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Li­te­ra­tur­wis­sen­schaftl. Ein­ord­nung & Deu­tungs­per­spek­ti­ven

Der Ent­ste­hung des Stü­ckes geht eine bio­gra­phi­sche Be­son­der­heit bevor: Im März 1926 reis­te Ber­tolt Brecht ge­mein­sam mit Al­fred Dö­blin und Ar­nolt Bron­nen nach Dres­den. Die drei Dich­ter wur­den von der In­ten­danz des Dresd­ner Staats­thea­ters ein­ge­la­den, um bei der sonn­täg­li­chen Ma­ti­nee „Kämp­fe der Ge­gen­wart“ aus ihren Wer­ken zu lesen. Am Abend zuvor be­such­ten sie die Pre­mie­re der Verdi-Oper Die Macht des Schick­sals , doch die Dresd­ner In­ten­danz stell­te den drei Dich­tern nur sehr schlech­te Opern­kar­ten zur Ver­fü­gung. Dö­blin, Brecht und Bron­nen waren so ge­kränkt von die­ser „scham­lo­sen Be­hand­lung“ durch das Staats­thea­ter, dass sie zu­nächst plan­ten, die vor­ge­se­he­ne Le­sung aus­fal­len zu las­sen. Doch sie wähl­ten eine an­de­re Form des Pro­tes­tes: Bron­nen er­schien am nächs­ten Mor­gen in sei­nem alten Rei­se­an­zug, Brecht wähl­te be­lang­lo­se Bal­la­den aus, trug diese leise und aus­drucks­los vor, und Dö­blin mur­mel­te ei­ni­ge epi­sche Ge­sän­ge. Bron­nen je­doch las zu­nächst nicht aus sei­nen Wer­ken, son­dern hielt eine laute und em­pha­ti­sche Rede, in der er die Em­pö­rung der Dich­ter über die schlech­te Be­hand­lung zum Aus­druck brach­te. Die drei Dich­ter pro­vo­zier­ten einen klei­nen Thea­ter­skan­dal, den die Pres­se am nächs­ten Tag aus­führ­lich kom­men­tier­te. Brecht griff den Vor­fall spä­ter auf und schrieb das sa­ti­ri­sche Ge­dicht Ma­ti­nee in Dres­den, in wel­chem die Dresd­ner Ge­scheh­nis­se auf al­le­go­ri­sche Weise ver­an­schau­licht wer­den: Drei Göt­ter tre­ten auf, doch sie er­fah­ren kei­ner­lei Hul­di­gung und dro­hen dar­auf­hin, die Stadt zu über­flu­ten; die Par­al­le­len zur Ex­po­si­ti­on von Der gute Mensch von Se­zu­an sind of­fen­bar.

Ort der Hand­lung ist zwar die chi­ne­si­sche Pro­vinz Se­zu­an, doch der Ort dient als Pa­ra­bel und ist be­lie­big ge­wählt. Das Drama kann der Gat­tung des Epi­schen Thea­ters zu­ge­ord­net wer­den. Hatte Al­fred Dö­blin mit sei­nem Roman Ber­lin Alex­an­der­platz die von ihm ge­for­der­te Epi­sie­rung des Ro­mans um­ge­setzt, such­te Brecht nach einer Ent­spre­chung für das Drama; er schrieb an Dö­blin: „Es han­delt sich doch wirk­lich nur darum, eine Form zu fin­den, die für die Bühne das­sel­be mög­lich macht, was den Un­ter­schied zwi­schen ihren und [Tho­mas] Manns Ro­ma­nen bil­det.“ Im Epi­schen Thea­ter steht nicht mehr die Iden­ti­fi­ka­ti­on mit den han­deln­den Fi­gu­ren auf der Bühne im Mit­tel­punkt, son­dern viel­mehr die kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit den be­ste­hen­den Ge­sell­schafts­ver­hält­nis­sen. Der Zu­schau­er be­trach­tet das Stück aus einer Dis­tanz her­aus, die durch Ver­frem­dungs­ef­fek­te her­vor­ge­ru­fen wird, so dass die Il­lu­si­on durch­bro­chen wird, indem die Prot­ago­nis­ten etwa die Hand­lung kri­tisch kom­men­tie­ren, sich an die Zu­schau­er wen­den oder aus ihrer Rolle her­aus­tre­ten. Brecht wen­det sich folg­lich gegen die aris­to­te­li­sche Dra­men­theo­rie.

Zen­tra­le Aus­sa­ge des Stü­ckes Der gute Mensch von Se­zu­an ist, dass die Welt ge­än­dert wer­den muss, nicht der Mensch; dies wird dia­lek­tisch ent­fal­tet: […] der Mensch kann nur gut sein, wenn er zu­gleich schlecht ist; er kann nur men­schen­wür­dig leben, wenn er an­de­re zu­gleich in men­schen­un­wür­di­ges Da­sein zwingt.“ (Knopf 1980) Auch die Figur der Shen Te ent­wi­ckelt sich dia­lek­tisch: Als Pro­sti­tu­ier­te ge­hört sie der un­ters­ten Ge­sell­schafts­schicht an, als Ta­bak­händ­le­rin wird sie zu einer klei­nen Un­ter­neh­me­rin: „Brecht ge­lingt es, im ‚ge­spal­te­nen‘ Men­schen die reale Spal­tung des bür­ger­li­chen Men­schen, des bür­ger­li­chen In­di­vi­du­ums in eine pri­va­te (mo­ra­li­sche) und eine öf­fent­li­che (ge­schäft­li­che) Hälf­te im Bild zu zei­gen.“ (Knopf 1980)

In der For­schung ist um­strit­ten, ob das Stück als Ko­mö­die oder Tra­gö­die klas­si­fi­ziert wer­den kann, da es Ele­men­te bei­der Gat­tun­gen ent­hält. Of­fen­sicht­lich ist der of­fe­ne Schluss, in dem der Zu­schau­er dazu auf­ge­for­dert wird, selbst nach einer Lö­sung für das dar­ge­stell­te Pro­blem zu su­chen: „Wir ste­hen selbst ent­täuscht und sehn be­trof­fen / Den Vor­hang zu und alle Fra­gen offen.“ Hilf­reich für die pa­ra­bo­li­sche Deu­tung der Dra­men­hand­lung sind die (von Paul Des­sau ver­ton­ten) Songs des Stü­ckes. Mo­ra­li­sche In­te­gri­tät scheint in einer Welt der ka­pi­ta­lis­ti­schen Ord­nung nicht mög­lich zu sein.

Text­aus­ga­ben:

Brecht, Ber­tolt: Der gute Mensch von Se­zu­an. Frank­furt am Main 1964.

Brecht, Ber­tolt: Der gute Mensch von Se­zu­an. Text und Kom­men­tar. Frank­furt am Main 2013.

Brecht: „Se­zu­an“: Her­un­ter­la­den [pdf][198 KB]