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Li­te­ra­tur­wis­sen­schaftl. Ein­ord­nung & Deu­tungs­per­spek­ti­ven

Der Sand­mann er­schien 1808 in Hoff­manns zwei­tei­li­gem Zy­klus Nach­stü­cke . In der No­vel­le wer­den Träu­me und dunk­le Ah­nun­gen als ty­pisch ro­man­ti­sches Su­jets einer Ra­tio­na­li­täts­kri­tik und der Ent­de­ckung des Un­be­wuss­ten the­ma­ti­siert (vgl. Sti­en­ing 2019). Ge­nau­er ge­sagt steht die Pa­tho­ge­ne­se des wahn­sin­ni­gen Na­tha­na­el und seine pa­tho­lo­gi­sche Liebe zu einer Au­to­ma­te im Mit­tel­punkt. Zu dem Werk sind eine Viel­zahl von In­ter­pre­ta­tio­nen mit ver­schie­de­nen me­tho­di­schen Zu­gän­gen er­schie­nen. Be­deut­sam für die For­schung ist die Dop­pel­bö­dig­keit der Er­zäh­lung: Letzt­lich bleibt un­ge­klärt, ob die Ge­schich­te sich wirk­lich so zu­ge­tra­gen hat oder ob sie le­dig­lich der Vor­stel­lung der Er­zäh­ler­fi­gur ent­springt, d. h. ob sie rea­lis­ti­scher oder fan­tas­ti­scher Natur ist (vgl. Süt­ter­lin 2019). Fer­ner bleibt un­klar, ob der Prot­ago­nist Na­tha­na­el und der Er­zäh­ler iden­tisch sind oder nicht bzw. woher der Er­zäh­ler sein Wis­sen hat (vgl. Groß­mann / Krah 2019). Ein wich­ti­ges Kenn­zei­chen der Er­zäh­lung ist über­dies ihre Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät: Ins­be­son­de­re Cla­ras Blick­win­kel auf das Ge­sche­hen, wo­nach dunk­le Ah­nun­gen und Mäch­te nur im In­ne­ren der Fi­gu­ren und auf­grund ihrer Ein­bil­dungs­kraft wir­ken, steht im Kon­trast zu Na­tha­na­els Emp­fin­den, wo­nach der Mensch ein Spiel­ball die­ser frem­den Mäch­te sein. Für beide Sicht­wei­sen gibt es ent­spre­chend In­di­zi­en im Text. Na­tha­na­els Sicht­wei­se lässt sich auf die Ge­scheh­nis­se in sei­ner Kind­heit zu­rück­füh­ren, ins­be­son­de­re auf sein Sand­mann-Trau­ma, das seine Psy­cho­pa­tho­lo­gie, seine Be­geh­rens­struk­tur und seine fixen Ideen be­grün­det. Die Ver­bo­te und dar­aus re­sul­tie­ren­den Ängs­te ver­lei­te­ten ihn zur Iden­ti­fi­zie­rung des fik­ti­ven Sand­manns mit dem un­lieb­sa­men Haus­gast des Va­ters Cop­pe­li­us, der den Kin­dern feind­lich be­geg­net und der den ge­lieb­ten Vater mit sei­nen al­che­mis­ti­schen Ver­su­chen in den Tod treibt. Durch Na­tha­na­els Be­geg­nung mit dem Wet­ter­glas­händ­ler Cop­po­la, der Na­mens­vet­ter des Ad­vo­ka­ten Cop­pe­li­us, wird das Kind­heits­trau­ma er­neu­ert und das zen­tra­le Au­gen­mo­tiv auf­ge­grif­fen (vgl. Mül­der-Bach 2005, Cop­po­la lei­tet sich her von ita­lie­nisch coppo Au­gen­höh­le und cop­pel­laSchmelz­tie­gel). Wäh­rend der Sand­mann die Kin­der­au­gen rau­ben möch­te, sym­bo­lisch ein An­griff auf den Sitz der Seele (Augen als Spie­gel der Seele) und die Er­kennt­nis­fä­hig­keit, mit Freud psy­cho­lo­gisch ge­deu­tet auch als Kas­tra­ti­ons­raub zu ver­ste­hen (vgl. Freud 2010), ent­facht Cop­po­las Per­spek­tiv den Lie­bes­blick Na­tha­na­els auf die Puppe Olim­pia mit ihren lee­ren Au­gen­höh­len, die wie­der­um ein Kenn­zei­chen ihrer Leb­lo­sig­keit sind. Iro­ni­scher­wei­se dient ein neues Me­di­um wie das Per­spek­tiv nicht dazu, bes­ser und deut­li­cher zu sehen, son­dern den Blick zu ver­un­kla­ren bzw. fan­tas­ti­sche Bil­der zu ge­ne­rie­ren. Dies kann auch als Auf­klä­rungs­kri­tik ver­stan­den wer­den (vgl. Sti­en­ing 2019). In Kon­tras­tie­rung zur hell­sich­ti­gen, kri­ti­schen und ver­nünf­ti­gen Clara (mit ihrem spre­chen­den Namen, la­tei­nisch be­deu­tet clara hell und klar) fi­gu­riert Olim­pia (mit ihrem eben­falls spre­chen­den Namen, der auf den Göt­ter­him­mel Olymp hin­weist) für Na­tha­na­el als über­stei­ger­te himm­li­sche Liebe, da sie als Pro­jek­ti­ons­flä­che für sei­nen Nar­ziss­mus dient (vgl. u.a. Ney­meyr 1997). Fe­mi­nis­ti­sche Les­ar­ten kri­ti­sie­ren die­sen männ­li­chen, das Weib­li­che nur als Ob­jekt er­ach­te­ten Blick.

