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M3: Ngũgĩ wa Thiong’o: Die Spra­che der Ko­lo­ni­al­her­ren

Für den Ko­lo­nia­lis­mus waren zwei As­pek­te des­sel­ben Pro­zes­ses mit­ein­an­der ver­bun­den: die Zer­stö­rung be­zie­hungs­wei­se be­wuss­te Ab­wer­tung der Kul­tur eines Vol­kes, sei­ner Kunst, sei­ner Tänze, der Re­li­gio­nen, Ge­schich­te, Geo­gra­fie, Bil­dung, der münd­li­chen Dich­tung und schrift­lich fi­xier­ten Li­te­ra­tur, und die be­wuss­te Auf­wer­tung der Spra­che des Ko­lo­ni­sa­tors. Die Be­herr­schung der Spra­che eines Vol­kes durch die Spra­chen der ko­lo­ni­sier­ten Na­tio­nen war ent­schei­dend für die Be­herr­schung des geis­ti­gen Uni­ver­sums des Ko­lo­ni­sier­ten. Be­trach­ten wir den Be­reich Spra­che als Kom­mu­ni­ka­ti­on. Das Auf­pf­rop­fen einer Fremd­spra­che und das Un­ter­drü­cken der ge­spro­che­nen oder ge­schrie­be­nen ein­hei­mi­schen Spra­chen zer­stör­te be­reits die Har­mo­nie, die zuvor zwi­schen dem afri­ka­ni­schen Kind und den drei As­pek­ten der Spra­che be­stand. Da die neue Spra­che als Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mit­tel Pro­dukt der „wirk­li­chen Spra­che des Le­bens“ an einem an­de­ren Ort war und dies re­flek­tier­te, konn­te sie weder münd­lich noch schrift­lich das wirk­li­che Leben jener Ge­mein­schaft re­flek­tie­ren oder imi­tie­ren. Dar­über er­klärt sich zum Teil, warum uns Tech­nik immer als etwas leicht Äu­ße­res er­scheint, als ihr Pro­dukt, nicht un­se­res. Das Wort „Ge­schoss“ hatte einen fremd­län­di­schen, weit ent­fern­ten Klang, bis ich vor Kur­zem das Ge­gen­stück in Gīkūyū lern­te, ngu­ru­kuhī, was dazu führ­te, dass ich es an­ders wahr­nahm. Für ein ko­lo­nia­les Kind wurde Ler­nen zu einer in­tel­lek­tu­el­len Ak­ti­vi­tät und nicht zu einer ge­fühl­ten Er­fah­rung. Da die auf­ge­zwun­ge­nen Spra­chen je­doch nie in der Lage waren, die ein­hei­mi­schen ge­spro­che­nen Spra­chen voll­stän­dig zu bre­chen, be­stand ihr ef­fek­tivs­ter Herr­schafts­be­reich im drit­ten As­pekt der Spra­che als Kom­mu­ni­ka­ti­on, im Schrift­li­chen. Die Spra­che der for­ma­len Bil­dung eines afri­ka­ni­schen Kin­des war eine Fremd­spra­che. Die Spra­che sei­ner Kon­zep­tua­li­sie­rung war fremd. Sein Den­ken wurde durch die frem­de Spra­che ge­prägt. Da­durch wurde die ge­schrie­be­ne Spra­che, in der das Kind in der Schu­le un­ter­rich­tet wurde von jener Spra­che ge­trennt, die es zu Hause sprach. Oft­mals be­stand nicht die ge­rings­te Be­zie­hung zwi­schen der schrift­li­chen Welt eines Kin­des, die zu­gleich die Spra­che sei­ner Schul­bü­cher war, und der Welt sei­ner un­mit­tel­ba­ren Um­ge­bung in Fa­mi­lie und Ge­mein­schaft. Für ein ko­lo­nia­les Kind war die Har­mo­nie, die zwi­schen den drei As­pek­ten von Spra­che als Har­mo­nie be­stand, un­wi­der­ruf­lich zer­bro­chen. Das führ­te zu einer ent­frem­de­ten Wahr­neh­mung des Kin­des von sei­ner na­tür­li­chen und ge­sell­schaft­li­chen Um­welt. Wir kön­nen sie auch ko­lo­nia­le Ent­frem­dung nen­nen. […]

Thiongo schil­dert an an­de­rer Stel­le wei­ter ein­dring­lich, was eu­ro­päi­sche Spra­chen im Kind an­rich­ten konn­ten:

„Waren seine Mut­ter­spra­chen in sei­nem be­ein­fluss­ba­ren Geist mit nie­de­rem Rang, De­mü­ti­gung, kör­per­li­cher Züch­ti­gung, nied­ri­ger In­tel­li­genz oder gar aus­ge­spro­che­ner Blöd­sin­nig­keit as­so­zi­iert, mit feh­len­der In­tel­li­genz und Bar­ba­rei, dann wurde das noch durch die Welt be­stärkt, der es in den Wer­ken sol­cher Ge­ni­en des Ras­sis­mus wie Rider Hag­gard (bri­ti­scher Aben­teu­er­schrift­stel­ler) oder Ni­cho­las Mont­s­er­rat (bri­ti­scher See­fah­rer und Schrift­stel­ler) be­geg­ne­te“

Ngũgĩ wa Thiong’o: De­ko­lo­ni­sie­rung des Den­kens. Es­says über afri­ka­ni­sche Spra­chen in der Li­te­ra­tur. Un­rast Ver­lag. Müns­ter 2017, S.51-53.

Auf­ga­ben (M3):

  1. Er­läu­tern Sie den Un­ter­schied zwi­schen einer „in­tel­lek­tu­el­len Ak­ti­vi­tät“ und einer „ge­fühl­ten Er­fah­rung“ beim Ler­nen.
  2. Spe­ku­lie­ren Sie, in­wie­fern das „in­tel­lek­tu­el­le“ Ler­nen einer Spra­che pro­ble­ma­tisch sein kann.
  3. Stel­len Sie dar, wel­ches Kon­zept von Spra­che bei Thiong‘o vor­liegt.
  4. Er­läu­tern Sie, wie es laut Thiong‘o in der afri­ka­ni­schen Rea­li­tät zum Sprach­wan­del ge­kom­men ist und was man da­ge­gen tun soll­te.

Sprach­kri­tik: Her­un­ter­la­den [docx][43 kB]