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Li­be­ra­lis­mus, li­be­ra­les Mo­dell

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Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.

Cle­mens Wi­scher­mann, Anne Nie­ber­ding: Die lan­gen Schat­ten der In­sti­tu­tio­nel­len Re­vo­lu­ti­on (2004)

Das in­sti­tu­tio­nel­le Ar­ran­ge­ment der vor­li­be­ra­len Welt un­ter­schei­det sich grund­le­gend von dem der in­dus­tri­el­len; die von Rein­hart Ko­sel­leck als „Sat­tel­zeit“ be­schrie­be­ne Pe­ri­ode mar­kiert den Über­gang von der mo­ra­lisch le­gi­ti­mier­ten Öko­no­mie mit star­ken ge­mein­schaft­li­chen Ver­fü­gungs­rech­ten zu einer le­gi­ti­men Wett­be­werbs­ord­nung mit star­ken in­di­vi­du­el­len Ver­fü­gungs­rech­ten. Öko­no­mi­scher und po­li­ti­scher Li­be­ra­lis­mus stan­den in enger Ver­bin­dung; po­li­ti­sche Frei­heit und das Recht an Ei­gen­tum wur­den zu In­si­gni­en des Bür­gers, Bil­dung und Be­sitz zur Basis po­li­ti- (283) scher Par­ti­zi­pa­ti­on. Der Markt ist nicht mehr län­ger nur die tra­dier­te, an einen be­stimm­ten Ort ge­bun­de­ne Form des – in ers­ter Linie lo­ka­len – Aus­tauschs zwi­schen An­bie­tern und Nach­fra­gern, son­dern ein ge­sell­schaft­li­ches Mo­dell, eine vom in­di­vi­du­el­len Nut­zen­stre­ben be­stimm­te ei­gen­ge­setz­li­che Sphä­re. Ei­gen­nutz wurde als le­gi­ti­mer Wert an­er­kannt, Zeit zum Fak­tor der Ge­winn­erzie­lung. […] Neben die Ein­zel­un­ter­neh­mer tra­ten zu­nächst Per­so­nen-, mit Ver­zö­ge­rung auch Ka­pi­tal­ge­sell­schaf­ten. Wie keine an­de­re Ge­sell­schafts­form ver­moch­te die 1870 aus staat­li­cher Kon­zes­sio­nie­rung ent­las­se­ne Ak­ti­en­ge­sell­schaft große Ka­pi­ta­li­en an­zu­sam­meln und gleich­zei­tig die Haf­tung des Ein­zel­nen zu be­gren­zen. […]
Zwi­schen 1850 und 1880 ge­lang der Markt­ge­sell­schaft der Durch­bruch zur in­dus­tri­el­len Mas­sen­pro­duk­ti­on von Ver­brauchs­gü­tern. Schlüs­sel­be­grif­fe der sich eta­blie­ren­den Markt­ge­sell­schaft des 19. Jahr­hun­derts waren Markt­öff­nung, Markt­er­wei­te­rung und Markt­in­te­gra­ti­on. Hat­ten die li­be­ra­len Ge­wer­be- und Agrar­re­for­men zu Be­ginn des Jahr­hun­derts die Märk­te ge­öff­net und die In­sti­tu­tio­na­li­sie­rung der Wett­be­werbs­ge­sell­schaft sie er­wei­tert, so wurde ihre In­te­gra­ti­on er­mög­licht durch die Kom­mu­ni­ka­ti­ons- und Trans­port­re­vo­lu­ti­on. Ihre Sinn­bil­der waren der Te­le­graph und die Ei­sen­bahn. Letz­te­re schuf die Grund­la­ge für den kos­ten­güns­ti­gen über­re­gio­na­len Aus­tausch von In­ves­ti­ti­ons- und Kon­sum­gü­tern. An der Schnitt­stel­le zwi­schen An­bie­tern und Nach­fra­gern von Kon­sum­gü­tern eta­blier­te sich seit der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts die Wer­bung, zu­nächst als reine In­for­ma­ti­ons­ver­mitt­lung. Die Waren wur­den nicht mehr nur auf Be- (284) stel­lung pro­du­ziert, son­dern in Läden, d.h. in nur hier­für vor­ge­se­he­nen Räu­men, vor­ge­hal­ten. Wer­bung in­for­mier­te, zu­nächst in Zei­tun­gen, die Kun­den dar­über, wel­che Waren in wel­cher Be­schaf­fen­heit wo zu be­zie­hen waren.
