

Der nach längeren Vorüberlegungen gewählte ziemlich abstrakte Gliederungsentwurf musste dann jeweils empirisch auf durchaus unterschiedliche Weise gefüllt werden, je nachdem, wie die analytischen oder historisch-genetischen Probleme das erforderten […], so dass die wechselnde Vorherrschaft der sozialen, wirtschaftlichen, politischen, kulturellen Faktoren je nach der historischen Konstellation und der Macht der dominierenden, aber eben häufig variierenden Antriebskräfte zur Geltung kommen konnte. Das war eine folgenreiche Festlegung, aber sie versprach von vornherein, fern jeder Dogmatik, eine gewissermaßen eingebaute Flexibilität, die sich allerdings im Fortgang der Arbeit immer wieder erweisen musste. (421)

Mit dem Webers Werk entlehnten Interpretationsansatz war zugleich die Entscheidung verbunden, den Grundzügen der Modernisierungstheorie zu folgen. Denn diese – komprimiert im klassischen Text letzter Hand: der „Vorbemerkung“ zu seinen religionssoziologischen Aufsätzen – stellt noch immer für den Historiker den überzeugendsten Anlauf zu einer theoretisch wie analytisch fundierten Deutung des Aufstiegs der modernen westlichen Welt dar, und in diesem Kontext vollzog sich ja auch die Entfaltung des deutschsprachigen Mitteleuropa. (S. 421f.)

Von Weber kann man weiterhin lernen, wie man die dynamischen Antriebskräfte des historischen Prozesses einzeln oder in ihrem Verbund herausarbeiten kann. Trotz aller Skepsis gegenüber der Evolutionslehre seiner Zeit beharrte er doch auf der Notwendigkeit expliziter Evolutionskriterien, die auch dem Historiker Klarheit über seine Argumentation verschaffen sollen. So sah er etwa, idealtypisch zugespitzt, im Bereich der politischen Herrschaft den Entwicklungsgang vom ständischen Herrschaftsverband hin zum modernen Anstalts- und Flächenstaat verlaufen, im Bereich der Wirtschaft hin zur Durchsetzung des Kapitalismus sowohl im Gewerbe- wie im Agrarsektor, im Bereich der Sozialen Ungleichheit hin zu einer Gesellschaft marktbedingter Klassen.
Folgt man diesem Interpretationsentwurf (mit seiner fraglos entschieden eurozentrischen Ausrichtung), trifft man auf ein Geflecht außerordentlich dynamischer, gerichteter Triebkräfte, die auf Widerstand prallten, zeitweilig blockiert wurden, unablässig neue Probleme bei ihrer Entfaltung aufwarfen – sich letztlich aber meist als durchsetzungsfähig erwiesen. (S. 422)

Folgt man dieser Überlegung im Hinblick auf die deutsche Geschichte seit dem 18. Jahrhundert, tritt zunächst einmal, wie auch die fünf Bände dieser Gesellschaftsgeschichte immer wieder zeigen, eine verblüffende Diskontinuität im Bereich der politischen Herrschaft und der politischen Ideenwelt hervor Dagegen überwiegt trotz allen historischen Wandels eine vergleichsweise bestechende Kontinuität im Bereich der Stratifikationsordnung der großen Sozialformationen und des wirtschaftlichen Systems, obwohl es auch dort an einschneidenden Veränderungen nicht fehlt.
In keinem westlichen Staat der Gegenwart kann der informierte Beobachter auf einen derart hektischen Wechsel der politischen Regimeformen wie in Deutschland zurückblicken. (S. 424)

Der Rückblick auf die Wirtschaft enthüllt die erstaunliche Kontinuität der Marktwirtschaft, nachdem sie sich einmal durchgesetzt hatte. (S. 427)

Wechselt man die Perspektive, um die Kultur (in dem hier zugrunde gelegten engeren Sinn) zu erfassen, fallen im Vergleich mit der kontinuierlichen Durchsetzungs- und Beharrungskraft der marktwirtschaftlich organisierten Ökonomie die drastischen Diskontinuitäten auf. (S. 428)

Führt man sich die Verwirbelung der so extrem wechselnden politischen Ordnungssysteme, dazu der sie stützenden oder sprengenden ideenpolitischen Strömungen einmal vor Augen, ist die Vorherrschaft einer relativ langlebigen Kontinuität im Bereich der großen Sozialformationen um so bestechender. (S. 430)

Lässt man in einer Langzeitperspektive die gesellschaftlichen zusammen mit den politischen Entwicklungen in der neueren deutschen Gesellschaft noch einmal Revue passieren, indem man gleichzeitig auf den Vergleich mit anderen Ländern achtet, sticht ein Ensemble von Sonderbedingungen hervor. […] Gerade der Vergleich bestätigt jedoch die Macht dieser Sonderbedingungen: der hektische Regimewechsel, […] die Diskreditierung der Aufklärung, überhaupt der wirre Wechsel in der politischen Ideenwelt; die radikale Zerstörung der ostdeutschen Adelsexistenz; die Umwälzungen in der Sphäre des Bildungsbürgertums, der beamteten oder angestellten Dienstklassen, der Industrie- und Landarbeiterschaft; die erbitterte Bekämpfung der modernen liberalen Marktklassengesellschaft im Zeichen des nationalsozialistischen Rassestaats oder der kommunistischen Gesellschaftsutopie – sie alle vereinigen sich zu einem Kranz von restriktiven Bedingungen, deren Besonderheit man schwerlich ernsthaft bestreiten kann. (S. 436f.)


1 In: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 1, München (Beck) 1987, S. 9ff.

2 In: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 5, München (Beck) 2008, S. 420ff.


Karl Marx über die bürgerliche Gesellschaft: Herunterladen [doc] [27 KB]

Soziologe Max Weber über spezifisch europäische Rationalisierungsprozesse in der Frühen Neuzeit (1920): Herunterladen [doc] [36 KB]

Hans-Ulrich Wehler, Gesellschaftsgeschichte als Versuch einer Synthese: Dimensionen und Ziele (1987): Herunterladen [doc] [34 KB]