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Literaturwissenschaftl. Einordnung & Deutungsperspektiven

Obwohl Goethe selbst für sein Drama Klarheit und Eindeutigkeit der zentralen Ideen reklamierte, begann mit der Erstpublikation des Faust im Jahr 1808 eine intensive Produktion von Deutungen des Werks, die vor allem am Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts exponentiell anwuchs. Als Hans Henning im Jahr 1968 eine detaillierte Bestandsaufnahme sämtlicher Publikationen zu Faustbesorgte, umfasste seine Bibliografie nicht weniger als fünf Bände. Seitdem sind mehr als fünfzig Jahre vergangen und die Zahl der Untersuchungen dürfte sich angesichts des weiterhin regen Forschungsinteresses am Faust erheblich erweitert haben.

Blickt man auf Grundtendenzen der Forschung, so lassen sich vor allem drei, im Folgenden kurz referierte Felder identifizieren. Als erstes können Forschungen zur Textgenese, zur Edition und zurTextgestaltangeführt werden. Sie beziehen sich auf die verschiedenen Fassungen vom Urfaust von 1771/72 über dessen klassische Weiterentwicklung in Faust. Ein Fragment (1790) bis hin zur Drucklegung von Faust. Eine Tragödie(1806/8). Werkgeschichtliche Untersuchungen versuchen aus der Rekonstruktion von Entstehungskontexten und literarhistorischen Einflüssen vom Sturm und Drang bis zur Romantik auch die Frage zu klären, inwiefern es sich bei der Endfassung von Faust I überhaupt noch um eine durchkomponierte Dramenarchitektur handeln kann. Hier gibt es zwei gegensätzliche Forschungsmeinungen. Das ist zum einen die Gruppe der sog. „Unitarier“, die trotz der – von Schiller so genannten – „barbarischen Komposition“ (d.h. einer nicht klassischen) ein „deutlich organisierendes Kunstprinzip“ im Faust erkennt (Paul Requadt); die Gegenmeinung wird von der Gruppe der sog. „Fragmentarier“ vertreten. Ihre Argumentation stützt sich auf eine lange, von heterogenen Einflüssen geprägte Werkgeschichte, die einer organischen Gesamtarchitektur des Dramas widerspricht. Zudem zeigt sich an kurzfristig integrierten Szenen wie dem „Walpurgisnachtstraum“, dass Goethe dem Zeitgeschehen an manchen Stellen eine Priorität gegenüber einer Gesamtarchitektur einräumt (Albrecht Schöne).

Eine zweiter Akzent der Forschung liegt auf der Betrachtung der Stoffgeschichte und der Untersuchung von literarischen Vorgängern. Als wichtige motivische Quellen wurden schon früh das vom Frankfurter Verleger Johann Spies publizierte Volksbuch mit der Historia von D. Johann Fausten(1587) sowie die auf diesem basierende Ausgabe für Kinder von 1674 genannt, mit der Goethe schon als Knabe in Berührung kam. Faust wird dort als abschreckendes Beispiel eines gewissenlosen Menschen dargestellt, der sich mit dem Teufel einlässt und sich in eine arme Magd verliebt. Diese Grundstruktur erfährt jedoch eine wesentliche Veränderung in der Neugestaltung der Faust-Figur durch Christopher Marlowe. Dessen fast zeitgleich zum Volksbuch erschienenes Drama Doctor Faustus(1587) eröffnet mit einer Krisen-Szene, in der Faust erstmals als Individuum in Erscheinung tritt. Marlowes Faust unterwirft sich nicht einfach dem Teufel, sondern tritt diesem trotz seiner Verzweiflung selbstbewusst entgegen. Hierin liegt der Kern der Goetheschen Faust-Figur. Goethe selbst ist dem Drama Marlowes jedoch über Umwege begegnet. Denn ähnlich wie bei der Faustsage des Volksbuchs lernte er Marlowes Drama zunächst in einer Bearbeitung für Kinder, genauer gesagt in einer Adaption fürs Puppentheater, kennen, die Goethe als Kind nachspielte. Wichtige Impulse für Goethe stellten auch die Faust-Fragmente Lessings von 1759 dar. Lessing lässt Faust im Sinne einer axiologischen Umwertung wegen seiner (im Sinne der Aufklärung positiv gewendeten) Neugierde mit dem Teufel in Kontakt treten. Für den Schluss intendierte er wohl eine Rettung Fausts, die alles Vorhergehende als szenische Traumhandlung umdeuten sollte (vgl. Faust-Handbuch, 2021, 101).

