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Li­te­ra­tur­wis­sen­schaftl. Ein­ord­nung & Deu­tungs­per­spek­ti­ven

Unter den Au­to­ren und Au­to­rin­nen der deut­schen Ge­gen­warts­li­te­ra­tur gibt nur we­ni­ge, die auf einer der­art brei­ten theo­re­ti­schen Basis um poe­to­lo­gi­sche Fra­ge­stel­lun­gen ge­run­gen haben wie Tho­mas Hett­che. Be­reits sein li­te­ra­ri­sches Debüt Lud­wig muss ster­ben (1989) war stark be­ein­flusst von Po­si­tio­nen des Post­struk­tu­ra­lis­mus und der De­kon­struk­ti­on. Der pro­vo­kan­te Mau­er­fall-Roman Nox (1995), der Hett­che erst­mals einer brei­te­ren Öf­fent­lich­keit be­kannt mach­te, er­öff­net mit der Tö­tung des Er­zäh­lers im ers­ten Satz. Sie ist Aus­druck des Rin­gens mit der Kri­sen­haf­tig­keit li­te­ra­ri­scher Nar­ra­ti­on nach dem „Ende der gro­ßen Er­zäh­lun­gen (Lyo­tard). Mit dem Be­ginn des In­ter­net-Zeit­al­ters setz­te Hett­che die Suche nach neuen For­men des Nar­ra­ti­ven im „er­zäh­len­den Essay“ Ani­ma­tio­nen (1999) und dem In­ter­net­pro­jekt NULL(2000) fort. Darin lo­te­te er das Po­ten­ti­al der Kom­bi­na­ti­on von klas­si­scher Text­pro­duk­ti­on mit di­gi­ta­len Text­struk­tu­ren (Hy­per­textua­li­tät) aus. Kurz dar­auf er­folg­te je­doch eine erste Ab­wen­dung von einer Li­te­ra­tur des poe­to­lo­gi­schen Ex­pe­ri­ments. Zwar blie­ben auch in Der Fall Ar­bo­gast (2001) die Im­pul­se fran­zö­si­scher Theo­re­ti­ker für sein Schrei­ben (in die­sem Fall Fou­caults Dis­kurs­ana­ly­se mit ihren zen­tra­len The­men Se­xua­li­tät, Ge­walt und Tod) re­le­vant, aber schon die Wahl der Gat­tung des Kri­mi­nal­ro­mans deu­te­te dar­auf hin, dass Hett­che sich einer grö­ße­ren Le­ser­ori­en­tie­rung und bes­se­ren Zu­gäng­lich­keit sei­ner Texte ver­schrie­ben hatte. Diese Wen­dung, die das rein Ex­pe­ri­men­tel­le unter den Ver­dacht stell­te, dass es „nie­mand außer mitt­le­ren An­ge­stell­ten des Li­te­ra­tur­be­triebs gou­tie­re[n würde]“ (Hett­che et. al. 2005), fand ihren Nie­der­schlag dann in dem ge­mein­sam mit den Schrift­stel­ler­kol­le­gen Mat­thi­as Po­li­ty­cki, Mi­cha­el Schind­helm und Mar­tin R. Dean in Zeit (23.6.2005) ver­öf­fent­lich­ten (und erst spä­ter so ge­nann­ten) „Ma­ni­fest für einen re­le­van­ten Rea­lis­mus“. Darin spra­chen sich die vier Au­to­ren für eine en­ga­gier­te­re Li­te­ra­tur aus. Der Schrift­stel­ler – so heißt es dort – solle die „ ta­bui­sier­ten Fra­gen der Ge­gen­wart zu sei­ner Sache ma­chen. Gleich­zei­tig [müsse er] die Pro­blem­fel­der, ob in lo­ka­lem oder glo­ba­lem Kon­text, in eine ver­bind­li­che Dar­stel­lung brin­gen [Hvhg. d. V.]“. Diese im­pli­zi­te Hin­wen­dung zu einer Li­te­ra­tur, die sich an er­zäh­le­ri­schen Prak­ti­ken des Rea­lis­mus (zum Bei­spiel an Wil­helm Raabe) ori­en­tier­te, be­grün­de­te Hett­che spä­ter wie folgt: „Wir kon­stru­ie­ren un­se­re Welt in Spra­che und aus Spra­chen, aber zu­gleich gibt es die Welt, sprach­los ohne uns. Wir kön­nen sie nicht er­rei­chen und müs­sen es doch. Und weil in der Ka­ta­stro­phe und in der Liebe diese un­auf­heb­ba­re Kluft uns am di­rek­tes­ten be­rührt, ist Li­te­ra­tur von bei­dem be­ses­sen“ (Hett­che 2022).

