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Na­ti­on

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Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.

Ute Fre­vert über „Na­ti­on, Na­tio­na­lis­mus“ (2003):

Dass sich das kul­tur­ge­schicht­li­che In­ter­es­se ach und vor allem auf das Thema ‚Na­ti­on/Na­tio­na­lis­mus’ rich­tet, geht auf die Grund­an­nah­me zu­rück, wo­nach Na­tio­nen kul­tu­rel­le Pro­duk­te und Kon­struk­tio­nen seien. (263) […] Be­reits 1960 er­öff­ne­te Elie Ke­dou­rie sein Buch ‚Na­tio­na­lism’ mit dem Satz, der Na­tio­na­lis­mus sei zu Be­ginn des 19. Jahr­hun­derts in Eu­ro­pa „er­fun­den“ wor­den. Auch Er­nest Gell­ner be­ton­te 1983 das Ele­ment des Künst­li­chen bei der na­tio­na­len Klas­si­fi­zie­rung von Men­schen, und der bri­ti­sche His­to­ri­ker Eric Hobs­bawm stell­te 1990 fest: „Nicht die Na­tio­nen sind es, die staa­ten und Na­tio­na­lis­men her­vor­brin­gen, son­dern um­ge­kehrt.“ […]
Wäh­rend je­doch Ke­dou­rie gro­ßen Wert dar­auf legte, diese Ent­wick­lung als zu­fäl­lig hin­zu­stel­len und den Na­tio­na­lis­mus für einen ideo­lo­gi­schen Un­fall aus­zu­ge­ben, kenn­zeich­ne­ten Gell­ner und Hobs­bawm ihn als not­wen­di­ge Folge po­li­ti­scher, öko­no­mi­scher, tech­ni­scher und so­zia­ler Mo­der­ni­sie­rungs­pro­zes­se. Erst vor dem Hin­ter­grund ma­kro­his­to­ri­scher Be­din­gun­gen und Er­for­der­nis­se sei sein Sie­ges­zug an­ge­mes­sen zu er­klä­ren: als eine po­li­ti­sche Be­we­gung, die durch eben diese Be­din­gun­gen und Er­for­der­nis­se her­vor­ge­ru­fen und in hohem Maße be­güns­tigt (264) werde. Na­tio­na­lis­mus er­scheint hier als eine Re­ak­ti­on auf Her­aus­for­de­run­gen mo­der­ner In­dus­trie­ge­sell­schaf­ten oder ge­nau­er: als Ant­wort und Er­geb­nis spe­zi­fi­scher Un­gleich­zei­tig­kei­ten, die jene Ge­sell­schaf­ten cha­rak­te­ri­sie­ren. Es ist die Ideo­lo­gie der „Nach­züg­ler“ (Gell­ner) und Zu­kurz­ge­kom­me­nen, die darin eine Chan­ce sehen, ihre Be­nach­tei­li­gung in po­li­ti­sche Vor­tei­le um­zu­mün­zen. […] Dafür ist es not­wen­dig, das Kon­zept ‚Na­ti­on’ mit star­ken Emo­tio­nen an­zu­rei­chern. Sol­len Men­schen dazu be­wo­gen wer­den, für die ‚Na­ti­on’ unter Um­stän­den auch mit ihrem Leben ein­zu­ste­hen, be­darf es, wie An­der­son an­ge­merkt hat, in­ten­si­ver kul­tu­rel­ler Im­pul­se. Sie erst er­zeu­gen „jenes be­mer­kens­wer­te Ver­trau­en in eine an­ony­me Ge­mein­schaft, wel­ches das un­trüg­li­che Kenn­zei­chen mo­der­ner Na­tio­nen ist. (265)
In der ers­ten Phase rich­ten ein­zel­ne Ge­lehr­te und Schrift­stel­ler ihre Auf­merk­sam­keit auf ‚na­tio­na­le’ Spra­che, Volks­kunst und so ge­nann­te Ur­sprungs­my­then. In einer zwei­ten Phase zie­hen diese Ak­ti­vi­tä­ten das In­ter­es­se einer etwas grö­ße­ren bür­ger­lich-ad­li­gen Elite auf sich, die sich die Kon­struk­te zu Eigen macht und po­li­ti­sche For­de­run­gen an­schließt. (271) Wenn ihr Na­tio­na­lis­mus zur Mas­sen­be­we­gung wird, ist die drit­te Phase er­reicht. […]
Um den Bot­schaf­ten des Na­tio­na­lis­mus eine grö­ße­re An­hän­ger­schaft zu si­chern, be­durf­te es län­ger­fris­ti­ger und mul­ti­me­dia­ler An­rei­ze. Dazu ge­hör­te vor­dring­lich eine ver­bes­ser­te Kom­mu­ni­ka­ti­ons­struk­tur, die es mehr Men­schen er­laub­te, die Enge des lo­ka­len oder pro­vin­zi­el­len Raums zu über­schrei­ten und mit­ein­an­der in Kon­takt zu tre­ten. Die Ver­bes­se­rung des Rei­se­ver­kehrs durch den Aus­bau von Chaus­se­en und Was­ser­we­gen, vor allem aber durch den Sie­ges­zug der Ei­sen­bahn schuf die Vor­aus­set­zun­gen für per­sön­li­che Be­geg­nun­gen aber auch für den schnel­le­ren Aus­tausch von Nach­rich­ten auf dem Post­weg. Als gegen Ende des 19. Jahr­hun­derts Te­le­fon und Te­le­gra­fie hin­zu­tra­ten, war die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­re­vo­lu­ti­on so gut wie ab­ge­schlos­sen; erst das In­ter­net (272) des aus­ge­hen­den 20. Jahr­hun­derts er­mög­lich­te hier noch ein­mal einen neuen qua­li­ta­ti­ven und quan­ti­ta­ti­ven Sprung.
