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Li­te­ra­tur­wis­sen­schaftl. Ein­ord­nung & Deu­tungs­per­spek­ti­ven

„Es ist nur so, als fände man in einem Schub­fach un­ge­ord­ne­te Pa­pie­re und fände eben vor­der­hand nicht mehr und müßte sich be­gnü­gen. Das ist, künst­le­risch be­trach­tet, eine schlech­te Ein­heit, aber mensch­lich ist es mög­lich, und was da­hin­ter auf­steht, ist im­mer­hin ein Da­seins­ent­wurf und ein Schat­ten­zu­sam­men­hang sich rüh­ren­der Kräf­te.“ - So be­schreibt Rilke den frag­men­ta­ri­schen Cha­rak­ter sei­ner Auf­zeich­nun­gen, die aus he­te­ro­gen wir­ken­den Ver­satz­stü­cken zu be­ste­hen schei­nen. In der For­schungs­li­te­ra­tur hat man immer wie­der auf das In­no­va­ti­ve der Er­zähl­tech­nik der Auf­zeich­nun­gen hin­ge­wie­sen. Häu­fig ist von einer Krise oder gar Auf­lö­sung des Er­zäh­lens im mo­der­nen Roman ist die Rede. Eine sol­che Form des Schrei­bens lässt sich mit der ver­än­der­ten Wahr­neh­mung des Men­schen in der mo­der­nen Welt in Ver­bin­dung brin­gen, die im Malte durch die Groß­stadt Paris dar­ge­stellt wird: Der Ich-Er­zäh­ler, der kein Er­zäh­ler im klas­si­schen Sinne mehr ist, zeigt sich von den dis­pa­ra­ten Ein­drü­cken in der Groß­stadt über­for­dert und er­lebt sich selbst nicht als au­to­nom. Sein Schrei­ben spie­gelt das Zer­fal­len des Gan­zen in Teile, wie es für die Li­te­ra­tur der Jahr­hun­dert­wen­de cha­rak­te­ris­tisch ist, wider.