In die­sem Zur-Spra­che-Brin­gen von „Ka­ta­stro­phe und Liebe“ in einer „sprach­lo­sen“ Welt las­sen sich die Er­folgs­ro­ma­ne Pfau­en­in­sel (2014), aber auch Herz­fa­den (2020) ver­or­ten. In Herz­fa­den nä­hert sich Hett­che, der 1964 ge­bo­ren wurde, der Ge­ne­ra­ti­on der ei­ge­nen El­tern an. Deren Prä­gun­gen und oft trau­ma­ti­sche Er­fah­run­gen wir­ken bis heute in der Ge­sell­schaft der Bun­des­re­pu­blik nach, sind aber kaum Ge­gen­stand der Ge­gen­warts­li­te­ra­tur. Dies liegt viel­leicht auch daran, dass es für die Ge­ne­ra­ti­on der Kriegs­kin­der be­son­ders schwer ist, über die ei­ge­nen Er­fah­run­gen zu spre­chen, ohne den Fall­stri­cken (auto-)bio­gra­fi­scher Dar­stel­lun­gen oder se­mi­fik­tio­na­ler His­to­rio­gra­fi­en zu ent­ge­hen. Hett­che weiß um diese Her­aus­for­de­rung und nä­hert sich sei­nem Thema des­halb mul­ti­per­spek­ti­visch in Form eines Hy­brids aus Mär­chen, Ado­les­zenz­ro­man und er­zäh­le­ri­scher Chro­no­lo­gie der Pup­pen­kis­te. Die ent­schei­den­de Volte des Ro­mans be­steht darin, dass Hett­che sich und seine Al­ters­ge­nos­sen, also die Kin­der der Kriegs­kin­der, nicht un­mit­tel­bar in der Fi­gu­ren­re­de zu Wort kom­men lässt. Viel­mehr nimmt das Er­zäh­len des Ro­mans selbst die Stim­me von Hett­ches Ge­ne­ra­ti­on ein, ge­wis­ser­ma­ßen als Ver­mitt­le­rin zwi­schen der – an­ge­sichts der er­leb­ten Gräu­el oft sprach­lo­sen – El­tern­ge­ne­ra­ti­on und der nur ver­meint­lich von deren Schick­sal un­be­rühr­ten ge­gen­wär­ti­gen Ge­ne­ra­ti­on des zwölf­jäh­ri­ge Mäd­chens.

Das Ma­rio­net­ten­thea­ter bil­det in die­sem Zu­sam­men­hang nicht nur den Ge­gen­stand des Er­zäh­lens, son­dern es fun­giert dabei in der Tra­di­ti­on Kleists (Über das Ma­rio­net­ten­thea­ter, 1810) und Storms (Pole Pop­pen­spä­ler, 1874) auch als Re­fle­xi­ons­flä­che für das Er­zäh­len selbst. Das Spiel mit der Ma­rio­net­te kor­re­spon­diert mit den Me­cha­nis­men von Li­te­ra­tur. Aus dem un­be­leb­ten me­cha­ni­schen Ob­jekt ver­mag es der Zu­schau­er bzw. der Le­sen­de mit­tels sei­ner Ein­bil­dungs­kraft („Herz­fa­den“) eine le­ben­di­ge Figur zu er­schaf­fen, sie aber auch wie­der zum höl­zer­nen Glie­der­mann er­star­ren zu las­sen. Mit der Tren­nung von mär­chen­haf­ter Rah­men­er­zäh­lung und rea­lis­ti­scher Bin­nen­er­zäh­lung führt Hett­che die Me­cha­nik von Li­te­ra­tur als Zu­sam­men­spiel von Frag­men­ten des Rea­len und des Fik­tio­na­len vor Augen. Dabei geht es nicht um Kom­ple­men­ta­ri­tät, son­dern um eine wech­sel­sei­ti­ge Be­spie­ge­lung und Durch­drin­gung der bei­den Er­zähl­ebe­nen. Hatüs Ge­schich­te wird in „kur­zen Fil­me­se­quen­zen“ er­zählt. Diese über­las­sen es den Le­se­rin­nen und Le­sern, die vie­len Leer­stel­len aus­zu­fül­len und einen stim­mi­gen Zu­sam­men­hang zu re­kon­stru­ie­ren. Au­gen­fäl­lig wird diese Kon­stel­la­ti­on sogar in den Tem­pus-For­men, denn die un­mit­tel­ba­re Ge­gen­wart des mär­chen­haf­ten Rah­mens wird im Prä­te­ritum, dem gat­tungs­ty­pi­schen Tem­pus des Mär­chens, dar­ge­stellt; die Jahr­zehn­te zu­rück­lie­gen­de Ju­gend Hatüs wird da­hin­ge­gen im Prä­sens ge­schil­dert. Auf diese Weise soll ei­ner­seits ver­hin­dert wer­den, dass sich die Nar­ra­ti­on über die Fi­gu­ren er­hebt; an­de­rer­seits soll auch die Er­wei­te­rung des Ho­ri­zonts der Hatü, die im Ver­lauf des Ro­mans er­wach­sen wird, beim Lesen mit­ver­folgt wer­den kön­nen.