Bereits im Volksbuch findet sich innerhalb des Handlungsstrangs des Teufelspakts eine Magd als marginale Figur. Aus ihr entwickelt Goethe dann die Gretchentragödie. Deren zentrales Thema besteht in der – um 1800 kontrovers debattierten – strafrechtlichen Verfolgung junger Mütter aus armen Schichten, die ihre unehelichen Kinder aus Furcht vor dem harten gesellschaftlichen Sanktionierungen töteten. Beispielhaft stehen hierfür die Fälle der Susanna Margareta Brandt (hingerichtet 1771) sowie der Maria Flint (hingerichtet 1765), mit denen sich Goethe während seiner juristischen Ausbildung intensiv auseinandersetzte. Lange wurde die empathische Zeichnung Gretchens als Indiz für Goethes juristische Positionierung gegen die Strafverfolgung von jungen „Kindsmörderinnen“ gesehen. Doch diese Annahme wird inzwischen angezweifelt. Im Kern der Auseinandersetzung steht dabei ein seit den 1920er Jahren bekanntes Dokument aus der Weimarer Hofkanzlei. Diesem Dokument zufolge votierte Goethe als Mitglied des dreiköpfigen „Geheimen Consils“, des engsten Beratergremiums Herzogs Carl August, für eine - dann auch tatsächlich vollzogene - Hinrichtung der 24-jährigen Kindsmörderin Johanna Catharina Höhn. Damit spielte er das Zünglein an der Waage, weil sich je ein Mitglied des „Consils“ für bzw. gegen die Todesstrafe ausgesprochen hatte und der Herzog eher zur Milde tendierte. Feministische Deutungen weisen auf die Diskrepanz zwischen Goethes Haltung im Fall Höhn und der empathischen Gestaltung Gretchens hin. Demzufolge zeichne Goethe Gretchens Schicksal eher nach der Vorlage des Bürgerlichen Trauerspiels. Er prangert nicht die juristische Praxis an, sondern inszeniert eine „reuevolle Schuldakzeptanz“ und „Todeswilligkeit“ des jungen Mädchens, das sein Schicksal annimmt und die Prämissen seiner Verurteilung nicht hinterfragt (vgl. Kord 2011).

Diese Deutung, die exemplarisch für Forschungstexte steht, die Goethes Werk nicht literarisch, sondern auch diskursanalytisch untersuchen, steht im Kontrast zu den methodisch eher traditionellen Interpretationen, die mit textimmanenten Analysen und unter Zuhilfenahme der in der Forschung dominanten Lesarten Gesamtdeutungen vornehmen. Ein bedeutendes Beispiel für eine solche Gesamtdarstellung stellt Jochen Schmidts stark rezipiertes Lehrbuch zum Ersten und Zweiten Teil des Faust (1999) dar. Schmidt kommentiert die Szenen in der Reihenfolge des Stücks und verweist dabei auch auf die Kontexte sowie die verschiedenen von Goethe verwendeten Versformen vom Knittelvers bis zum Madrigal und der Prosaszene. Blickt man auf die Gretchen-Tragödie, so akzentuiert Schmidt Goethes Gesellschaftskritik, die sich vor allem in der negativ gezeichneten Figur Valentin, Gretchens Bruder, Ausdruck verschafft. Statt seiner Schwester in der Not zur Seite zu stehen, geht er auf Distanz und diffamiert sie als „Metze“ (V. 3740-3763). Schmidt zufolge zeigt Valentin kein Mitleid mit Gretchen, sondern agiert aus reinem Eigeninteresse, um dem Ansehensverlust seiner Familie und somit der Schädigung seiner eigenen Reputation entgegenzuwirken. Valentin stirbt durch Fausts Hand, als er mit einem falschen Ehrbegriff die Familienreputation verteidigen will. Gretchen, die aus Naivität schuldig geworden ist, steht ihrem Bruder als reine Seele gegenüber. Schmidt hebt hervor, dass sich sogar in den Wahnsequenzen am Ende des Stücks die Verzweiflung über den gesellschaftlich erzwungenen Verzicht auf die Entfaltung der mütterlichen Liebe zu ihrem Kind zeige. Die mit der nahezu vollständigen Exkulpation Gretchens einhergehende Kritik an den überkommenen Sittengesetzen und den aus diesen abgeleiteten Sanktionierungen lässt Gretchen zur Märtyrerin im Zeichen der Reinheit werden. Dies trägt auch dazu bei, Faust weiter aus der Verantwortung zu entlassen, als er es verdienen würde. Immerhin hat er unter Zuhilfenahme magischer Tränke und wertvoller Geschenke eine Liebesaffäre mit einer ihm intellektuell und statusmäßig unterlegenen 14-Jährigen inszeniert.

Aus heutiger Sicht wäre Faust leicht zu inkriminieren. Hier zeigt sich, inwiefern die holistische Herangehensweise Schmidts gegenüber Goethe selbst eher methodisch affirmativ verbleiben muss und sich nicht zu weit von den von Goethe im Text angelegten Deutungsspuren entfernen kann. Neuere, feministisch inspirierte Lesarten (Kord 2011), wie sie oben referiert wurden, würden Schmidt vor allem wegen der unkritischen Übernahme des Opfernarrativs Gretchens widersprechen und auf die Selbstblindheit Goethes gegenüber der dramatischen Instrumentalisierung der Frauenfigur verweisen.