Auch wenn die Groß­stadt­the­ma­tik und all­ge­mein die Er­fah­rung der Ent­frem­dung zen­tra­le The­men der Auf­zeich­nun­gen sind, grif­fe es zu kurz, er­klär­te man die Ab­kehr von einem tra­di­tio­nel­len Er­zäh­len nur mit der ver­än­der­ten Wahr­neh­mung des mo­der­nen Sub­jekts in der Groß­stadt. Viel­mehr ist die neue Art des Se­hens ist nur der Aus­lö­ser für die Ver­än­de­run­gen, die Malte zu einer an­de­ren Sicht­wei­se auf sich selbst, aber auch zur Schaf­fung einer neuen Art der Dich­tung be­we­gen. In der 14. Auf­zeich­nung, die als zen­tra­le Stel­le für die poe­to­lo­gi­sche Selbst­re­fle­xi­on des Ro­mans gel­ten kann, be­zweif­telt Malte in einem fast bi­bli­schen Duk­tus, ob je­mals Re­le­van­tes ge­schrie­ben wurde. Ins­be­son­de­re kri­ti­siert er, dass bis­lang nur von an­ony­men Mas­sen in ver­all­ge­mei­ner­tem Plu­ral ge­schrie­ben wor­den sei, nicht aber von dem ein­zel­nen In­di­vi­du­um. Um die­ses ist es Malte zu tun ist, weil es in der an­ony­men Groß­stadt eben­so un­ter­ge­he wie in der Dich­tung. In­ter­es­sant ist in die­sem Zu­sam­men­hang, wie das an­ony­me Ster­ben in der Me­tro­po­le dem in­di­vi­du­el­len Ster­ben auf dem Lande ge­gen­über­ge­stellt wird. Ein ei­ge­nes Leben ist die Vor­aus­set­zung für den ei­ge­nen Tod, bei­des ver­hin­dert die An­ony­mi­tät der Groß­stadt. Auf­fäl­lig ist, dass Malte nicht mehr von „Er­zäh­len“ spricht, son­dern von „Sagen“ vgl. 14. Auf­zeich­nung). Hier las­sen sich Be­zü­ge zu Ril­kes Pro­gramm des sach­li­ches Sa­gens, das er es in den Cézanne-Brie­fen ge­nau­er dar­ge­stellt hat, er­ken­nen. In einem Brief vom 19.10.1907 an Clara Rilke geht Rilke auf eine Text­stel­le aus den Auf­zeich­nun­gen ein, die auf Bau­de­lai­res Ge­dicht Une cha­ro­gne (Ein Aas) an­ge­spielt. In der 23. Auf­zeich­nung wird Bau­de­lai­res Äs­the­tik des Häss­li­chen zum Aus­gangs­punkt für Mal­tes (und Ril­kes) ei­ge­nes poe­to­lo­gi­sches Pro­gramm: Über den Dich­ter, der ein Aas zum Ge­gen­stand eines Ge­dichts macht, heißt es: „Es war seine Auf­ga­be, in die­sem Schreck­li­chen, schein­bar nur Wi­der­wär­ti­gen das Sei­en­de zu sehen, das unter allem Sei­en­den gilt. Aus­wahl und Ab­leh­nung giebt es nicht.“ In Bau­de­lai­res Ge­dicht er­kennt Rilke den Be­ginn einer Ent­wick­lung zum sach­li­chen Sagen, das er auch in Cézan­nes Ma­le­rei wie­der­fin­det und in sei­nen ei­ge­nen Ding­ge­dich­ten, in denen die Dinge selbst zur Spra­che ge­bracht wer­den. Hin­ter die­sem Dich­tungs­pro­gramm steht ein „Da­seins­ent­wurf“ , der das Wirk­li­che gel­ten lässt, „selbst wenn es arg ist“. Was Rilke als Auf­ga­be der Dich­tung for­mu­liert, gilt auch für Malte: „Erst mußte das künst­le­ri­sche An­schau­en sich so weit über­wun­den haben, auch im Schreck­li­chen und schein­bar nur Wi­der­wär­ti­gen das Sei­en­de zu sehen, das, mit allen an­de­ren Sei­en­den, gilt. So­we­nig eine Aus­wahl zu­ge­las­sen ist, eben­so­we­nig ist eine Ab­wen­dung von ir­gend­wel­cher Exis­tenz dem Schaf­fen­den er­laubt“ (Rilke in dem Brief an Clara Rilke vom 19.10.1907). Malte stellt sich die­sem An­spruch und be­schreibt - oft in der Form des Aperçus - in knap­per, sach­li­cher Spra­che die ab­scheu­li­chen olfak­to­ri­schen, akus­ti­schen und op­ti­schen Ein­drü­cke, die sich ihm in Paris bie­ten (wie z.B. häss­li­che, kran­ke Men­schen oder die Über­res­te ab­ge­ris­se­ner Häu­ser, die noch Spu­ren von den Nöten ihrer ehe­ma­li­gen Be­woh­ner tra­gen, vgl. 18. Auf­zeich­nung). Diese Ein­drü­cke lösen in Malte al­ler­dings eine Furcht aus, die sich zu einer als exis­ten­ti­ell emp­fun­de­nen Angst aus­wei­tet. Es ge­lingt Malte nicht, das Sei­en­de in sei­ner Ent­setz­lich­keit gut­zu­hei­ßen. Ins­be­son­de­re in sei­nem Be­mü­hen, sich von den „Fort­ge­wor­fe­nen“ ab­zu­gren­zen, wird deut­lich, dass er Un­ter­schie­de macht und als der „rüh­men­de“ Dich­ter (bis­lang) ge­schei­tert ist. Über Malte heißt es an einer Stel­le: „Ist es nicht das, daß diese Prü­fung ihn über­stieg, daß er sie am Wirk­li­chen nicht be­stand, ob­wohl er in der Idee von ihrer Not­wen­dig­keit über­zeugt war“.

