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Bürgerliche Gesellschaft

Infobox

Diese Seite ist Teil einer Materialiensammlung zum Bildungsplan 2004: Grundlagen der Kompetenzorientierung. Bitte beachten Sie, dass der Bildungsplan fortgeschrieben wurde.

Der Historiker Jürgen Kocka über Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft (2008):

Seit dem 18. Jahrhundert kamen neue Kräfte ins Spiel. Der Feudalismus ging unter und mit ihm der Stand der Stadtbürger im alten Sinn. Mit dem aufsteigenden Kapitalismus, dem anschwellenden Handel und mit der Industrialisierung stieg die Zahl und wuchs die Bedeutung der großen Kaufleute, Verleger und Manufakturunternehmer, der Reeder und Bankiers, der Unternehmer und Fabrikanten. Diese „Bourgeoisie“, diese „Wirtschafts-“ oder „Besitzbüger“ wurden wohlhabender, sozial gewichtiger und einflussreicher. […] So bildete sich im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert eine neue Sozialformation heraus, eine aufsteigende schmale Schicht, die sich aus Besitzenden und Gebildeten zusammensetzte und für die das Wort „bürgerlich“ in einer neuen Weise in Gebrauch kam: im Sinne von Besitzbürgertum und Bildungsbürgertum. […] Was hatten diese unterschiedlichen Bürger gemeinsam? Einerseits die kritische Distanz zum Geburtsadel und seiner Welt, die Hochschätzung von Leistung und Bildung, die Kritik am Gottesgnadentum und an absolutistischer Willkür, zugleich aber die Absetzung vom niederen Volk; andererseits die städtische Lebensweise und die damit zusammenhängende Kultur. […]
Vor allem im Milieu dieses neuen Bürgertums entwickelten sich moderne, durch die Aufklärung geprägte Ideen, Ideen von einer neuen Gesellschaft, Kultur und Politik: das Programm einer „bürgerlichen Gesellschaft“. Es wurde in bürgerlich geprägten Logen und Lesegesellschaften, den Vereinen und Zeitschriften des 18. und frühen 19. Jahrhunderts diskutiert, bald auch auf öffentlichen Versammlungen und Festen der sich ausbreitenden liberalen Bewegung. Es war ein zukunftsgerichteter Entwurf, zu dem sehr verschiedene Autoren beigetragen hatten - von John Locke und Adam Smith über Montesquieu und die Enzyklopädisten bis zu Immanuel Kant und den liberalen Denkern des 19. Jahrhunderts. Im Zentrum dieses Entwufs stand das Ziel einer modernen, säkularisierten Gesellschaft freier, mündiger Bürger ( citoyens ), die ihre Verhältnisse friedlich, vernünftig und selbständig regelten, ohne allzu viel soziale Ungleichheit, ohne obrigkeitsstaatliche Gängelung, individuell und gemeinsam zugleich. Dazu bedurfte es bestimmter Institutionen: des Marktes, einer kritischen Öffentlichkeit, des Rechtsstaates mit Verfassung und Parlament. In dieser gesellschaftlich-politischen Zielsetzung steckte ein neuer Daseinsentwurf, der auf Arbeit, Leistung und Bildung (nicht auf Geburt), auf Vernunft und ihren öffentlichen Gebrauch (statt auf Tradition), auf individueller Konkurrenz wie auf genossenschaftliche Gemeinsamkeit fußte und sich kritisch gegen zentrale Elemente des Alten Regimes wandte: gegen Absolutismus, gegen Geburtsprivilegien und gegen ständische Ungleichheit, auch gegen kirchlich-religiöse Orthodoxie.

(Jürgen Kocka, Bürger und Bürgerlichkeit im Wandel, in: APuZ 9-10/2008, S. 3 - 9, hier: S. 4f.)

 

Historiker Jürgen Kocka über Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft (2008):  Herunterladen [doc] [26 KB]