Die Ver­mi­schung von rea­lis­ti­scher Sphä­re und Mär­chen­welt ge­hört nicht nur zu den be­lieb­tes­ten nar­ra­ti­ven Mus­tern ro­man­ti­schen Er­zäh­len, sie lässt sich auch als Hom­mage an Mi­cha­el Endes Un­end­li­che Ge­schich­te (1979) lesen, von der der Roman auch das zwei­far­bi­ge Druck­bild über­nimmt. Bas­ti­an tritt in der Un­end­li­chen Ge­schich­te in dem Mo­ment in die Welt Phantásiens, in dem er das ge­heim­nis­vol­le Buch zu lesen be­ginnt; bei Hett­che voll­zieht das Mäd­chen mit dem Smart­pho­ne im Mo­ment des Durch­schrei­tens der Wand­tür die äu­ßer­li­che Me­ta­mor­pho­se zur Ma­rio­net­ten­fi­gur. Es ge­langt in eine Zwi­schen­welt, die nur dann zu­gäng­lich bleibt, wenn das ge­lieb­te Mo­bil­te­le­fon aus­ge­schal­tet ist. Nur so kön­nen die Ma­rio­net­ten zu ihm spre­chen. Die Pup­pen, auch der be­droh­li­che Kas­perl, der sich bald des Mo­bil­te­le­fons be­mäch­tigt, blei­ben immer Teil der rea­len Sphä­re. Sie sind ma­ni­fes­tes Zeug­nis des Schöp­fungs­kraft der Hatü Oeh­mi­chen, die be­gin­nend mit dem Kas­perl, der wäh­rend des Kriegs ent­stan­den ist, bis zu ihrem Tod im Jahr 2003 mehr als 6000 Ma­rio­net­ten ge­schnitzt hat.

Die Spot­lights, die Hett­che auf die Bio­gra­fie Hatüs wirft, ste­hen von Be­ginn an im Ho­ri­zont ihrer Ent­wick­lung zur Pup­pen­spie­le­rin. In­mit­ten des Kriegs­ge­sche­hens fin­det die junge Hatü im Pro­jekt des vä­ter­li­chen Pup­pen­thea­ters eine Auf­ga­be, die von der bit­te­ren Rea­li­tät ab­lenkt. Ihr ei­ge­nes Da­sein bleibt glück­li­cher­wei­se von den exis­tenz­be­dro­hen­den Er­schüt­te­run­gen, wie sie an­de­re er­le­ben müs­sen, weit­ge­hend ver­schont. Die Ver­fol­gung und De­por­ta­ti­on der jü­di­schen Men­schen in den Kriegs­jah­ren nimmt sie wahr; Hatü ist über die Vor­gän­ge in ihrer Nach­bar­schaft scho­ckiert, aber letzt­lich bleibt sie sprach­los. Die Worte feh­len ihr auch ge­gen­über ihrer Freun­din Vroni, deren El­tern in der Bom­ben­nacht ums Leben ge­kom­men sind. Spä­ter wird die Freund­schaft daran zer­bre­chen, weil es Vroni schwer­fällt zu ak­zep­tie­ren, dass Hatüs Vater den Krieg un­be­scha­det über­stan­den hat.

Wal­ter Oeh­mi­chen ist der ein­zi­ge Ver­tre­ter der Tä­ter­ge­ne­ra­ti­on, dem sich der Roman – wenn auch dis­tan­ziert – an­nä­hert. Seine Per­sön­lich­keit, aber auch seine Rolle in der Zeit des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus wer­den wäh­rend des ge­sam­ten Ro­mans nicht end­gül­tig ge­klärt. Hett­che macht ihn zum Mit­läu­fer, dem die Ideo­lo­gie des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus fremd ist.