Da Na­tha­na­el über­dies ein Dich­ter ist, las­sen sich auch kri­ti­sche Hin­wei­se auf den Genie-Dis­kurs dis­ku­tie­ren (vgl. Thums 2019), wo­nach sich das Ich ab­so­lut setzt und dabei auf­grund sei­ner Ego­ma­nie ab­zu­stür­zen droht. Eben Cla­ras Kri­tik an sei­nen Dich­tun­gen, lässt ihn sie als Au­to­mat ver­dam­men, wo er sich gleich­sam in Olim­pia als ech­tem Au­to­ma­ten ver­liebt.

Die Kom­bi­na­ti­on aus brief­li­cher Nar­ra­ti­on (drei Brie­fe zu Be­ginn der Er­zäh­lung mit den Bin­nen­er­zäh­lern Na­tha­na­el und Clara), auf die eine Er­zäh­ler­re­fle­xi­on als Ein­schub des un­zu­ver­läs­si­gen he­te­ro­die­ge­ti­schen Rah­men­er­zäh­ler folgt, steht im Dienst der Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät und damit der Re­la­ti­vi­tät aller Wahr­neh­mung (Kindt 2019, Sti­en­ing 2019). Wäh­rend die Brie­fe un­mit­tel­bar die un­ter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven der Fi­gu­ren ar­ti­ku­lie­ren, ver­stärkt der he­te­ro­die­ge­ti­sche Er­zäh­ler noch die dop­pel­te Sicht­wei­se auf das Er­zähl­te, da er die un­ter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven ne­ben­ein­an­der be­ste­hen lässt bzw. teil­wei­se Täu­schun­gen und einem Schwin­del der Be­deu­tung Vor­schub leis­tet (vgl. Groß­mann / Krah 2019; Süt­ter­lin 2019; Kindt 2019). Der fehl­ge­lei­te­te Brief zu Be­ginn mar­kiert be­reits die für die Er­zäh­lung ins­ge­samt mar­kan­te The­ma­tik der Fehl­lek­tü­re (vgl. Süt­ter­lin 2019) und der Ver­wechs­lung (vgl. fer­ner das ro­man­ti­sche Motiv des Dop­pel­gän­gers). Da­durch wer­den letzt­lich Fan­tas­tik und Wirk­lich­keit, Welt und Fik­ti­on, Ori­gi­nal und Dou­ble auch für die Re­zi­pi­en­tin­nen und Re­zi­pi­en­ten un­un­ter­scheid­bar (vgl. Süt­ter­lin 2019).

Ab­schlie­ßend lässt sich noch auf eine be­son­de­re Heu­ris­tik der In­ter­pre­ta­ti­on hin­wei­sen, die durch die Les­art, dass es sich beim Sand­mann um eine Kon­traf­ak­tur auf Goe­thes Wer­t­her han­delt, mög­lich wird (Neu­mann 2001). Hoff­mann stellt Goe­thes Kon­zept, das sich auch durch die Kop­pe­lung von Brief­ro­man und Schlus­s­er­zäh­lung durch einen Her­aus­ge­ber an den Wer­t­her an­lehnt, auf den Prüf­stand. Wäh­rend Wer­t­her mit Lotte im in der tau­meln­den Dreh­be­we­gung des skan­da­li­sier­ten Wal­zers einen Lie­besau­gen­blick er­lebt, ist der Tanz von Na­tha­na­el und Olim­pia nur noch eine me­cha­ni­sche Be­we­gung. Im Ge­gen­satz zu Wer­t­her, der den Riss zwi­schen Ich und Welt noch in der Liebe und Gott zu ver­söh­nen sucht, indem er seine Liebe als Pas­si­ons­ge­schich­te nach dem Vor­bild Chris­ti in­sze­niert, kann Na­tha­na­el auf­grund sei­nes Kind­heits­trau­mas keine Iden­ti­tät fin­den. Er tau­melt bis zu sei­nem Sui­zid zwi­schen dem un­ver­söhn­li­chen Ge­gen­satz von end­li­chem Be­wusst­stein und der Un­end­lich­keit des Un­be­wuss­ten,.

Text­aus­ga­ben:

E.T.A. Hoff­mann: Der Sand­mann. Her­aus­ge­ge­ben von Ru­dolf Drux. Stutt­gart 1991, bi­blio­gra­phisch er­gänz­te Aus­ga­be 2019 (= Re­clams Uni­ver­sal-Bi­blio­thek 230).

E.T.A. Hoff­mann: Der Sand­mann. In: E.T.A. Hoff­mann: Nacht­stü­cke. Her­aus­ge­ge­ben von Hart­mut Stein­ecke unter Mit­ar­beit von Ger­hard All­rog­gen. Frank­furt am Main, 11-49.

Hoff­mann: „Sand­mann“: Her­un­ter­la­den [pdf][196 KB]