Verbleibt man aber innerhalb der textimmanenten Logik des Dramas, so erfährt Fausts Schuld schon deswegen eine Minderung, weil er es mit dem schlauesten Teufel der Literaturgeschichte als Gegenspieler und Diener zu tun hat. Mephisto ist ein intellektueller Zyniker und Materialist, der sich Idealen und universellen Werten verweigert und alles Geistige auf den Körper zurückführt. Seine Kritik an den Selbsttäuschungen des Wissenschaftsbetriebs ist dennoch oft zutreffend und auch das Lächerlichmachen von Fausts plötzlich entfachter schmachtender Liebe ist nicht ohne Berechtigung, wenn man sich daran erinnert, mit welchen Tricks sie erschlichen wurde. Mephisto tritt dem Streben Fausts nach Universalität und einer sowohl naturwissenschaftlich als auch spirituell begründeten Einheit von Mensch und Natur diametral entgegen. In einer Kombination von Pakt und Wette gelingt es ihm dann, Faust zugunsten eines „ewigen“ Glücksaugenblicks, der eher Ablenkung als Erfüllung in sich birgt, von seinem Streben nach dem innersten Zusammenhang der Dinge abzubringen. Faust entscheidet sich am Ende bewusst dafür, den Weg einer Selbstschädigung einzugehen. Er weiß – wie er am Ende des Monologs in Wald und Höhle (V. 3364) feststellt -, dass er Gretchen und sich selbst in den Abgrund stürzen wird. Fausts Wille zur Selbstzerstörung könnte man als Indiz dafür sehen, dass Mephisto ein Teil seiner eigenen Persönlichkeit ist. In der Forschung (u. a. von Jochen Schmidt) wird die These vertreten, dass die beiden Figuren jeweils als Objektivationen zweier Seelenzustände („Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust (V. 1112)) zu verstehen sind. Demnach handelt es sich bei Faust und Mephisto nicht um autarke Figuren, die gemäß der sog. „Duell-Hypothese“ einen Machtkampf im Sinne eines Held-Antihelden-Schemas liefern (vgl. Matussek 1996), sondern um innere Kräfte, deren Intentionen sich so nicht eindeutig voneinander separieren lassen. Dies zeigt sich auch darin, dass eine klare Trennung von moralischem und amoralischem Verhalten, von konstruktiven und destruktiven Zügen in der Persönlichkeit nicht auf eine Figur festgelegt werden kann. Erich Franz stellt fest: „Die kühle skeptische Ironie [Mephistos] hat eine Verbindung zur Wahrhaftigkeit, zu einem nüchternen Realismus, während umgekehrt der sich erhitzende Idealismus [Fausts] leicht in Phantastik und Unechtheit ausarten kann" (Erich Franz 1953). In dieser Ambivalenz liegt eine der besonderen Qualität von Goethes Drama jenseits von jeglicher Psychologisierung. Für das Verständnis der Figur erscheint eine Pathologisierung Fausts, zum Beispiel im Sinne einer Schizophrenie-Diagnose (Rolf Engelsing) nicht erforderlich.

Faust I bleibt auch noch mehr als 200 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung das zentrale Drama um den orientierungslos gewordenen modernen Menschen, der sich einerseits zum Herrscher über den Kosmos aufschwingen will, andererseits aber an seinem Menschsein (Sexualität, Liebe, Betrug) scheitert. Im Faust II werden dann auch die gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen explizit, vor deren Hintergrund sich diese Veränderungen zum modernen Individuum vollziehen: Kapitalismus, Finanzwirtschaft, Ausbeutung der Umwelt, technologischer Wandel. Möglicherweise nimmt aber auch Faust I zukünftige Entwicklungen vorweg. Wenn Mephisto vermeintlich Faust dient und ihn ablenkt, wenn er als Spiegel- und Projektionsfläche von Fausts Innerem fungiert, es aber letztlich auf seine Seele abgesehen hat, dann ist er vielleicht näher an den gefährlichen Fähigkeiten von künstlicher Intelligenz und virtueller Realität, als man zunächst vermuten würde.

Textausgaben:

Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie Erster Teil, Stuttgart 1986

Johann Wolfgang Goethe. Eine Tragödie. (Faust I) (hg. v. Albrecht Schöne. Mit einem Kommentar von Ralf-Henning Steinmetz) Frankfurt/ Main 2022

Goethe, Johann Wolfgang: Faust - Der Tragödie erster Teil, EinFach Deutsch, Bearbeitet von Franz Waldherr, Braunschweig 2013

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