In­wie­weit dies his­to­risch ak­ku­rat ist, wurde in ver­schie­de­nen Re­zen­sio­nen von Hett­ches Roman kri­tisch hin­ter­fragt. Nach Ka­tha­ri­na Teutsch kann davon aus­ge­gan­gen wer­den, dass Oeh­mi­chen in sei­ner Funk­ti­on als Thea­ter­lei­ter eher In­stru­ment des NS-Re­gimes als Wi­der­ständ­ler ge­we­sen sei und bei Ent­las­sun­gen und Ver­haf­tun­gen sei­ner jü­di­schen Kol­le­gen wohl ge­schwie­gen habe (Teutsch 2021). Im Roman fragt Hatü ihren Vater: „Habt ihr das ge­wusst mit den Juden?“ Auf ihre Frage er­hält sie keine ein­deu­ti­ge Ant­wort; schnell wird das Thema ge­wech­selt. Hett­che schil­dert hier eine für die Nach­kriegs­zeit cha­rak­te­ris­ti­sche Re­ak­ti­on. Viele aus der „Ge­ne­ra­ti­on der Täter“ fan­den es bes­ser zu schwei­gen, als sich selbst an­zu­kla­gen oder gar Em­pa­thie oder Reue zu zei­gen. Teutsch wirft Hett­che je­doch vor, dass er Oeh­mi­chen spä­ter zu einer stil­len Ein­sicht sei­ner Ver­feh­lun­gen kom­men lässt. Ge­ra­de diese Wen­dung, die un­mo­ti­viert und ahis­to­risch sei, sei ein Beleg dafür, dass die kom­ple­xe Schuld­fra­ge der Tä­ter­ge­ne­ra­ti­on zu wenig Nie­der­schlag in Hett­ches Roman fin­det (vgl. Teutsch 2021).

Auch wenn die­ser Punkt nicht voll­stän­dig zu ent­kräf­ten ist, so lässt sich zu­min­dest dar­auf ver­wei­sen, dass nicht Wal­ter, son­dern Hatü Oeh­mi­chen im Zen­trum der Ro­mans steht. Es geht Hett­che darum auf­zu­zei­gen, dass es für die Ge­ne­ra­ti­on des Väter na­he­zu un­mög­lich ist, das Ver­gan­ge­ne zu er­klä­ren. Nach dem Krieg nimmt Oeh­mi­chen seine Toch­ter ein­mal zur Le­sung des Schrift­stel­lers und ehe­ma­li­gen Häft­lings des KZ Bu­chen­wald, Ernst Wie­chert, mit. Des­sen be­rühm­te Rede an die deut­sche Ju­gend (1945) ist eine un­er­bitt­li­che An­kla­ge der NS-Bar­ba­rei. Doch die Stim­me des Alten, der im Na­tio­nal­so­zia­lis­mus auf der Seite der Mensch­lich­keit ge­stan­den hat, fin­det trotz ihres Pa­thos nur wenig Wi­der­hall bei der jun­gen Ge­ne­ra­ti­on. Die ju­gend­li­chen Mit­glie­der der „Pup­pen­kis­te“ be­ge­ben sich schon bald selbst auf die Suche nach einem Weg aus den Grau­en der Ver­gan­gen­heit. Fün­dig wer­den sie im Aus­land, ge­nau­er ge­sagt in den Wer­ken der fran­zö­si­schen Exis­ten­tia­lis­ten. Diese stel­len das Al­lein­sein des Men­schen in einer un­ver­ständ­li­chen ab­sur­den Welt ins Zen­trum ihrer Phi­lo­so­phie. Die darin auf­ge­wor­fe­ne Frage nach einer Be­gründ­bar­keit der ei­ge­nen Exis­tenz stößt ge­ra­de bei der un­be­haus­ten Ge­ne­ra­ti­on der um ihre Ju­gend be­tro­ge­nen Kriegs­kin­der, der Hit­ler in der „Rei­chen­ber­ger Rede“ von 1938 pro­gnos­ti­ziert hat, dass sie „ihr gan­zes Leben“ „nicht mehr frei“ sein wird, auf gro­ßes In­ter­es­se.