Eng damit ver­bun­den war die Ex­pan­si­on der Me­di­en­land­schaft, die die öf­fent­li­che Sphä­re grund­le­gend um­krem­pel­te. Je mehr Zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten auf den Markt kamen, desto schnel­ler und groß­flä­chi­ger ver­brei­te­ten sich In­for­ma­tio­nen, Mei­nun­gen und Stand­punk­te. Davon pro­fi­tier­ten alle po­li­ti­schen Rich­tun­gen, auch die Wort­füh­rer des Na­tio­na­lis­mus.
Emi­nent wich­tig waren dar­über hin­aus Or­ga­ni­sa­tio­nen, die den stets flüch­ti­gen und luf­ti­gen Ideen eine feste, kon­ti­nui­täts­ver­bür­gen­de Hülle lie­hen. Hier traf es sich güns­tig, dass die eu­ro­päi­schen Ge­sell­schaf­ten des 19. Jahr­hun­derts wahre Ex­zes­se der Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on be­gin­gen. As­so­zia­tio­nen aller Art wuch­sen wie Pilze aus dem Boden; ihre Mit­glie­der kamen aus frei­en Stü­cken und pfleg­ten das Prin­zip „ar­bei­ten­der Ge­sel­lig­keit“. Viele Ver­ei­ne ver­ban­den ihren en­ge­ren Zweck – das ge­mein­sa­me Tur­nen, Sin­gen und Schie­ßen – mit na­tio­na­len Ziel­set­zun­gen. […] Damit legte sich das na­tio­na­le Be­kennt­nis gleich­sam über alle Frik­tio­nen und Frak­tio­nen da­ma­li­ger Ge­sell­schaf­ten; es brach­te Ad­li­ge und Bau­ern, Pro­le­ta­ri­er und Bour­geois, Ge­lehr­te und Ta­ge­löh­ner, Män­ner und Frau­en, Ka­tho­li­ken, Pro­tes­tan­ten und Juden an einen Tisch, der keine hier­ar­chi­schen Sitz­ord­nun­gen kann­te. Dort, wo sich diese Gleich­heits­idee wie im de­mo­kra­ti­schen Spek­trum mit weit ge­fass­ten po­li­ti­schen Par­ti­zi­pa­ti­ons­for­de­run­gen auf­lud, be­wahr­te sie eine eman­zi­pa­ti­ve Kraft, die (273) be­reits in der Fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on sicht­bar und fühl­bar ge­wor­den war. (274) […]
Der Na­tio­na­lis­mus als in Eu­ro­pa und Nord­ame­ri­ka ent­stan­de­nes Phä­no­men ist, wenn­gleich ver­spä­tet, auch in an­de­ren Welt­re­gio­nen hei­misch ge­wor­den und pro­fi­tiert dort von ähn­li­chen struk­tu­rel­len Be­din­gun­gen, die ihm im Wes­ten zum Durch­bruch ver­hal­fen: von der ur­ba­nen Kon­zen­tra­ti­on der Be­völ­ke­rung, von Al­pha­be­ti­sie­rung und Ver­kehrs­re­vo­lu­ti­on, von stei­gen­der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­dich­te und Me­di­en­ex­pan­si­on. Be­ruh­te und be­ruht seine At­trak­ti­vi­tät pri­mär auf sei­nen In­te­gra­ti­ons­leis­tun­gen unter ega­li­tär-par­ti­zi­pa­to­ri­schen und so­li­da­ri­schen Vor­zei­chen, wohn­te und wohnt sei­nen Ab- und Aus­gren­zungs­en­er­gi­en eine De­struk­ti­ons­kraft inne, die seit zwei Jahr­hun­der­ten kon­ti­nu­ier­lich zu inner- und in­ter­na­tio­na­len Ge­walt­ex­zes­sen führt. Ge­ra­de von jener Ge­walt ging und geht eine star­ke emo­tio­na­le Bin­dungs­kraft aus: Sie for­dert, in pri­va­te und kol­lek­ti­ve Er­in­ne­run­gen ein­ge­las­sen, eher zur Fort­set­zung als zur dau­er­haf­ten Bei­le­gung von Kon­flik­ten auf. Dass Krie­ge er­nüch­ternd wir­ken und Na­tio­na­lis­men ent­kräf­ten kön­nen, ge­schieht al­len­falls in Aus­nah­me­fäl­len – wie in Eu­ro­pa nach 1945. (279)

(Ute Fre­vert, Na­ti­on, Na­tio­na­lis­mus, in: Ri­chard van Dül­men (Hrsg.), Fi­scher Le­xi­kon Ge­schich­te. Frank­furt/Main (Fi­scher) 2003, S. 260 - 280, hier: S. 263ff.)

 

Ute Fre­vert über „Na­ti­on, Na­tio­na­lis­mus“ (2003):
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