Der Kon­so­li­die­rung der Wett­be­werbs­ord­nung in der Mitte des Jahr­hun­derts folg­te die Re­for­mu­lie­rung des Ver­hält­nis­ses von Staat und Wirt­schaft. [… Der Staat] über­nahm nun­mehr auch eine ge­wis­se Schutz­funk­ti­on für die­je­ni­gen, die zu­gleich Trä­ger und Ver­lie­rer der In­dus­tria­li­sie­rung waren. Be­reits in den ers­ten Jah­ren des Deut­schen Reichs wurde of­fen­bar, dass die bis­lang Kom­mu­nen und pri­va­ten Trä­gern über­las­se­ne so­zia­le Si­che­rung zu den ori­gi­nä­ren Auf­ga­ben des Staa­tes ge­zählt wurde. Aus po­li­ti­schen Grün­den wur­den die im Kai­ser­reich ge­schaf­fe­nen ers­ten drei So­zi­al­ver­si­che­rungs­säu­len – Un­fall-, Kran­ken- und Ren­ten­ver­si­che­rung – an das Kri­te­ri­um der ab­hän­gi­gen Er­werbs­ar­beit ge­knüpft ; wie schwer die Ab­kehr von dem hier­mit vor gut 130 Jah­ren ein­ge­schla­ge­nen Weg ist, zei­gen die zahl­rei­chen Re­form­ver­su­che der letz­ten drei Jahr­zehn­te. […]
Das Ver­trau­en in die Wohl­fahrt schaf­fen­de Kraft einer li­be­ra­len Wirt­schafts­ord­nung war bis zur ers­ten gro­ßen Krise der Markt­wirt­schaft in Deutsch­land un­ge­bro­chen. Dass auch eine in­dus­tria­li­sier­te Wirt­schaft nicht vor Ver­wer­fun­gen ge­feit war, zeig­te sich in gro­ßer Deut­lich­keit erst­mals we­ni­ge Jahre nach der Grün­dung des Deut­schen Rei­ches. Der Zu­sam­men­schluss der deut­schen Staa­ten hatte zu­nächst die gute kon­junk­tu­rel­le Lage der Wirt­schaft wei­ter be­flü­gelt, stell­te sie doch (285) die zu er­war­ten­de Ver­ein­heit­li­chung bei­spiels­wei­se der Ge­wer­be­ord­nun­gen und des Münz- und Post­we­sens eine er­heb­li­che Re­du­zie­rung von Trans­ak­ti­ons­kos­ten in Aus­sicht. Be­reits nach zwei Jah­ren kipp­te die Grün­de­reu­pho­rie in eine Grün­der­kri­se […]. Sie of­fen­bar­te die struk­tu­rel­len De­fi­zi­te einer staat­lich weit­ge­hend un­ge­re­gel­ten Markt­wirt­schaft und er­schüt­ter­te das Ver­trau­en in eine li­be­ra­le Wirt­schafts­po­li­tik nach­hal­tig. […] Die kon­junk­tu­rel­len Schwan­kun­gen und die so­zia­len Ver­wer­fun­gen einer li­be­ra­li­sier­ten Wirt­schaft bra­chen der Auf­fas­sung Bahn, dass der Staat den Li­be­ra­lis­mus zu be­schrän­ken habe: Der Wett­be­werb der Früh­in­dus­tria­li­sie­rung wurde durch wei­ter­rei­chen­de staat­li­che In­ter­ven­tio­nen ge­re­gelt, ohne frei­lich den ein­mal ein­ge­schla­ge­nen Weg der auf Pri­vat­ei­gen­tum ba­sie­ren­den Markt­ge­sell­schaft wie­der zu ver­las­sen. Der Staat griff selbst als Mit­spie­ler in die Wirt­schaft ein. An­knüp­fend an mer­kan­ti­lis­ti­sche Tra­di­tio­nen und aus­ge­hend von der An­nah­me, dass be­stimm­te Güter von öf­fent­li­chem In­ter­es­se waren, in aus­rei­chen­der Menge und zu einem po­li­tisch durch­setz­ba­ren Preis für alle ver­füg­bar sein soll­ten, wur­den pri­va­te Un­ter­neh­men ver­staat­licht und – wie die Gas-, Was­ser- und Elek­tri­zi­täts­wer­ke – in die Trä­ger­schaft von Kom­mu­nen oder – wie die Ei­sen­bah­nen und die Post – in die des Rei­ches über­führt.
