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Li­te­ra­tur­wis­sen­schaftl. Ein­ord­nung & Deu­tungs­per­spek­ti­ven

Grill­par­zers 1847 er­schie­ne­ne Er­zäh­lung ist v.a. in der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts so häu­fig und in­ten­siv in­ter­pre­tiert wor­den, dass mit­füh­len­de Stim­men schon vor Jahr­zehn­ten ein „Mo­ra­to­ri­um für den aus­ge­wrun­ge­nen Text“ (Seeba 1983) for­der­ten. Der Text wurde in die Ko­or­di­na­ten­sys­te­me der Li­te­ra­tur­ge­schich­te (Spät­auf­klä­rung/Früh­rea­lis­mus), Er­zähl­tra­di­tio­nen (mo­ra­li­sche Bei­spie­l­er­zäh­lung/Wie­ner Phy­sio­lo­gi­en) und In­ter­textua­li­tä­ten (re­zep­tiv: an­ti­ke My­then/Neues Tes­ta­ment; ge­ne­ra­tiv: Kel­ler/Kafka/Mann) ge­spannt und es wur­den die in ihm vor­zu­fin­den­den Kon­stel­la­tio­nen, Mo­ti­ve, Sym­bo­le, Er­zähl­ver­fah­ren und Sub­tex­te in ex­ten­so be­ar­bei­tet und be­leuch­tet. An­ge­sichts die­ser Reich­hal­tig­keit an As­pek­ten kann es rat­sam sein, das Haupt­au­gen­merk zu­nächst auf im­ma­nen­te Be­fun­de zu len­ken. Da ist etwa der Rah­men­er­zäh­ler, der sich als ge­bil­de­ter, an­thro­po­lo­gisch in­ter­es­sier­ter und psy­cho­lo­gisch neu­gie­ri­ger, doch auch dis­tan­zier­ter Be­ob­ach­ter zu er­ken­nen gibt. Seine prä­zi­sen und rea­lis­ti­schen An­ga­ben zu Zeit, Ort und Cha­rak­ter des Volks­fes­tes of­fen­ba­ren einen kon­kre­ten his­to­ri­schen Zeit­be­zug (Bür­ger­fest unter Jo­seph II.) und er­in­nern an den nüch­ter­nen Ton eines Frem­den­füh­rers. Mit zu­neh­men­der Dauer der Be­schrei­bun­gen mi­schen sich über die Natur- und Was­ser­m­e­ta­pho­rik auch my­tho­lo­gi­sche Be­zü­ge in die Dar­stel­lung, die v.a. aus dem De­me­ter-Kom­plex stam­men und das dio­ny­si­sche Ele­ment des Fes­tes an­deu­ten (Korb­wa­gen, Be­we­gung der Masse, „flie­gen­de“ Wagen, Pro­py­lä­en). Mit wei­te­ren, auf an­ti­ke Vor­bil­der ver­wei­sen­den Be­ob­ach­tun­gen wird ein my­tho­lo­gi­scher Sub­text eta­bliert, der dem Er­zähl­ten eine tie­fer lie­gen­de Be­deu­tungs­schicht ver­leiht und den Er­zäh­ler als hu­ma­nis­tisch ge­bil­de­ten In­tel­lek­tu­el­len aus­weist: ek­sta­ti­sches Mu­si­zie­ren des Spiel­manns, über­schwemm­te Vor­stadt als Hades-Land­schaft, in der sich der Na­tur­zy­klus voll­endet. Das sa­tur­na­li­sche Fest zu Be­ginn wird so vom Er­zäh­ler zu einem Phä­no­men der ho­ri­zon­ta­len Tran­szen­denz über­höht, in dem sich alle so­zia­len Schran­ken und In­di­vi­dua­li­tä­ten im Auf­ge­hen in einer he­do­nis­ti­schen Ge­mein­schaft auf­lö­sen. Kon­trär zu die­ser dies­sei­ti­gen Selbst­ent­gren­zung steht das Stre­ben des armen Spiel­manns nach ver­ti­ka­ler Tran­szen­denz, der in sei­nem Phan­ta­sie­ren auf der Geige sich selbst im Ein­klang mit einer gött­li­chen Of­fen­ba­rung weiß. So wird Jakob zu einer Art Chris­tus-Fi­gu­ra­ti­on, die dem un­ge­ord­ne­ten Trei­ben des Fes­tes seine fes­ten Ri­tua­le (vgl. Ta­ges­plan) und