Literaturwissenschaftl. Einordnung & Deutungsperspektiven
Bereits direkt nach seinem Erscheinen avancierte Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers , der literaturhistorisch der Sturm-und-Drang-Phase des Dichters zuzuordnen ist, zum Bestseller. Goethe selbst erklärt sich den Erfolg seines Romans damit, dass er auf eine Jugend ansprach, die empfänglich für das Sentimentalische darin war und sich von dem revolutionären Gehalt, der in der Möglichkeit gipfelt, nicht nur gesellschaftliche Normen, sondern das Leben überhaupt nach Belieben verlassen zu können, angesprochen fühlte. Ebenso rief das Werk seit seinem Erscheinen Kritiker auf den Plan, die im Suizid des Protagonisten eine Gefährdung der junger Leserschaft sehen und den Roman moralisch verurteilen (so z. B. Lavater oder J. M. Goeze). Entsprechend war in der Folge vom Werther-Fieber die Rede und Werther wurde zur Kultfigur, deren Gewandung in blauem Frack und gelber Weste zahlreiche Nachahmer fand. Selbst einige Suizide wurden auf die Lektü re des Briefromans zurückgeführt, was im Nachhinein aber nur in wenigen Fällen nachzuweisen war. Goethe selbst verwahrte sich dagegen, seinen Roman als Ursache einer Krankheit zu sehen, vielmehr decke er nur ein verborgenes Übel in den jugendlichen Gemütern auf. Für Goethe selbst besaß sein Werther eine nahezu therapeutische Wirkung, gelang es dem Dichter doch, sich von trübsinnigen Gemütszuständen durch die ästhetische Verarbeitung derselben zu befreien. Immerhin sah sich Goethe genötigt, in der zweiten Fassung des Romans, die den gängigen Textausgaben zu Grunde liegt, mehr Distanz zu seinem Protagonisten aufzubauen, und zwischenzeitlich ergänzte er gar eine Warnung, es Werther nicht gleichzutun.
Auch die sehr gut dokumentierten autobiografischen Bezüge des Werther (Goethes Liebe zu Lotte Buff, das Verhältnis zu deren späterem Gatten Kestner, der Selbstmord des unglücklich verliebten Legationssekretärs Jerusalem) verleiteten seit jeher dazu, Realität und Fiktion zu verwechseln und die sorgfältige Komposition des Textes zu übersehen. Hier sind insbesondere die Form des Briefromans und der Wechsel der Erzählperspektiven zwischen dem Ich-Erzähler und dem fiktiven Herausgeber zu erwähnen. Sie erwecken den Eindruck von Authentizität und appellieren gleichzeitig an die Lesenden, eine wohlwollende Haltung gegenüber Werther einzunehmen. Vorausdeutungen, zum Beispiel in Bezug auf den Selbstmord oder die Liebesgeschichte, sind von Beginn an in den Roman eingewoben, zum Beispiel, wenn es bereits im Brief vom 22. Mai heißt, der Mensch besitze die Freiheit, den „Kerker“ nach Belieben verlassen zu können, oder wenn Werther im Brief vom 10. Mai, also vor der Begegnung mit Lotte, Welt und Himmel mit der „Gestalt einer Geliebten“ vergleicht. Neben der Liebesthematik gehören auch die pantheistische Naturbetrachtung und das Verhältnis zwischen dem nach dem Unbedingten und Freiheit strebenden Einzelnen und der an Regeln und Konventionen orientierten Gesellschaft (Thomas Mann etwa vergleicht Werther in Bezug auf sein Streben vom Beschränkten ins Unbedingte mit Faust) zu den zentralen Themen. Eine Interpretation, die Werthers Selbsttötung einzig auf die unerfüllte Liebe zu Lotte zurückführt und darin lediglich eine Schwäche sieht, griffe daher zu kurz.
Gleichwohl liegt Goethes Briefroman eine neue Liebesauffassung zugrunde, die Werthers Liebe zu Lotte - wie Roland Barthes hervorgehoben hat - nach dem Muster der Passion Christi modelliert (vgl. Neumann 2001). Diese Liebeskonzeption, die sowohl aus deinem coup de foudre, also Liebe auf den ersten Blick, als auch aus dem schon Gesehenen (Déjá-vu), Brotschneideszene (biblisches Vorbild), entwickelt wird, zeigt sich insbesondere in Werthers und Lottes rauschhaftem Walzertanz – einem Tanz, der bisweilen verboten war, weil er als unschicklich galt: Anders als in Formationstänzen tritt hier die schiere Körperlichkeit in den Vordergrund und im wirbelnden Taumel bewegt sich das Paar jenseits der durch Albert markierten Sphäre des Vernunftdenkens, aber auch außerhalb des häuslichen Bereichs, in dem Lotte die Rolle der mütterlichen Versorgerin der Familie annimmt (vgl. Brotschneideszene). Für Werther bedeutet das Verfallen an die Liebe als Leidenschaft letztlich seinen Untergang, der als der Leidensweg Christi am Vorabend vor dem 24. Dezember in Szene gesetzt wird.
Goethe: „Werther“: Herunterladen [pdf][204 KB]
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