Literaturwissenschaftl. Einordnung & Deutungsperspektiven
Während Wolframs Epos etwa 25.000 paarweise gereimte Verse umfasst, beschränkt sich Bärfuss auf einen Bruchteil des ursprünglichen Texts. Er konzentriert sich vollständig auf Parzivals Weg vom unwissenden Toren im Narrengewand zum Erlöser der Gralsburg. Die bei Wolfram als paralleler Handlungsstrang angelegte Gawein-Geschichte (die Abenteuer des Artusritter Gawein) wird hingegen vollständig ausgeklammert. Neben der Anpassung der Sprache akzentuiert Bärfuss den mittelhochdeutschen Stoff auch inhaltlich neu. Die Kürze des Stücks befördert eine Pointierung der wichtigsten Hintergründe und Ereignisse. Hervorgehoben wird zunächst leitmotivisch die völlige Desorientierung, Einfalt und Unwissenheit Parzivals, die seiner Erziehung zugeschrieben wird: „Du kannst den Jungen aus der Einöde holen, aber die Einöde nicht aus dem Jungen.“ Parzivals Naivität produziert an vielen Stellen eine eigene Komik, die die mittelhochdeutsche Vorlage teilweise noch übertrifft (vgl. zur Komik bei Wolfram: Ridder 2002, bei Bärfuss: Kindt 2020). Sie zeigt sich mitunter in den Gesprächen, etwa mit den Rittern, beispielsweise, wenn Parzival nicht verstehen will, dass „Ritter Ritter töten“, denn seiner Meinung nach sei dies ebenso absurd, wie wenn „Hirsche Hirsche töten“. Die Dialoge weisen häufig eine Stichomythie, einen schnellen Rednerwechsel von Vers zu Vers auf, was die verschiedenen Ansichten der Figuren noch deutlicher in ihrer Gegensätzlichkeit herausstellt. Auch die verschiedenen Stilebenen, Stilbrüche und Sprachexperimente befördern komische Momente: Als Gurnemanz Parzival den Begriff Wahrheit nahebringen will, verbindet Parzival diesen Begriff mit seinem dringenden Bedürfnis zu defäkieren. Für seine Beobachtungen findet er schräge, unfreiwillig komische Metaphern („Ihr pinkelt aus den Augen“). Ein Leitmotiv (neben Parzivals Unwissenheit) ist ferner der Schwindel, der ihn befällt, wenn er Ratschläge seiner Lehrer nicht versteht. Unzusammenhängende und unlogische Wortaneinanderreihungen und verkehrte Sätze zeigen den inneren Tumult Parzivals unmittelbar; die Suche nach einer angemessenen Sprache lässt sich denn auch als naiver Experimentierraum verstehen. Hier zeigen sich Parallelen zu einem weiteren reinen Tor, nämlich zu Kaspar Hauser in Peter Handkes gleichnamigem Stück. Gegenüber der mittelhochdeutsche Vorlage akzentuiert Bärfuss vor allem die Fallhöhe Parzivals, der als Auserwählter bei seinem ersten Besuch auf der Gralsburg versagt, weil er die Mitleidsfrage nicht stellt. Anfortas leidet nicht still wie bei Wolfram, sondern macht seine Schmerzen und seine Erlösungsbedürftigkeit explizit. Er weist Parzival darauf hin, dass seine Fäulnis alles verpestet und er nur noch auf die Erlösung wartet. Während bei Wolfram Erzählerkommentare eine doppelte Sicht auf das Geschehen eröffnen, reduziert Bärfuss die Wahrnehmung des Geschehens vollständig auf die Figurenperspektive.
Die Ausdeutungen der Geschehnisse auf der Gralsburg gehen Hand in Hand mit dem Auftakt des Stücks: Anfangs wird eine „Synopsis“ des gesamten Inhaltsstoffs des Dramas geboten. Hierbei werden die wichtigsten Figuren kursiv und in der Reihenfolge, wie sie im Drama vorkommen, aufgeführt (Herzeloyde, Jeschute, Sigune, Artus, Gurnemanz, Conduiramour, Anfortas, Trevrizent); in knappen Inhaltsangaben wird pointiert vorweggenommen, was Parzival mit ihnen erlebt und welche Rolle sie im Drama spielen. Die „Synopsis“ erinnert an Brechts Antizipationen des Inhalts im epischen Theater. Dabei werden auch Interpretationsansätze vorgestellt, etwa dass die Mutter Parzivals bei seiner Erziehung „verkehrte Werte“ lehrt, weil die „Werte der Welt“ verkehrt sind. Die Unfähigkeit Parzivals, sich in der „verkehrten Welt“ zu orientieren, endet immer wieder in der Flucht, einem Leitmotiv des Dramas und vielleicht auch ein Symptom für den orientierungslosen Menschen der Gegenwart, der eher den wichtigen Fragen aus dem Weg geht, als sich ihnen zu stellen. Am Ende der „Synopsis“ wie auch am „Ende“ des Dramas steht die Frage aller Fragen: „Warum?“. Sind wir, die Zuschauerinnen und Zuschauer, Anfortas oder Parzival? Leiden wir, ohne es zu wissen, oder haben wir es versäumt die entscheidende Frage an die Leidenden zu richten? Worin liegt unsere Naivität begründet? Liegt die Unfähigkeit zum Mitleid darin, dass es in einer verkehrten Welt keinen gelungen Bildungsweg, geschweige denn fähige Lehrerinnen und Lehrer, geben kann? Was kann jungen Menschen heute noch sinnvoll gelehrt werden? Inwiefern bleiben wir Menschen auf Unverfügbares angewiesen?
Bärfuss „Parzival“: Herunterladen [pdf][182 KB]
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