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Erarbeitung

In Interviews gibt das Künstlerehepaar Auskunft über sein Selbstverständnis als Fotograf:innen und die Ästhetik von Industriebauten:

„[Hilla Becher:] Wir [haben] uns auch sehr schnell in einer gemeinsamen Grundüberzeugung getroffen, nämlich der: die Technik hat es nicht nötig interpretiert zu werden, die interpretiert sich selbst. Man muss nur die richtigen Objekte auswählen und präzise ins Bild rücken: dann erzählen die ihre eigene Geschichte schon selbst. Mit anderen Worten: Wir wollen an den Objekten, die wir fotografierten, nichts verändern – ein Prinzip, das wir noch heute befolgen. Nur ein Kunstgriff war und ist erlaubt, die einzelnen Objekte freizustellen, also rahmenfüllend ins Bild zu rücken, was ja nicht ganz den Tatsachen entspricht, da sie vor Ort mitten in einem architektonischen Chaos oder Urwald stehen. Aber dieser Kunstgriff ist einfach nötig, damit man sie als Gesamtform überblicken und erkennen kann. […] Auch noch heute scheint mir die spezifische Stärke der Fotografie in der ganz und gar realistischen Wiedergabe von Welt zu liegen. Das unterscheidet sie von allen anderen Bildmedien, das kann sie von allen am besten. Und je präziser sie Gegenstände abbildet, desto stärker ist ihre magische Wirkung auf den Betrachter. […]

[Bernd Becher:] Dass wir uns das Ziel gesetzt haben, die Objekte möglichst präzise wiederzugeben, war schon gesagt. Und das hieß, wir mussten mit Großbildkameras arbeiten. Was Belichtungszeiten zwischen zehn Sekunden und einer Minute bedingt und erklärt, warum auf unseren Bildern Menschen fehlen. Und damit man alle Details eines Objekts erkennen kann, müssen wir bei diffusem Licht arbeiten, so dass möglichst wenige Schatten auftreten. Und damit Bäume und Sträucher nun minimal stören, fotografieren wir meist im Frühjahr und Herbst, wenn sie noch nicht oder nicht mehr belaubt sind. Schließlich der Blick aus halber Höhe auf das Objekt, dass es in seiner ganzen Ausdehnung unverzerrt vor einem steht […]. Und dies Gefühl haben wir dann […] immer wieder einzufangen versucht, indem wir […] extra Gerüste konstruierten oder auf Dächer stiegen, in benachbarten Häusern fragten, ob wir aus bestimmten Fenstern fotografieren durften usw. So kam dann dieser spezifische Stil zustande, der eigentlich gar kein Stil ist, sondern nur die „ideale Sicht“ auf den Gegenstand, die ihn übersichtlich macht. [..] Im Vordergrund steht das Objekt, nicht der Fotograf. Denn je präziser er das Objekt ins Bild rückt, desto stärker kommt dessen Individualität zum Vorschein. Und darauf legen wir zumindest den größten Wert. Dabei reicht uns die Möglichkeit, unsere subjektiven Vorlieben bei der Auswahl der Objekte ins Spiel zu bringen, die wir fotografieren, aus denen wir unsere Tableaus bauen, die wir in Ausstellungen geben und in unsere Bücher nehmen. […]

[Bernd Becher:] Im Großen folgt unsere Kategorienbildung nämlich quasi wissenschaftlichen Kriterien. Da bilden wir Werkgruppen, die von der Funktion der Objekte ausgeht – also Werkgruppen wie Kalköfen, Kühltürme, Hochöfen, Fördertürme, Wassertürme, Gasbehälter, Silos usw. Inzwischen haben wir in jeder Kategorie dermaßen viele Aufnahmen gesammelt, dass Buch- und Ausstellungsprojekte heute – im Gegensatz zu früher – nur noch Beispiele aus einer einzigen Kategorie präsentieren können, weil wir sonst zu umfangreich würden. Innerhalb dieser Kategorien gibt es dann „Familien“ von Objekten, die sich aus den verwendeten Baumaterialien herleiten: Holz, Stein, Eisen und Beton. Und erst innerhalb dieser Objekt-Familien kommen intuitive Auswahlkriterien zum Tragen: was sind die Grundformen oder Typen eines hölzernen Wasserturms beispielsweise. Da sieht man erst, wenn man etliche von ihnen nebeneinanderlegt. Und aus verschiedenen Beispielen für eine Grundform, einen Objekt-Typ, bauen wir unsere Tableaus. Es sei denn, ein Objekt-Typ wie der Hochofen beispielsweise ist optisch derart kompliziert, dass es verschiedene Ansichten von ihm braucht, um ihn vollständig zu verstehen. In solchen Fällen gibt es auch Tableaus, die aus mehreren Ansichten ein und desselben Objektes bestehen. […] Mit jedem Objekt, dass wir fotografieren, schärft sich unser Blick für dessen Eigenheiten, so dass wir heute viel genauer entscheiden können, welches Objekt die Elemente einer Objekt-Familie oder eines Objekt-Typs in quasi idealtypischer Form besitzt, so dass wir uns eine ganze Reihe ähnlicher Objekte sparen können, weil sie weniger idealtypisch sind. Denn bei der Masse der Objekte, die wir fotografieren könnten, muss es darauf ankommen, jene auszuwählen, die möglichst viele visuelle Informationen in sich vereinigen. Und das Gefühl dafür bringt erst die Erfahrung, vor Hunderten von Objekten gestanden zu haben. Anders kann man sich das gar nicht aneignen. […]

