Literaturwissenschaftl. Einordnung & Deutungsperspektiven
Unter dem ursprünglichen Titel Hannele Matterns Himmelfahrt erscheint das Drama 1893. Vier Jahre später 1897 ändert Hauptmann es dann zu Hanneles Himmelfahrt. Die Uraufführung mit dem Titel Hannele fand am 14. November 1893 im Königlichen Schauspielhaus Berlin statt. 1896 erhielt Hauptmann für HannelesHimmelfahrtden Franz-Grillparzer-Preis (vgl. Sprengel 1998 und 2012).
Der Untertitel des zwei Akte umfassenden Dramas lautet Traumdichtung in zwei Teilen. Mit dem Hinweis auf die Traumdichtung werden bereits im Untertitel die neoromantischen Elemente des naturalistischen Dramas angezeigt. Typisch für das Drama ist eine „doppelte Perspektive“ (Schimpf 1977), die Verschränkung von Wirklichkeit und Traum in einer naturalistischen und einer phantastischen Perspektive. Neben die naturalistische Darstellung des Armenhauses und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner treten Hanneles Fieberträume, die sich von zunächst realitätsnahen Vorstellungen (wie eines sie erschreckenden Auftritts ihres Vaters) zu zunehmend irrealen, religiös-mystisch überhöhten Bildern ihrer himmlischen Entrückung steigern. Während das Armenhauses den Ort der Binnenhandlung eingrenzt (vgl. Oberembt 1986); entgrenzen die Träume Hanneles die Enge mittels biblische Bilder vom Paradies und Engeln sowie durch Märchenmotive (gläserner Sarg, Schneewittchen, Frau Holle). Vor dem Hintergrund von Hauptmanns Rezeption von Jacob Grimms Deutsche Mythologie, stellt der Hinweis auf Frau Holles Teich eine Chiffre für den Untergang dar, denn im Märchen zieht Frau Holles durch den Teich Kinder in ihr unterirdischem Reich (vgl. Oberembt 1986). Über die Unwettersymbolik werden im Drama auch kosmische und märchenhafte Kräfte exponiert, etwa in der Figur Frau Holles als Todesgöttin (vgl. Oberembt 1986).
Eine Schlüsselszene kann darin gesehen werden, dass Hannele von der Erscheinung ihrer toten Mutter eine Blume mit dem sprechenden Namen „Himmelschlüssel“ erhält, sie soll ihr als Schlüssel zum Paradies dienen. Bei der imaginierten Himmelfahrt Hanneles werden ihr Merkmale der Marien-Ikonographie verliehen. Ihre Mutter prophezeit ihr etwa, dass Gott ihr verbranntes Herz mit Rosen und Lilien kühlen werde, zwei Blumen die klassischerweise in der Marienikonographie für die Passion (Rose) und für die Reinheit (Lilie) stehen. Hierdurch wird eine Nobilitierung des gequälten Kindes betrieben. Die Metaphorik vom Aufblühen im Tod wird vom Lehrer Gottwald ebenfalls gebraucht. Mit Blick auf die florale Szenerie wird dabei „die Verwandlung des Lebens in ein vegetatives Stillleben“ (vgl. Oberembt 1986) zum Ausdruck gebracht. Derart begleitet die Flora „den Weg des Mädchens aus dem Winter der Zeit in die Sonne der Ewigkeit“ (vgl. Oberembt 1986), d. h. von den zu Beginn genannten Flurblumen des Frühlings Schlüsselblume, Maiglöckchen und Flieder zur sommerlich bestimmten Vegetation (Jasmin, Lilien, Rosen und roter Mohn u.a. dekorieren das Elysium). Hinter der Mutterfigur wurde auch die im schlesischen Aberglauben geläufige Bertha erkannt, die in der schlesischen Sagen- und Märchentradition als Schlüsselfrau bekannt ist (vgl. Oberembt 1986). Neben der spirituell-christlichen Thematik eröffnet sich hier ein märchenhaft-mythischer Horizont.