Schon bald fin­det die en­thu­si­as­ti­sche Re­zep­ti­on des Exis­ten­tia­lis­mus Nie­der­schlag in den Pro­duk­tio­nen der „Pup­pen­kis­te“. Hatü und ihre Mit­strei­ter brin­gen Stü­cke von Camus und Sart­re auf die Ma­rio­net­ten­büh­ne. Selbst in den Kin­der­stü­cken, die neben tra­di­tio­nel­le­ren Mär­chen­spie­len auf­ge­führt wer­den, sind Ein­flüs­se der Exis­ten­tia­lis­ten er­kenn­bar. In be­son­de­rem Maß trifft dies schon auf das erste mo­der­ne Kin­der­buch zu, das die Augs­bur­ger nach dem Krieg in­sze­nie­ren. Es han­delt sich dabei um Saint-Exupérys Der Klei­ne Prinz, ein un­ver­kenn­bar der Ide­en­welt des Exis­ten­tia­lis­mus na­he­ste­hen­des Werk. 1951, kurz nach sei­ner deutsch­spra­chi­gen Erst­pu­bli­ka­ti­on, wird es für die Ma­rio­net­ten­büh­ne um­ge­schrie­ben und mit dem ehe­ma­li­gen Sol­da­ten Wal­ter Oeh­mi­chen in der rea­len Rolle des Flie­gers auf­ge­führt. Die Ge­schich­te be­ginnt mit dem Ab­sturz eines Kampf­flug­zeugs und ver­or­tet sich somit im Krieg; er­zählt wird je­doch die Ge­schich­te des Auf­baus von Be­zie­hun­gen und Freund­schaf­ten. Die­ses Kern­the­ma hat der „Klei­ne Prinz“ auch mit den wei­te­ren Pro­duk­tio­nen von zeit­ge­nös­si­scher Kin­der­li­te­ra­tur ge­mein. Fi­gu­ren wie Kalle Wirsch, das Urmel oder Jim Knopf be­fin­den sich zu­nächst in einer Welt ohne Fa­mi­lie und Freun­de und müs­sen sich erst ein Bin­dungs­netz schaf­fen. Es ist wohl die mär­chen­haf­ten Über­win­dung der Ein­sam­keit in zer­bro­che­nen, oft va­ter­lo­sen Fa­mi­li­en, die den Er­folg der Augs­bur­ger mit ge­ra­de die­sen Stü­cken be­grün­det. Im Ge­gen­satz zur Kriegs­kin­der-Ge­ne­ra­ti­on, die – ob­wohl selbst ohne Schuld – ihre Prä­gun­gen durch NS-Er­zie­hung (Ge­schich­te des Kas­perl) und die Bit­ter­nis­se des Krie­ges hin­ter den Auf­bau­pro­jek­ten und dem wach­sen­den Wohl­stand des „Wirt­schafts­wun­ders“ ver­steckt, neh­men die Kin­der der Kriegs­kin­der die von ihren El­tern er­zähl­ten Ge­schich­ten des Auf­baus und der Ge­mein­schaft nur allzu gerne an. Dies ge­schieht viel­leicht auch des­halb, weil die oft trau­ma­ti­schen Er­leb­nis­se ihrer El­tern sie selbst nicht in Fa­mi­li­en auf­wach­sen las­sen, die nur an­nä­hernd an die heile Fa­mi­li­en­idyl­le aus der Wer­bung der 50er und 60er Jahre her­an­rei­chen. Die Frage, die der Roman am Ende stellt, lau­tet, ob die Ge­schich­ten, die da­mals für die Kin­der der Kriegs­kin­der so be­deut­sam wur­den, heu­ti­gen Kin­dern noch etwas be­deu­ten könn­ten. Die ge­sell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se haben sich in­zwi­schen ge­än­dert; die Grün­de, warum Fa­mi­li­en nicht mehr funk­tio­nie­ren, sind an­de­re. Die ab­schlie­ßen­de Frage der Ro­mans lau­tet des­halb, was die „Augs­bur­ger Pup­pen­kis­te“, diese me­dia­le In­sti­tu­ti­on der alten Bun­des­re­pu­blik, die zur Hei­lung der Kriegs­wun­den ihrer Ma­cher und den Fol­gen für deren Kin­der bei­ge­tra­gen hat, in un­se­rer heu­ti­gen Zeit in me­dia­ler wie in er­zäh­le­ri­scher Hin­sicht er­set­zen kann.

Text­aus­ga­ben:

Tho­mas Hett­che: Herz­fa­den. Roman der Augs­bur­ger Pup­pen­kis­te. Ta­schen­buch. Mün­chen 2022

Tho­mas Hett­che: Herz­fa­den. Roman der Augs­bur­ger Pup­pen­kis­te. Köln 2020

Hett­che: „Herz­fa­den“: Her­un­ter­la­den [pdf][173 KB]