Ord­nungs­maß­nah­men (vgl. Krei­de­strich) ent­ge­gen­setzt, um so das Be­droh­li­che des na­tur­haf­ten Le­bens (vgl. Me­ta­pho­rik des Strö­mens) ein­zu­däm­men. Jakob spricht mit­un­ter wie ein Hei­li­ger (z.B. über Bar­ba­ra, „dass sie nun alles Kum­mers los war, Frau im ei­ge­nen Hause […] das legte sich wie ein lin­dern­der Bal­sam auf meine Brust und ich seg­ne­te sie und ihre Wege“). Auch durch seine sanft­mü­ti­gen Hand­lun­gen und durch seine Ein­stel­lung (zum Mi­li­tär und zum Geld) sowie durch sei­ner Hilfs­be­reit­schaft rückt er in die Nähe einer Imi­ta­tio Chris­ti. Die Trä­nen Bar­ba­ras ver­wei­sen auf die christ­li­che Got­tes­mut­ter, das sym­bol­haf­te Wand­ta­bleau sowie die Re­li­qui­en­ver­eh­rung der Geige tra­gen eben­falls zum christ­li­chen Sub­text einer ver­ti­ka­len Tran­szen­denz als Ge­gen­satz zur in­ner­welt­li­chen Ent­in­di­vi­dua­ti­on in der Masse bei. Die psy­cho­lo­gi­sche Neu­gier des in sei­ner Auf­ge­klärt­heit dis­tan­zier­ten Er­zäh­lers setzt einen nar­ra­ti­ven Pro­zess in Gang, der, ganz in der Ma­nier des „dra­ma­ti­schen Dich­ters“, gen­re­haf­te Ein­zel­sze­nen zu einer Ge­schich­te von Ja­kobs in­kom­men­sura­bler In­di­vi­dua­li­tät zu­sam­men­setzt. Dabei sind fol­gen­de Sze­nen zu un­ter­schei­den: 1. Das erste Er­schei­nen Ja­kobs, durch den Miss­klang der Geige und sei­nen ge­bil­de­ten Ha­bi­tus von der Menge ab­ge­grenzt. 2. Der Be­such in Ja­kobs Be­hau­sung, in der der Krei­de­strich auf dem Boden zur Ab­gren­zung des Wohn­be­reichs ihn sym­bo­lisch von sei­nem Um­feld ab­hebt. 3. Die Schluss­sze­ne, die in Ja­kobs Selbst­auf­op­fe­rung ein ver­klä­ren­des End-Bild ent­wirft und die Geige zur Hei­li­gen­re­li­quie er­höht. Auch Ja­kobs Le­bens­ge­schich­te be­steht aus einer Reihe von­ein­an­der ab­ge­grenz­ter Er­in­ne­rungs­sze­nen: 1. Die alp­traum­haf­te Prü­fungs­sze­ne, in der sein Schei­tern zum Vor­zei­chen sei­nes durch Angst und Hand­lungs­schwä­che be­ein­träch­tig­ten Le­bens wird. 2. Die Sze­nen des Ken­nen­ler­nens Bar­ba­ras und ihres Lie­des als In­itia­ti­ons­im­puls sei­ner Mu­siklei­den­schaft. 3. Sze­nen im Krä­mer­la­den und der tra­gi­schen An­nä­he­rung an Bar­ba­ra. 4. Ab­schieds­sze­ne, in der sie ihm Wä­sche zu­rück­bringt und den fi­na­len Tren­nungs­schritt voll­zieht. Die Be­zie­hung des schüch­ter­nen Hof­rats­soh­nes Jakob zur prag­ma­ti­schen Gries­ler­toch­ter, beide kom­ple­men­tä­re Cha­rak­te­re aus streng pa­tri­ar­cha­len Ver­hält­nis­sen, durch­läuft Höhen und Tie­fen. Bar­ba­ra, keine Schön­heit und von er­staun­li­cher kör­per­li­cher Stär­ke, doch „mit ganz lei­ser und doch kla­rer Stim­me, […] so schön, so lieb­lich“ weiß mit Ja­kobs An­nä­he­run­gen sou­ve­rän um­zu­ge­hen und re­agiert bis­wei­len ein­fühl­sam, steht je­doch mit bei­den Bei­nen im Leben. Sie for­mu­liert ihre Vor­stel­lun­gen, in die sich frei­lich Hoff­nun­gen auf eine ge­mein­sa­me Zu­kunft