Passend zur Entrückungsszene wird das Märchen von Schneewittchen aufgerufen: In einen gläsernen Sarg mit Brautkleid gebettet wird Hannele von einem Fremden, der „Züge Christi und des Lehrers Gottwald“ (Marx 1998) trägt, und seinen Gehilfen, den Engeln, erweckt. Dieser Fremde wurde nicht nur als Christus-Figuration gedeutet, sondern auch als nordischer Gott Odin, der– gemäß Grimms Ausführungen – wiederum ein Verwandter der hellenischen Götter des Apollon und des Hermes (vgl. Oberembt 1986) ist. Die Stimme des Fremden entwickelt dabei eine performative Kraft, sie bringt geradezu die Engel hervor. Die Engelschöre verkünden in einem märchenhaften und lyrischen Ton die Himmelfahrt Hanneles. Begleitet wird die Erhebung Hanneles vom Flug der Schwäne um die Türme der paradiesischen Stadt. Erkennt man in den Schwänen in der Nachfolge Horaz’ und Hölderlins einen Hinweis auf die Dichter, denn „ihre Schwingen ertönen gleich Harfen“, bietet sich eine poetologische Lesart dieser poetischen Himmelfahrt an (vgl. Wacker 2019). Hanneles Himmelfahrt gleicht demnach einer Reinigung von allem Prosaischen. In „reiner Flut“ wird ihr „Siechtum“ abgespült, ihre Glieder werden sodann wie „Lilienblätter“ getrocknet. Viel Blumenschmuck ziert ihre Verklärung, die in eine musische Szenerie mit synästhetischen Merkmalen, einer Vermischung der Düfte und der Töne, eingebettet ist. Die harte Prosa der Verhältnisse weicht der Poesie, genauer der traumhaften, märchenhaften und engelsgleichen Musik: „[…] liebliche Musik schlingt ihr ums Herz!“ Die Bedeutung der Musik lässt Parallelen zu Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik erkennen. „Hannele imaginiert sozusagen ihren Schwanengesang, ihr Sterben geht in ein ‚Aufblühen‘ des Gesamtkunstwerks von musischer Poesie über“ (Wacker 2019). Hanneles Imaginationskraft erwächst ihrem Leid, das Medium der Musik zeigt den dionysischen Urgrund an (vgl. Oberembt 1986). In Hanneles Schweinwelt der imaginierten Bilder werden wiederum Vorstellungen von Arkadien, des romantischen Elysiums, des christlichen Paradieses und sowie des Walhalls der Edda miteinander verschränkt (vgl. Oberembt 1986).
Diese Apotheose Hanneles und der Dichtung wird am Ende indes durch den Rückgang ins Armenhaus kontrastiert, wo ihr Tod von einem Doktor konstatiert wird. Über die Rückbindung des poetischen Höhenfluges und der durch ihn statuierten poetischen Gerechtigkeit an die Alltagsprosa werden die sozialen Missstände, mehr noch ihr individuelles Leid erneut sichtbar. Die poetische Himmelfahrt wird dementsprechend als imaginäres Konstrukt des märchenhaften Glücks mit der Prosa der Realität kontrastiert. Die Traumfiktion steht demnach im Dienst der „Erfassung des Absoluten im Leid“ (Guthke 1958).
Das Drama hat vornehmlich Kritik von Seiten der Naturalisten erfahren, die mit dem neoromantischen Ton wenig anzufangen wussten oder die ausgebeutete Klasse durch den Mystizismus verhöhnt sahen (vgl. Marx 1998). Lobend reagierten auf das Drama so prominente Dichter wie Thomas Mann, Ernst Barlach, Karl Kraus und Lion Feuchtwanger. Darüber hinaus gilt es als Hauptmanns meistgespieltes Stück und erfreut sich einer großen Publikumswirksamkeit (Marx 1998).
Hauptmann: „Hannele“: Herunterladen [pdf][173 KB]
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