Einführung in die Stundenverläufe
Einleitung zur Bibeleinheit
„Versteht Ihr denn noch nicht?“ (Mk 8,21)
Der Jesus des Mk-Ev ist bekannt dafür, seinen Jünger_innen vorzuwerfen, nicht zu verstehen. Die Exegese hat sich für diesen Sachverhalt früh auf den Begriff des „Jüngerunverständnisses“ geeinigt und verwendet diesen bis in jüngste Publikationen. Anders als die unverständigen Jünger geht die Exegese aber davon aus, sehr wohl verstehen zu können und identifiziert nun dieses Verstehen als narrative Strategie des Mk: „Im Unterscheid zum intendierten Rezipienten können sie [die Jünger] das Wirken Jesu nicht deuten und verstehen nicht einmal in der Wiederholung einzelner Wundertaten, wer Jesus ist.“1 Aber verstehen wir Rezipierenden heute wirklich so viel mehr als die Jünger_innen zur Zeit Jesu? Was überhaupt lässt sich tun, um zumindest ein näherungsweises „Verstehen“ des Bibeltextes so zu organisieren, dass es methodisch nachvollziehbar und auch diskussionsfähig wird?
Nach wie vor gibt die historisch-kritische Methodik hier die beste Antwort: Ihre Methodik ist nach wissenschaftlichen Regeln der Texterschließung aufgebaut, sie ist ausdifferenziert und damit in allen methodischen Einzelschritten transparent und am Gegenstand überprüfbar. Schülerinnen und Schüler sollten in Stand gesetzt werden, diese Grundtechniken des Umgangs mit biblischen Texten so weit wie möglich selbst zu beherrschen. Natürlich können sie meist (noch) nicht übersetzen, Textkritik nur im Vergleich der übersetzen Varianten betreiben und auch motiv- oder religionsgeschichtliches Vergleichsmaterial nicht ohne größere Umstände selbst finden und gewinnbringend zuordnen. Dennoch ist es möglich, synoptische Vergleiche durchzuführen, den Text zu analysieren (seine Abgrenzung und Situation im Evangelium, seine Gliederung und rhetorischen Mittel), und auch lässt sich anhand von Parallelstellen das theologische Profil eines Textes erheben und redaktionskritisch vergleichen.
Die hier abgebildeten Stunden schlagen vor, zuerst den historisch-kritischen Umgang mit dem Bibeltext an einem Beispiel (Mk 8,14-21) einzuüben und plausibel zu machen, dass die so erzielten Ergebnisse durchaus ein reflektiertes und überprüfbares „Verstehen“ des Textes bedeuten. Die erste Doppelstunde (Textkritik, Anfang und Ende der Evangelien) macht nachvollziehbar, mit welchem Text wir es eigentlich in unserer Lutherbibel zu tun haben und wirft über den Vergleich der Evangelien-Anfänge und Enden Interpretationsfragen auf, die den weiteren Unterrichtsgang begleiten. Die zweite Doppelstunde („Es kann nur eines geben“ – das eine Brot) problematisiert ganz konkret am Text (und gegen seine wichtigste Alternative) ein Bild des Textes (das eine Brot), welches textanalytisch in seiner exponierten Stellung hervortritt und dann aber als Metapher zur Geltung kommt; nämlich in der szenischen Umsetzung der Perikope mit einem Baguette als Gegenstand der Aufführung. Doppelstunde drei (Verteilen gute Herrscher Brot?) rüstet die Frage nach dem Brot religionsgeschichtlich mit Material aus und spannt den diachronen Vergleich bis zu einer Brotspeisungs-Medaille aus dem ersten Weltkrieg: Hier soll deutlich werden, dass Motive und Inhalte biblischer Schriften bis in die jüngste Vergangenheit und Gegenwart hinein Analogien und Korrespondenzen besitzen, die durchaus auch für Schülerinnen und Schüler einer neunten oder zehnten Klasse von echtem Interesse sein können. Jesu Tun (oder genauer: das der Jünger_innen) erhält also hier im Unterschied zu einer neueren Hunger-Speisung kontrastive Kontur. Um die inhaltliche, theologische Diskussion soll es dann in der vierten Doppelstunde (Nicht verstehen, nicht wissen, nicht können… - „Jüngerunverständnis“ im Markusevangelium) gehen, welche nun redaktionskritisch, erst anhand des synoptischen Vergleiches und der (theologischen) Profile der Evangelien, dann aber in der Auseinandersetzung mit zwei sich widersprechenden, modernen theologischen Statements zum „Verstehen“ oder „Wissen“, die Diskussion des „Jüngerunverständinsses“ explizit aufnehmen soll.