[Hilla Becher:] Diese Objekte sind fest im Boden verankert, man könnte fast sagen, dass sie Wurzeln geschlagen haben. Andere Gegenstände – etwa eine Tasse oder eine Nähmaschine – haben keine Wurzeln, aber ein Wasserturm ist „fest gemauert in der Erden“; auch wenn er keinen Ewigkeitswert besitzt, so ist er doch kein bewegliches Objekt. Er ist mit einem gewissen Mechanismus verbunden, mit einer Landschaft, mit den dort arbeitenden Menschen und einem sozialen Netzwerk. Man muss das Objekt als Solitär darstellen, sonst entsteht Chaos, aber man muss auch diesen Teil seiner Umgebung zeigen, der verständlich macht, dass es kein beweglicher Gegenstand ist wie eine Kaffeetasse. […].

[Bernd Becher:] Bleibt zu erwähnen, dass ich mich immer fürs Geschichtenerzählen interessiert habe. Auch deshalb hätte ich gar nicht anders arbeiten können als in Form einer Fotografie, die zwischen Kunst und Literatur angesiedelt ist, wie das auch bei August Sander1 und Eugène Atget2 der Fall ist. Denn was wir tun, ist letztlich Geschichten erzählen, und zwar, indem wir Menschen oder Dinge präsentieren, die ihre eigene Geschichte erzählen. […] Wenn Sie eine gotische Kirche besuchen, dann können Sie damit in deren Zeit zurückreisen, Sie begegnen der Kultur, die die errichtet hat. Unsere Aufnahmen von Industrieanlagen schaffen eine Möglichkeit, das Zeitalter der Industrie zu besuchen […].

[Bernd und Hilla Becher:] Den Objekten, die uns interessieren ist gemeinsam, dass sie ohne Rücksicht auf Maßverhältnisse und ornamentale Raster gebaut wurden. Ihre Ästhetik besteht darin, dass sie ohne ästhetische Absicht entstanden sind. […]

[Bernd Becher:] Es geht nicht darum, alles in der Welt zu fotografieren, sondern zu beweisen, dass eine Architektur, die im Wesentlichen aus Apparaten besteht, nichts mit Design zu tun hat und auch nicht mit Architektur. Es sind Ingenieurbauten, die ihre eigene Ästhetik haben.“

Becher, Bernd & Hilla (1989): Interview [mit Michael Köhler]. In: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, hg. v. Lothar Romain/Detlef Bluemler, Ausgabe 7. München: WB-Verlag, S. 14f.; Bernd & Hilla Becher, zit. n. Michael Fried (2014): Warum Photographie als Kunst so bedeutend ist wie nie zuvor. München: Schirmer/Mosel, S. 322, 336)

1 August Sander (1876-1964): deutscher Fotokünstler, bekannt durch sein Kulturwerk „Menschen des 20. Jahrhunderts“(postum 2010) mit einer Typologie von Menschen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten und Berufe.

2 Eugène Atget (1857-1927): Pariser Street-Fotograf.

Aufgaben

  1. Erarbeitet die fotografischen Regeln von Bernd & Hilla Becher.
  2. Erläutert, welche Funktionen die Fotografien des Künstlerpaars ihrem Selbstverständnis nach besitzen.
  3. Identifiziert weitere technische Objekte, welche nach Bernd & Hilla Becher eine eigene Ästhetik besitzen.
  4. Diskutiert, ob die von Bernd & Hilla Bechers fotografierten Industriebauten eine eigene Ästhetik besitzen.
  5. Der Architekt, Soziologe und Filmtheoretiker Siegfried Kracauer (1889-1966) stellt einen bestimmten Anspruch an die Fotografie, nämlich den der unpersönlichen, objektiven Wiedergabe der Wirklichkeit. Der Aufstieg der Fotografie fällt für Kracauer historisch zusammen mit der Verbreitung des Positivismus im 19. Jahrhundert, den zum Beispiel der französische Philosoph Hippolyte Adolphe Taine (1828-1893) in folgenden Spruch zum Ausdruck brachte: „Ich will die Objekte so wiedergeben, wie sie sind oder wie sie wären, wenn ich nicht existierte.“

    (Vgl. Kracauer, Siegfried (2005/1960): Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit (Werke, Bd. 3). Frankfurt a. Main: Suhrkamp, S. 30f.)

    Diskutiert, ob die Arbeiten von Bernd & Hilla Becher Kracauers Forderung gerecht werden.

  6. Prüft, ob es im Werk der Fotograf:innen eine „künstlerische Entwicklung“ geben kann.
  7. Entwickelt ausgehend von Bernd und Hilla Becher eine Definition des „Technikschönen“.

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