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Mo­der­ne

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Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.

Jür­gen Os­ter­ham­mel über „Mo­der­ne“ (2009):

Einen wich­ti­gen Fort­schritt hat das Theo­rie­pro­gramm der „Viel­falt der Mo­der­ne“ ( mul­ti­ple mo­der­nities ) ge­bracht, das der große So­zio­lo­ge Shmu­el Noah Ei­sen­stadt seit dem Jahr 2000 pro­pa­giert. Die Dif­fe­ren­zie­run­gen in­ner­halb der Mo­der­ne tre­ten Ei­sen­stadt zu­fol­ge haupt­säch­lich im 20. Jahr­hun­dert auf. Im 19. Jahr­hun­dert be­ob­ach­tet er vor allem eine Di­ver­genz zwi­schen eu­ro­päi­schen und nord­ame­ri­ka­ni­schen Pfa­den in die Mo­der­ne, die in sei­ner Sicht kei­nes­falls einen ho­mo­ge­nen „Wes­ten“ bil­det, wäh­rend er in­ner­halb der nicht-ok­zi­den­ta­len Welt nur in Japan eine cha­rak­te­ris­ti­sche Aus­prä­gung von Mo­der­ne zu er­ken­nen ver­mag. In der Tat ist es schwie­rig, für die Zeit zwi­schen etwa 1800 und 1900 ei­gen­stän­di­ge und un­ver­wech­sel­ba­re in­di­sche, chi­ne­si­sche, nah­öst­lich-is­la­mi­sche oder afri­ka­ni­sche Wege in die Mo­der­ne zu fin­den, die dem he­ge­mo­nia­len west­eu­ro­päi­schen Mo­der­ne-Mo­dell Ei­ge­nes ent­ge­gen­setz­ten. Sol­che Dif­fe­ren­zie­run­gen be­gan­nen sich erst nach der Jahr­hun­dert­wen­de be­merk­bar zu ma­chen, an­fangs eher ide­en­ge­schicht­lich als struk­tu­rell. (S. 1281) […]
Strit­tig sind alle Ver­su­che, eine spon­ta­ne Ent­ste­hung der Mo­der­ne erst im Laufe des 19. Jahr­hun­derts, gar an sei­nem Ende an­zu­neh­men. Die in­tel­lek­tu­el­len Grund­la­gen der Mo­der­ne wur­den be­reits wäh­rend der frü­hen Neu­zeit in Eu­ro­pa ge­legt, frü­hes­tens im Zeit­al­ter Mon­tai­gnes, spä­tes­tens in der Auf­klä­rung.
Was will man unter „Mo­der­ne“ pri­mär ver­ste­hen? Den Be­ginn eines lang­fris­ti­gen Wachs­tums der Pro-Kopf-Ein­kom­men; eine ra­tio­na­le, re­chen­haf­te Le­bens­füh­rung; den Über­gang von der Stän­de- zur Klas­sen­ge­sell­schaft; die Aus­wei­tung po­li­ti­scher Par­ti­zi­pa­ti­on; die Ver­recht­li­chung von Herr­schafts­ver­hält­nis­sen und ge­sell­schaft­li­chem Um­gang; die Ent­wick­lung von Zer­stö­rungs­ka­pa­zi­tä­ten neu­ar­ti­ger Di­men­si­on; die Um­ori­en­tie­rung der Küns­te von der Nach­ah­mung der Tra­di­ti­on zur krea­ti­ven Zer­stö­rung äs­the­ti­scher Nor­men? Es gibt kein Kon­zept von Mo­der­ne, das alle diese As­pek­te (und an­de­re) in neu­tra­ler Aus­ge­wo­gen­heit um­fas­sen würde, und eine bloße Liste von Merk­ma­len blie­be un­be­frie­di­gend. Mo­der­ne-Kon­zep­te set­zen stets Prio­ri­tä­ten und rei­hen, selbst wenn sie nicht mo­no­the­ma­tisch sind, die ver­schie­de­nen As­pek­te von Mo­der­ni­tät. Sie über­se­hen auch in aller Regel nicht, dass nur in we­ni­gen his­to­ri­schen Fäl­len die ver­schie­de­nen As­pek­te in Har­mo­nie mit­ein­an­der auf­tra­ten. (S. 1282) […]
Die ide­en­ge­schicht­li­che „Ge­burt“ der Mo­der­ne setz­te sich erst über lang­wie­ri­ge Pro­zes­se in In­sti­tu­tio­nen und Men­ta­li­tä­ten um, die den Mo­der­ne-De­fi­ni­tio­nen der Ge­sell­schafts­theo­rie nahe kom­men. Auch hat die Er­fah­rung des 19. und erst recht des 20. Jahr­hun­derts ge­zeigt, dass öko­no­mi­sche Mo­der­ni­tät mit po­li­tisch au­to­ri­tä­ren Ver­hält­nis­sen ein­her­ge­hen kann; dar­auf be­ru­hen bis heute maß­geb­li­che In­ter­pre­ta­tio­nen des Deut­schen Kai­ser­rei­ches. […]
Nicht viele Län­der der Welt wird man um 1910 als do­mi­nant mo­dern ka­te­go­ri­sie­ren wol­len: Groß­bri­tan­ni­en, die Nie­der­lan­de, Bel­gi­en, Dä­ne­mark, Schwe­den, Frank­reich, die Schweiz, die USA, die bri­ti­schen Do­mi­ni­ons Ka­na­da, Aus­tra­li­en und Neu­see­land, mit ge­wis­sen Ein­schrän­kun­gen Japan und Deutsch­land. Schon bei Eu­ro­pa öst­lich der Elbe, bei Spa­ni­en und Ita­li­en (S. 1283) wären Zwei­fel an der Mo­der­ni­täts­rei­fe an­ge­bracht. (S. 1284)

(Jür­gen Os­ter­ham­mel, Die Ver­wand­lung der Welt. Eine Ge­schich­te des 19. Jahr­hun­derts. Mün­chen (C. H. Beck) 2009, S. 1281 - 1284)

„Mo­der­ne, Mo­der­ni­sie­rung“ Jür­gen Os­ter­ham­mel über „Mo­der­ne“ (2009):
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