Der Staat be­schränk­te sich aber nicht auf eine Rolle als Mit­spie­ler, son­dern ver­än­der­te auch den in­sti­tu­tio­nel­len Rah­men. […] (286) Er­gän­zend ver­half der Staat zu­neh­mend grö­ße­ren ge­sell­schaft­li­chen Grup­pen, die von den Kos­ten der In­dus­tria­li­sie­rung in der Si­cher­heit ihrer Le­bens­füh­rung exis­ten­ti­ell be­droht waren, durch die Ein­füh­rung der Un­fall-, der Kran­ken- und der Ren­ten­ver­si­che­rung zu einem ge­wis­sen Maß an Si­cher­heit. Pate der auf dem Prin­zip der Zwangs­mit­glied­schaft be­ru­hen­den So­zi­al­ver­si­che­run­gen stand die Angst vor dem re­vo­lu­tio­nä­ren Po­ten­ti­al der Ar­bei­ter, die sich un­ge­ach­tet der Be­dro­hung durch die So­zia­lis­ten­ge­set­ze zu­neh­mend in In­ter­es­sen­ver­tre­tun­gen or­ga­ni­sier­ten. […]
In­ter­es­sen­ver­tre­tun­gen bil­de­ten nicht nur die Ar­bei­ter, son­dern auch die Un­ter­neh­men. Sie hat­ten sich im Kai­ser­reich zu hoch­kom­ple­xen Ge­bil­den ent­wi­ckelt, die ar­beits­tei­li­ge Pro­duk­ti­ons­pro­zes­se hier­ar­chisch or­ga­ni­sier­ten und da­durch Nut­zen­ef­fek­te er­ziel­ten. Als Schlüs­se­lin­no­va­ti­on gilt die Ak­ti­en­ge­sell­schaft. […] Ins­be­son­de­re die größ­ten Un­ter­neh­men hat­ten sich zu po­li­tisch ge­wich­ti­gen Spie­lern ent­wi­ckelt, die ihre Spiel­räu­me nicht nur durch ihre wirt­schaft­li­che Stär­ke aus­zu­bau­en trach­te­ten, bei­spiels­wei­se durch wett­be­werbs­be­schrän­ken­de Kar­tel­le, son­dern auch über ihre In­ter­es­sen­ver­bän­de Märk­te und Pro­duk­ti­ons­be­din­gun­gen ab­si­chern woll­ten. Un­ter­stützt wur­den sie dabei von den gro­ßen Ge­schäfts­ban­ken, die sich über die Be­set­zung von Auf­sichts­rat­man­da­ten un­ter­neh­me­ri­sche Ver­fü­gungs­rech­te ein­ver­leib­ten. Die enge Ver­bin­dung von Groß­in­dus­trie und Groß­ban­ken wurde zu einem der her­vor­ste­chends­ten Merk­ma­le der Wirt­schaft des Kai­ser­reichs und der Wei­ma­rer Re­pu­blik. […] (287)
Un­be­strit­ten ist, dass die Wirt­schafts­po­li­tik der Wei­ma­rer Re­pu­blik den im Kai­ser­reich ein­ge­schla­ge­nen Weg weit­ge­hend fort­führ­te. Sie grenz­te sich von der des Kai­ser­reichs nicht - bei­spiels­wei­se durch So­zia­li­sie­run­gen – grund­le­gend ab. Auch der Aus­bau des So­zi­al­staa­tes durch die Aus­deh­nung des in der ge­setz­li­chen So­zi­al­ver­si­che­rung zwangs­ver­si­cher­ten Per­so­nen­krei­ses, die Ver­bes­se­run­gen der Leis­tun­gen und die Schaf­fung