Den gro­ßen Lie­ben­den da­ge­gen scheint zu ge­lin­gen, was Malte bis­lang ver­sagt ist: das Sei­en­de wie es ist gut­zu­hei­ßen. Liebe wird in der 24. Auf­zeich­nung als wei­te­res zen­tra­les Thema in den Roman ein­ge­führt. Be­son­ders die Liebe der Mut­ter ver­mag es, den Din­gen das Un­heim­li­che zu neh­men und Mal­tes Furcht zu be­sie­gen. Eine sol­che Liebe macht keine Un­ter­schie­de zwi­schen Men­schen und ist so be­dinungs­los wie Liebe der Hei­li­gen und Jesu. Der Roman sug­ge­riert, dass vor allem die Frau­en, wie Sap­pho und ihre Schü­le­rin, Bet­ti­ne von Arnim, Héloïse oder Ga­s­pa­ra Stam­pa, zu die­ser Art der Liebe fähig sind. Malte hin­ge­gen ver­mag so nicht zu lie­ben. Er ist viel­mehr ge­trie­ben von sei­ner Angst; er lernt zwar sehen, aber nicht die Dinge schrei­bend zu rüh­men. Lie­bend könn­te die Angst über­wun­den wer­den und Malte würde sich zu dem Dich­ter ent­wi­ckeln, der er sein möch­te. Mal­tes (und Ril­kes) Dich­tungs­pro­gramm hat damit eine exis­ten­ti­el­le Di­men­si­on und ent­spre­chend for­mu­liert Rilke als die zen­tra­le Aus­sa­ge sei­ner Auf­zeich­nun­gen: „Was im Malte Lau­rids Brig­ge [...] aus­ge­spro­chen ein­ge­lit­ten steht, das ist ja ei­gent­lich nur dies: Dies, wie ist es mög­lich zu leben, wenn doch die Ele­men­te des Le­bens uns völ­lig un­faß­lich sind? Wenn wir im­mer­fort im Lie­ben un­zu­läng­lich, im Ent­schlie­ßen un­si­cher und dem Tode ge­gen­über un­fä­hig sind, wie ist es mög­lich da­zu­sein?“ (Rilke in einem Brief vom 08.11.1915 an Lotte Hep­ner)

Bei aller He­te­ro­ge­ni­tät der Auf­zeich­nun­gen wird doch sehr kon­se­quent Mal­tes Schei­tern dar­ge­stellt. Eine sol­che skep­ti­sche Hal­tung ge­gen­über der Welt, der Spra­che und dem ei­ge­nen Ich ist cha­rak­te­ris­tisch für zahl­rei­che Texte der Jahr­hun­dert­wen­de. Wie kaum ein an­de­res Werk ste­hen Ril­kes Auf­zeich­nun­gen für den pro­gram­ma­ti­schen Neu­be­ginn der Li­te­ra­tur nach der Zeit der Gro­ßen Er­zäh­lun­gen.

Text­aus­ga­ben:

Man­fred Engel, Ul­rich Fül­le­born, Horst Na­lew­ski, Aus­gust Stahl (Hrsg.): Rai­ner Maria Rilke: Die Auf­zeich­nun­gen des Malte Lau­rids Brig­ge. Text und Kom­men­tar. Frank­furt a. M. 2000.

Schmidt-Berg­mann: (Hrsg.): Rai­ner Maria Rilke: Die Auf­zeich­nun­gen des Malte Lau­rids Brig­ge. Frank­furt a. M. 2000.

Rilke, Rai­ner Maria: Die Auf­zeich­nun­gen des Malte Lau­rids Brig­ge. Frank­furt a. M. 1982.

Text frei zu­gäng­lich z.B. bei Bi­blio­thek Gu­ten­berg: Pro­jekt Gu­ten­berg

Rilke: „Malte Lau­rids Brig­ge“: Her­un­ter­la­den [pdf][225 KB]