mi­schen, klar und deut­lich. Jakob hin­ge­gen er­weist sich als zu leicht­gläu­big, ver­träumt und hand­lungs­schwach, als dass er für die nö­ti­ge öko­no­mi­sche Sta­bi­li­tät in einer mög­li­chen Ehe sor­gen könn­te. Er wird von sei­nem Ge­schäfts­part­ner be­tro­gen und be­sie­gelt so das Schei­tern auch die­ser Le­bens­pha­se. Be­zeich­nend ist seine Ein­stel­lung zum Geld. Er ver­kör­pert eine Hal­tung, für die Kunst als ab­so­lu­te Größe jen­seits öko­no­mi­scher Ver­mark­tung steht. Daher ist er pe­ni­bel dar­auf be­dacht, kei­nen Ge­winn aus sei­nem Spiel zu zie­hen, son­dern es nur für ein Exis­tenz­mi­ni­mum in An­spruch zu neh­men. Im Ge­gen­satz zum Er­zäh­ler, der Jakob für sein Spiel und seine Ge­schich­te be­zahlt, ist für ihn echte Kunst als Of­fen­ba­rung des Gött­li­chen nicht mit ma­te­ri­el­lem Ge­gen­wert auf­zu­wie­gen. Le­dig­lich als ge­fäl­li­ge Hand­werks­kunst, die er frei­lich nicht wirk­lich be­herrscht, ist Musik für ihn ma­te­ri­ell re­le­vant. So ist sein Weg in die Ver­ar­mung vor­ge­zeich­net. Iro­ni­scher­wei­se lässt Grill­par­zer sei­nen Hel­den zu­letzt an der Ret­tung einer Geld­kas­set­te ster­ben – die Macht des Gel­des reicht bis in den Tod, der wahre Künst­ler fällt ihr zum Opfer – eine fun­da­men­ta­le Kri­tik am in­hu­ma­nen Pro­fit­den­kens sei­ner Zeit. In­ter­es­sant ist, dass Bar­ba­ra, die sich die­ses Den­ken er­folg­reich zu eigen ge­macht hat, diese Pro­fit­ori­en­tie­rung am Ende über­win­det, indem sie das An­denken an Jakob als un­be­zahl­bar wert­schätzt und die Geige dem Be­reich des Geld­ver­kehrs ent­zieht. Das öko­no­mi­sche Kon­kur­renz­prin­zip der Re­stau­ra­ti­ons­ge­sell­schaft dringt in die mensch­li­chen Be­zie­hun­gen ein und kor­rum­piert diese. In Bar­ba­ras Be­wah­ren der Geige als An­denken und ihren Trä­nen am Schluss sind die­ser fa­ta­le Ein­fluss außer Kraft ge­setzt. Der Künst­ler Jakob, der in sei­ner Musik Got­tes­nä­he spürt, bleibt chan­cen­los in einer Welt der stren­gen Hier­ar­chi­en und ver­gnü­gungs­süch­ti­gen Mas­sen, bleibt ohne Ver­bin­dung zu sei­ner Mit­welt auf seine In­ner­lich­keit be­grenzt. An­thro­po­lo­gisch ge­wen­det, zeich­net sich die kul­tur­kri­ti­sche Bot­schaft ab, dass ein edler Teil des Men­schen im Zeit­al­ter des tech­nisch-öko­no­mi­schen Fort­schritts sowie des Po­si­ti­vis­mus nur noch in Ge­stalt einer aus­ge­grenz­ten, ver­wil­der­ten Rand­er­schei­nung an­ge­trof­fen wer­den kann. (vgl. Hoff­mann 1999)

Text­aus­ga­ben:

Text­aus­ga­be mit An­mer­kun­gen von Hel­mut Bach­mai­er und einem Nach­wort von Chris­ti­an Schmitt. Stutt­gart 2021 (Neu­auf­la­ge)

His­to­risch-kri­ti­sche Aus­ga­be. In: Franz Grill­par­zer, Sämt­li­che Werke, hrsg. von Au­gust Sauer fort­gef. von Rein­hold Back­mann. Abt. I, Bd. 13, Wien 1930, 35-81 [HKA. Di­gi­ta­li­sat bei ALO, Aus­tri­an Li­te­ra­tu­re On­line]

Grill­par­zer: „Spiel­mann“: Her­un­ter­la­den [pdf][195 KB]