einer neuen Ver­si­che­rung sind Bei­spie­le hier­für. Al­ler­dings griff der Staat stär­ker als zuvor in die durch den ver­lo­re­nen Krieg be­las­te­te Wirt­schaft ein. Die staat­li­chen Ein­grif­fe in die Wirt­schafts­ord­nung waren indes un­ter­schied­lich stark aus­ge­prägt. Große Be­völ­ke­rungs­ver­lus­te und die Zer­stö­rung von Ver­mö­gens- und Pro­duk­ti­ons­wer­ten, die Um­stel­lung von der Kriegs- auf die Frie­dens­wirt­schaft, In­fla­ti­on, hohe Ar­beits­lo­sig­keit und die Welt­wirt­schafts­kri­se stell­ten Wirt­schaft und Po­li­tik vor Her­aus­for­de­run­gen, deren un­zu­rei­chen­de Be­wäl­ti­gung be­kann­ter­ma­ßen die Macht­er­grei­fung Hit­lers be­güns­tigt hatte. Wel­che Hand­lungs­op­tio­nen die junge Re­pu­blik mit ihrer noch un­ge­fes­tig­ten und zum Teil auch un­ge­lieb­ten po­li­ti­schen In­sti­tu­tio­nen­ord­nung über­haupt hatte und ob sie exis­tie­ren­de Op­tio­nen bes­ser hätte nut­zen kön­nen, ist in der For­schung um­strit­ten und muss an die­ser Stel­le offen blei­ben. Am deut­lichs­ten waren die Ein­grif­fe auf dem Ar­beits­markt, wo man die un­glei­che Macht­ver­tei­lung zwi­schen Ar­beit­ge­bern und Ar­beit­neh­mern und die sich zu einem Mas­sen­phä­no­men ent­wi­ckeln­de Ar­beits­lo­sig­keit durch weit­ge­hen­de Re­gu­lie­rung des Ar­beits­mark­tes zu min­dern such­te. Die im Kai­ser­reich zu­nächst ver­bo­te­nen Ge­werk- (288) schaf­ten wur­den als le­gi­ti­me In­ter­es­sen­ver­tre­tun­gen der Ar­bei­ter im po­li­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Macht­ge­fü­ge an­er­kannt. Die Be­stä­ti­gung der lange be­kämpf­ten Ta­rif­ver­trä­ge und der Auf­stieg pro­mi­nen­ter Ge­werk­schafts­funk­tio­nä­re in höchs­te po­li­ti­sche Ämter sind Aus­druck die­ses Wan­dels der Ar­beits­ord­nung. (289)

(Cle­mens Wi­scher­mann, Anne Nie­ber­ding, Die in­sti­tu­tio­nel­le Re­vo­lu­ti­on. Eine Ein­füh­rung in die deut­sche Wirt­schafts­ge­schich­te des 19. und frü­hen 20. Jahr­hun­derts. Stutt­gart (Franz Stei­ner) 2004, S. 283 - 289)


„Vom pa­ter­na­lis­ti­schen zum li­be­ra­len Mo­dell“ Cle­mens Wi­scher­mann/ Anne Nie­ber­ding: Her­un­ter­la­den [doc] [26 KB]

„Li­be­ra­lis­mus, li­be­ra­les Mo­dell“ Cle­mens Wi­scher­mann/ Anne Nie­ber­ding:
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„Öko­no­mi­scher und po­li­ti­scher Li­be­ra­lis­mus, li­be­ra­les Mo­dell“ Cle­mens Wi­scher­mann/ Anne Nie­ber­ding: Her­un­ter­la­den [doc] [26 KB]