Durchaus lässt sich doch hinterfragen, ob die Jünger erst von Jesus und dann von uns dafür getadelt werden müssen, dass sie nicht verstehen. Verstehen ist ja immer auch ein Machtgestus; im Angesicht der Unverfügbarkeit Gottes und der Jesusfigur, die ja selbst (zumindest im Mk-Ev) immer auch den Eindruck erweckt, nicht zu verstehen (vgl. den Schrei Jesu am Kreuz, sein Ringen in der Wüste nach der Taufe, oder sein Beten im Garten), scheint es selbstwidersprüchlich, hier ein Verstehen fordern zu wollen. Jesus selbst enthält sich dieses Machtgestus`, vielmehr betont er sein Dienersein und betont, nicht so zu sein, wie die Mächtigen (vgl. Mk 10,42f.). Er erklärt den Jüngern alles und legt es ihnen aus; den Jüngern, die dann trotzdem nicht verstehen! Alle anderen sollen sowieso nicht verstehen (vgl. Mk 4,12) – warum also sollten wir - und was überhaupt hätte es zB. Mk 8,21 zu verstehen gegeben? Hier möchte die Doppelstunde fünf (In der „Werkstatt des Bildkünstlers“: Die Wahrnehmung des Nicht-Wissbaren) noch einen zweiten Weg der Textinterpretation zumindest anbahnen: Nämlich den, die Nichtwissbarkeit und das Nicht-Verstehen ernst zu nehmen und die Wahrnehmung für das zu schulen, was über das Wissen hinaus im Text liegt: Emotionalität und alles Tropische, das auf etwas verweist, was sich sachlich entzieht, aber inhaltlich doch im Raum steht.
Hier beginnt m.E. das theologische Gespräch; hier lässt sich ein Theologisieren mit Jugendlichen anbahnen. Auch in diesem Sinne lässt sich Kunstmann in seiner Didaktik verstehen: „ Zur Anregung der Phantasie, aber auch zur Erfassung religiöser Gehalte […] muss die Religionsdidaktik vor allem offene und differenzierte Wahrnehmungen anstiften. So kann sie auch die Voraussetzungen für religiöse Erfahrungen schaffen. Der Sinn für Religion ist grundlegend gebunden an Sinneswahrnehmungen und eine entsprechende Sensibilisierung. […] Religion gibt es nicht als Wissen um feste Inhalte, sondern nur als innere Einstellung, die sich an Erfahrungen orientiert. […] Religiöse Didaktik ist die „Inszenierung von Lernspielen“, die eine innere Beteiligung, entsprechende Motivation und so die wirkliche Chance auf religiöse Bildung mit sich führt.“2
Gerade, wenn Jugendliche in Klasse 9 und 10 in vielfältigen Umbruchsprozessen existentiell und in sinnsuchender Perspektive immer wieder neu herausgefordert werden, bietet es sich mE. gerade an, das Nichtverstehen der Jünger_innen im Mk-Ev durchaus als etwas sehr Menschliches und genauso Annehmbares zu thematisieren.
Vergleichbar argumentiert Baldermann für Gleichnisse: „Mein Fazit ist: Ich kann Jesu Gleichnisse weder den Kindern noch den Erwachsenen erschließen, ohne den Kontext ihres Lebens mit einzubeziehen. So gehören soziale und emotionale Kontexte natürlich zum Verstehen der Gleichnisse unentbehrlich hinzu. Damit meine ich nicht nur die historischen, sondern auch die gegenwärtigen Kontexte der eigenen Erfahrung.“3 In diesem Sinne ist Kumlehn Recht zu geben, wenn sie die besondere Funktion von Religion in Bildungsprozessen darin sieht, dass Religion „Aufmerksamkeit auf das lenkt, was unsere Wahrnehmung kreativ unterbricht und irritiert, was in der Gleichung des Lebens nicht aufgeht und als Unerklärliches angesprochen werden muss […], was das Neu- und Anderssehen unserer Wirklichkeit anregt, und was das Verstehen im Nicht-Verstehen so beunruhigt, dass es in permanenter Bewegung gehalten wird, und was als prinzipiell Undarstellbares in symbolischen, metaphorischen, narrativen und diskursiven Formen paradoxerweise doch zur Darstellung kommen will und kann.“4
Diese Definition Kumlehns lässt sich im oben angedeuteten Sinne fast wie eine Erklärung zum Mk-Ev lesen, in der deutlich werden soll, warum die Irritation, die das Nichtverstehens der Jünger_innen auslöst, eben doch mehr ist, als nur ein Nichtverstehen von etwas, das wir heute angeblich besser verstehen. Mit Kumlehn ließe sich jetzt sagen: mit Hilfe dieses Nichtverstehens der Jünger_innen wird etwas Undarstellbares auf anderem Weg zur Darstellung gebracht; es wird etwas ohne ein Erklären und Wissen gesagt, das auf einer Wahrnehmungsebene Evidenz besitzt („Ihr habt Augen…“), die sich der Verfügbarmachung entzieht aber gleichwohl eine Such-Bewegung auslöst.
Jugendliche in Umbruchsprozessen (und nicht nur diese!) können sich an diese (theologische!) Such-Bewegung des Mk-Evs anschließen – und dies nicht, ohne den Text und die unverständigen Jünger_innen dabei auf ihre Weise gewürdigt zu haben: Das Nichtverstehen der Jünger_innen wird zu einem Identifikationsangebot für die eigene, allzu oft unverständliche Situation, die gleichzeitig die Situation vor Gott ist: Mose vor dem brennenden Dornbusch, Abraham auf dem Weg zur Opferung, Jesus am Kreuz oder die Jünger_innen vor der Bootsfahrt gegen den Sauerteig der Pharisäer und Herodesleute.
Der sich im Mk-Ev und in der Rezeption darüber hinaus spiegelnde Schutz vor dem Nichtverstehen-Können und Nicht-Wissbaren (man könnte auch sagen: vor dem Geheimnis Gottes – vgl. dazu Mk 12,29: das höchste Gebot; der Herr ist einer – vgl. dazu das eine Brot aus Mk 8,14! ) liegt nun auf einer anderen Interpretations-Ebene als das „Verstehen der Texte“, welches die historisch-kritische Methodik organisiert. Dennoch sollte hier umgekehrt gegenüber der historisch-kritischen Methodik ein gewisser Vorbehalt geltend gemacht werden: Der Zugriff des methodisch organisierten Verstehens impliziert immer auch eine Dimension der Gewalt und Macht: Texte werden zB. als gewisse Formen verhandelt, obwohl sie oft Mischformen sind oder nicht wirklich ins etablierte Schema passen, religionsgeschichtliches Vergleichsmaterial ist allzu oft zufällig gefundenes und kann in den seltensten Fällen wissenschaftlich redlich in genealogische Zuordnungen und Ableitungen gebracht werden; zumal dann nicht, wenn es nicht wirklich repräsentativ sein kann. Die Evangelisten werden leider nach wie vor auf mittelgebildete Tradenten und Sammler von gefundenen mündlichen und schriftlichen Überlieferungen reduziert, die ihren Stoff nur mehr oder weniger gut organisiert hätten. Dazu unterstellt man sehr schnell eine Autorintention, die bei genauerem Hinsehen meist widersprüchlich und schlecht belegt ist: Offenbar verlängert sich hier nicht selten der Machtgestus der Methode selbst; Wer nämlich weiß, wie es war und wer was wollte, der kann das auch bei den anderen messen. Hier sollte deutlich geworden sein, dass es uns der tropische und oft poetisch-elliptische Text der Evangelien so leicht eben nicht machen will; er schützt sein Geheimnis genauso wie sein eigenes Nichtverstehen bereits sehr geschickt (und viel geschickter als mittelgebildeten Tradenten das täten) im Text selbst.
1 Rüggemeier, Jan: Poetik der markinischen Christologie, Eine kognitiv-narratologische Exegese, Tübingen 2017, S. 526.
2 Kunstmann, Joachim, Religionspädagogik, Eine Einführung, Tübingen 2010 (2. überarbeitete Auflage, 12004), S. 180f.
3 Baldermann, Ingo, Auf der Suche nach der verlorenen Didaktik der Hoffnung, in Mell, Ulrich (Hg.), Die Gleichnisreden Jesu 1899-1999, Beiträge zum Dialog mit Adolf Jülicher, Berlin, New York 1999, S. 209-221, hier S. 219.
4 Kumlehn, Martina, Dynamis der Differenz, Differenztheoretische Impulse für religiöse Bildungsprozesse im Zeitalter des Pluralismus, in: Klie, Thomas, Korsch, Dietrich, Wagner-Rau, Ulrike (Hgg.): Differenz-Kompetenz, Religiöse Bildung in der Zeit, Leipzig 2012, S. 45-60, hier S. 56.
Unterrichtssequenz: „Die Bibel öffnet Räume“: Herunterladen [docx][2 MB]
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